Fotoarchiv: Sprechen Pressefotos für sich selbst?

Nr. 3 –

Die Ausstellung «Netzwerk Schweizer Pressefotografie» erzählt aus dem Zeitalter der analogen Bilder sowie von ausgestorbenen Berufen und stellt die Frage, was mit einer überwältigend reichen Erbmasse geschehen soll.

  • Ein Pressefotograf samt Ausrüstung im Schneegestöber, um 1955. Foto: ATP © StAAG/RBA
  • Ein Urner Polizist hält 1980 auf dem Rütli einen Fotografen zurück. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum/ASL, LM-149855.32
  • Die Witwen von Mattmark. 88 Menschen starben 1965 bei einem Gletscherabruch über dem Visper Mattmarkstaudamm. Foto: Oswald Ruppen, Mediathek Wallis – Martinach
  • Ringier-Fotografen an der 2. Etappe der Tour de Suisse, 1968. Foto: Siegfried Kuhn © StAAG/RBA1-3-9225_1
  • Als eine Lawine das Urner Dorf Silenen verschüttet, bleibt die Kirchenuhr um 18.13 Uhr stehen, 30. Januar 1968. Foto: Josef Ritler © StAAG/RBA

Auf den ersten Blick wirkt die Fotoausstellung im Stadtmuseum Aarau eher konventionell. Am Eingang etliche Stellwände, auf jeder eine stark vergrösserte Fotografie, mindestens zwei Meter hoch, die Sujets spektakulär: eine Eislawine, ein verrenktes Haus, verschleierte Frauen, eine überflutete Garage, eine Frau vor dem Spiegel. Beschriftet sind die Bilder nicht, sie sollen für sich selber sprechen, wie man so schön sagt. Doch tun sie dies wirklich? Können sie das tatsächlich?

Ritualisierte Bildsprache

Auf der Rückseite der Stellwände ist die jeweilige Sensationsaufnahme nochmals reproduziert, diesmal in gebräuchlichem Format, zusammen mit rund zwanzig weiteren Aufnahmen. Nun haben sie Bildlegenden, sie sind verortet, in einen Kontext gestellt, einem grösseren Thema zugeordnet. Das Bild von der Frau vor dem Spiegel etwa ist Teil einer Langzeitbeobachtung, die der Fotoreporter Josef Ritler in den Tagen und Monaten nach dem Lawinenunglück im Januar 1968 in Urigen, einem Weiler in Unterschächen, gemacht hat. Die 22-jährige Margrit Arnold – sie ist es, die in den Spiegel schaut – übernahm in der kinderreichen Familie von einem Tag auf den andern die Rolle ihrer tödlich verunfallten Mutter.

Namenlos hingegen bleiben die verschleierten Frauen, Witwen aus dem Wallis, aufgenommen in den Tagen nach dem 30. August 1965, als ein Teil des Allalingletschers abgebrochen war. Die Eislawine begrub die Grossbaustelle am Staudamm Mattmark, sie forderte 88 Leben. Diese Menschen hätten rechtzeitig evakuiert werden können, hätte die Bauleitung die Anzeichen der Katastrophe in den Tagen zuvor nicht ignoriert und verharmlost, weil sie sich einen Unterbruch der Arbeiten nicht leisten wollte.

Das Bild der Witwen steht neben Fotos von anderen Trauerfeierlichkeiten für weitere Opfer von Naturkatastrophen. In diesem grösseren Zusammenhang zeigt sich, wie unterschiedlich ZeitungsfotografInnen es mit Anteilnahme und Diskretion hielten. Und wie nah Empathie und Voyeurismus sich sein können.

Die überflutete Garage wurde im November 1972 in Nebikon aufgenommen, das zerborstene Haus am 25. August 1965 beim Münstigerbach im Obergoms. Mit der Beschriftung erhält jedes Katastrophenbild etwas Einzigartiges, doch schon bald wirkt die Aneinanderreihung ermüdend. Im Gros der Aufnahmen wird eine ritualisierte Bildsprache ersichtlich, der Überschwemmungen beispielsweise: Luftaufnahmen vom Ausmass als Erstes, herunterhängende Bahnschienen, geknickte Masten, Verkehrsschilder knapp über der Wasseroberfläche. Schliesslich zahlreiche Details wie entwurzelte Bäume, schwimmende Autos, eingedrückte Türen, Kanapees auf überfluteten Strassen – und immer wieder Feuerwehrleute im Einsatz, freiwillige HelferInnen, die ungläubig-faszinierten Gesichter der Gafferinnen und Gaffer. Auf neueren Bildern würden sie Handys zücken.

Ihm sei von Ringier ein eigener Helikopter zur Verfügung gestellt worden, ist auf einem der Tondokumente zu hören. Die Aussage stammt vom selben Josef Ritler, der die Familie Arnold im Schächental während anderthalb Jahren immer wieder besucht und auf dem Weg zurück in die Normalität begleitet hat.

Es sind solche Widersprüchlichkeiten, unterschiedliche Blickwinkel, Wechsel zwischen Nahaufnahme und Totale, die zur gelungenen Ausstellung beitragen. Sie lebt von der Qualität einzelner Bilder ebenso wie vom Themenspektrum, das von den Katastrophen über den Sport bis zum Besuch von Queen Elizabeth II. im April 1980 in der Schweiz reicht. Die Schau arbeitet auf verschiedenen Ebenen und vermittelt darüber hinaus interessante Einblicke in ein verschwundenes Metier: die Analogfotografie. Auch wenn ihr definitives Ende kaum zwanzig Jahre zurückliegt, ist vieles kaum noch nachvollziehbar.

Wenn sich die Laborantin Verena Lamm in einem der Interviews erinnert, wie sie manchmal mit Sprit und Feuerzeug nachhalf, damit – im Wettrennen mit der Deadline – die Bildabzüge rascher trockneten, oder wenn der Sportfotograf Walter L. Keller aus der Pionierzeit des 1969 gegründeten «SonntagsBlicks» erzählt, dann tönt das heute ein bisschen pfadihaft: wie Keller jeweils am Samstagnachmittag Jahr für Jahr bis um drei Uhr nachmittags das Hahnenkamm-Abfahrtsrennen fotografierte, dann im Auto von Kitzbühel nach Zürich bretterte, auf Seitenstrassen durchs Appenzell und durchs Zürcher Oberland, aus Angst, dass die Walenseestrasse verstopft sein könnte.

Wer damals einen Fotoauftrag in ausländischen Städten hatte, gab den Swissair-Piloten die Filmrollen mit, in Kloten standen Redaktionskuriere bereit. Irgendwann in den achtziger Jahren konnten Fotos erstmals per Telefon übermittelt werden, mit einem Apparat, so laut wie ein Traktor, pro Schwarzweissbild brauchte man mindestens sechs Minuten, für Farbbilder eine geschlagene Viertelstunde oder länger.

Wohin mit 27 Millionen Fotos?

Bis um 1930 wurde die hiesige Presse fast ausschliesslich von ausländischen Agenturen beliefert. Mit Koffern voller Fotos klapperten ihre Vertreter die Schweizer Redaktionen ab. Als dann handlichere Kameras und der Rollfilm auf den Markt kamen, erlebten der Fotografenberuf und anverwandte Metiers einen raschen Aufschwung. Das Bild gewann auch in den Tageszeitungen zunehmend an Bedeutung, es entstanden Reproabteilungen, eigene Fotoarchive, Bildredaktionen. Um 2000 erfolgte die zweite Zäsur, auch sie technisch bedingt: Mit der Umstellung aufs Digitale wurde ein Teil der alten Fotos eingescannt, Papierabzüge, Blattkopien und selbst die meisten Negative wurden nicht mehr benötigt. Rasche Lösungen waren gefragt. Bei der «Weltwoche» wurden die Bestände vernichtet, die Agentur Keystone integrierte den analogen Bestand in den eigenen Betrieb, die grossen Zeitungsverlage suchten staatliche Archive und renommierte Bibliotheken als Hüterinnen ihres fotografischen Nachlasses. So übernahmen neun Institutionen innert kurzer Zeit rund 27 Millionen Fotos. Das Fotoarchiv der «Berner Zeitung» etwa ging ans Berner Staatsarchiv, jenes von Tamedia in ein Aussendepot der Zürcher Zentralbibliothek.

Die Archive bekamen damit einen Schatz, aber auch viel Arbeit. Die Bilder mussten konserviert und erschlossen werden. Da gab es Versäumtes nachzuholen. Vor allem in den Redaktionen der Tageszeitungen hatte man die Fotos – sowohl wörtlich wie im übertragenen Sinn – nie mit Handschuhen angefasst. Es musste alles überall immer schnell gehen. Mit rotem Fettstift wurden auf der Vorderseite der Fotos die gewünschten Ausschnitte markiert, hinten die Spaltenbreite notiert, manchmal mit Filzstift.

Nach dem Gebrauch kamen die Bilder ins Archiv. Hier gab es zwar ein System, doch anders als in den professionellen Archiven mit ihrer wissenschaftlichen Systematik orientierte man sich hier an pragmatischen Kriterien. War beispielsweise an einem bestimmten Tag die Altersheimeinweihung in Wollishofen zu fotografieren, wurden die Bilder nachträglich nicht unter diesem Stichwort abgelegt. Vielmehr brauchte man sie künftig als sogenannte Symbolbilder für schwer illustrierbare Themen wie AHV-Ausbau, Überalterung, Senioren-WGs, Altersdepression oder Aktivitäten sechzig plus (wobei man es mit dem Persönlichkeitsschutz, dem Recht am eigenen Bild, nicht so genau nahm wie heute). Wurden die Bilder, um rasch Zugriff zu haben, in den Redaktionen in Hängeregistraturen und grossen Couverts aufbewahrt – und die Negative oft in Zellophan –, werden sie am neuen Ort in säurefreien Schachteln gelagert. Ansonsten sollen die jahrelangen Gebrauchsspuren nicht getilgt werden, nach Möglichkeit die einzelnen Aufnahmen jedoch datiert und verortet.

Ein zugänglicher Schatz

Weil der Ringier-Konzern einst in Zofingen gegründet wurde, schenkte er 2009 seinen Nachlass dem Aargauer Staatsarchiv, insgesamt 4,8 Millionen Fotos. In einer eigenen kleinen Abteilung werden die Bilder – auch mithilfe von PraktikantInnen – nun restauriert und erschlossen. Der Plan indessen sah vor, nicht alle Ressourcen in Hintergrundarbeit fliessen zu lassen, sondern auch in öffentlich beachtete Aktionen in Zusammenarbeit mit dem Museum in Aarau. Es begann mit sogenannten Plattformen, kleinen Fotopräsentationen zu Themen wie «Der Zweite Weltkrieg» oder «Migration im Pressebild», als Vorformen der jetzigen Ausstellung, der weitere folgen sollen. Auch gab es von Anfang an Führungen, und im Museumsneubau wurde das Schauarchiv eingerichtet. Hier ist eine kleine Auswahl aus dem Ringier-Bildarchiv frei zugänglich, auch für Schulklassen. Mit Schutzhandschuhen ausgerüstet, sitzen die Leute vor dicken Dossiers, die sie sich aus den Rollkästen geholt haben. Aufmerksam blättern sie in den Fotostössen, sichtlich interessiert und wohl auch mit dem Gefühl, in einem Schatz zu wühlen.

Die Ausstellung «Netzwerk Schweizer Pressefotografie» dauert noch bis zum 8. Juli. Das Buch «Schweizer Pressefotografie. Einblick in die Archive» ist 2016 im Limmat-Verlag erschienen.