Von oben herab: Mehr Bier!

Nr. 32 –

Stefan Gärtner über das Strassentheater gegen die AHV

Ich will nicht sagen, es ist die schönste Erinnerung an meine «Titanic»-Zeit, aber doch eine der lebendigsten, wie ich mit Kollegen in aufgeschnittenen Jutesäcken auf einer Bühne im thüringischen Erfurt stehe und singe: «Gebnse dem Christ am Klavier noch ’n Bier, noch ’n Bier. / Sagnse ihm, ’s wär von mir, ’s wär von mir, ’s wär von mir. / Spielen soll er mir dafür, mir dafür, mir dafür / den Psalm Nummer hundertundvier, / dann kriegt er dafür von mir noch ein Bier!» Oder: «Sag beim Abschied leise Amen, / nicht adieu und nicht echt geil, / nicht fuck off und nicht Sieg Heil. / Denn das kleine Wörterl Amen / ist stärker als dein Vorurteil!» Es war nämlich evangelischer Kirchentag, und wir hatten uns als jungchristliche Kabarettgruppe ausgegeben und waren tatsächlich eingeladen worden, um im besten evangelischen Sinne tranig-unbedarfte Lieder und verheerende Sketche vorzutragen, und in der evtl. «schönsten» Nummer hatten Tietze, Nagel und ich Pappschilder mit den Aufschriften «Glaube», «Liebe» und «Traum» umhängen:

«Liebe: Hey, Glaube! Warum sitzt du denn da so traurig herum? – Glaube: Ach Liebe, die Leute fahren nicht mehr so auf mich ab. – Liebe: Das ist schlimm, Glaube! Ich glaube, dich kennt einfach keiner mehr, Glaube! – Glaube: Du glaubst, Liebe? Glauben ist ja wohl mein Ressort! – Liebe: Davon träumst du wohl, Glaube! – Traum (kommt dazu): Hat mich jemand gerufen? –Liebe: He, Traum, du bist ja ganz feucht! Wie ist das denn passiert?» Usw.

Das Protokoll, online leicht unterm Suchwort «Kabarett(chr)isten» zu finden, verzeichnet an dieser Stelle hastige Absetzbewegungen des ohnehin nicht zahlreichen Publikums, und immerhin das hat die Konkurrenz vom Schweizerischen Gewerbeverband besser hingekriegt: Ihre strassentheatralischen, von politischer Prominenz aufgeführten Szenen wie «ruppiger Senior drängt vor dem Billettautomaten SVP-Nationalrätin Sandra Sollberger (43) und Altnationalrat Toni Bortoluzzi (70) ins Abseits» («Blick»), mit denen, wie sich Verbandsdirektor Bigler ebenda zitieren lässt, auf «die ungerechte AHV-Scheinreform» hingewiesen werden soll, waren, wie man so sagt, ein Internethit, und der «Blick» rapportierte es gern: «Auch SVP-Nationalrat Erich Hess (36) und Jungfreisinnigen-Präsident Andri Silberschmidt (23) haben in der Klamottenkiste gewühlt und schliesslich mit ihren Kollegen insgesamt vier Szenen mit unfairen Handlungen eingespielt. Die Videos wurden vor gut drei Wochen anonym auf sozialen Medien publiziert. Die verkleideten Politiker sind in den Filmchen kaum zu erkennen, trotzdem wurden diese jeweils über 150 000 Mal angeschaut.»

Wie so oft in unserer unübersichtlichen Welt darf man sich das jetzt aussuchen, ob verkleidete Politiker, die Videos mit unfairen Handlungen einspielen, nun der neuste «Tiefpunkt» (Rudi Völler, 2003) im postdemokratischen Politshowgeschäft sind oder im Gegenteil nachahmenswert: Horst Seehofer (als Steuerzahler verkleidet), der sich von Frauke Petry (als Flüchtlingsfrau) das Portemonnaie aus der Tasche ziehen lässt, oder Ueli Maurer (als Polizist), dem ein linksversiffter Hausbesetzer und Protestchaot (Benjamin Fischer) in die Fresse haut! Da sind, wie man so sagt, Klickzahlen garantiert, und wie ich das so lustig-ironisch hinschreibe, merke ich, dass das die reine Wahrheit ist: Klickzahlen wären garantiert.

Gebnse dem Mann am Schreibtisch bitte auch ein Bier, ja?

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.