Libertarismus: Freiheit? Nur für Reiche!

Nr. 6 –

Mit der No-Billag-Initiative rückt eine Ideologie in den Fokus, die den Staat auf ein Minimum reduzieren möchte. Wo liegen die Quellen libertärer Ideen? Was für Interessen treiben sie an? Und warum sind ihre Ausläufer auch und gerade in der Schweiz so präsent?

Illustration: Marcel Bamert

Die Schweiz entdeckt gerade die Libertären. Die Radikalität ihrer No-Billag-Initiative schreckt viele auf; andere sind gerade davon fasziniert. Die Initiative wird zu Recht als Angriff auf die SRG und damit den Service public interpretiert: Käme sie am 4. März durch, würde der Medienbereich komplett dem Markt überlassen. Doch so extrem die Initiative auch ist, sie darf nicht einfach als Randphänomen abgetan werden. Denn die Ideen der InitiantInnen – vornehmlich Banker und Wirtschaftsstudenten – sind nicht neu und wirken bis weit in die Mitte.

Im April 1947 versammelte der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek eine illustre Gruppe von Wirtschaftstheoretikern auf dem Mont Pèlerin am Genfersee. Die selbsternannten Liberalen gründeten damals die sogenannte Mont Pèlerin Society (MPS): ein internationales Netzwerk von staatsfeindlichen KapitalistInnen, deren Ziel ein möglichst dereguliertes Marktumfeld war. Der gemeinsame Gegner war alles Kollektivistische und Sozialistische: Feminismus, Ökologie, soziale Bewegungen, Gewerkschaften. Die MPS besteht bis heute. Ihre staatsfeindliche Ideologie ist auch und gerade in der Schweiz omnipräsent: FDP und SVP, Finanzplatz und Grosskonzerne samt ihren Thinktanks und Verbänden wie Avenir Suisse und Economiesuisse sowie «liberale» Publikationen wie die NZZ oder der «Schweizer Monat» predigen unablässig das MPS-Credo vom freien Markt (vgl. «Die Staatshasser und ihre Freunde» ).

Auch Robert Nef, einer der wichtigsten Wegbereiter der No-Billag-Initiative, ist ein MPS-Mitglied. Der St. Galler Publizist, auf den sich die InitiantInnen berufen, ist seit drei Jahrzehnten der wohl unermüdlichste Kämpfer für möglichst wenig Staat. Doch während Nef den Staat «nur» weitgehend zurückdrängen will, träumen die Staatshasser aus dem No-Billag-Umfeld von einem Minimalstaat, der nur noch die innere und äussere Sicherheit aufrechterhalten soll – oder gar von der völligen Auslöschung des Staats.

In keinem anderen Land ist der Marsch der staatsfeindlichen KapitalistInnen durch die Institutionen so weit fortgeschritten wie in den USA. Ein bedeutender Flügel der Republikanischen Partei, eine Vielzahl von Universitäten und Thinktanks sowie diverse Medienkanäle treiben die Ideologie voran. Treibstoff sind die Milliarden von US-Dollars einer verschwiegenen Gruppe von Superreichen, die mit zunehmendem Erfolg versuchen, sich politische Kontrolle zu erkaufen. Dieses libertäre Netz strahlt bis in die Schweiz aus. Die Verbindung von Reichtum und Libertarismus ist dabei kein Zufall: Die Kaste der superreichen weissen Männer profitiert wie niemand sonst von einem entfesselten Kapitalismus. Die Auseinandersetzung mit führenden libertären Vordenkern belegt zudem: Ihre Weltanschauung weist eine gefährliche Nähe zu Rassismus und Biologismus auf (vgl. «Die langen Tentakel des ‹Kochtopus›» ).

Schliesslich lohnt sich auch ein philosophischer Blick auf das Schlüsselkonzept der Libertären, nämlich ihre Verwendung des Freiheitsbegriffs. Mit der politischen Theoretikerin Hannah Arendt lässt sich schön aufzeigen, wie die AnarchokapitalistInnen den Begriff der Autonomie zu einer unpolitischen Kategorie verstümmeln, indem sie faktisch Freiheit und Politik als Gegensätze begreifen. Zugleich könnte Arendts Begeisterung für rätedemokratische Ansätze Hinweise geben, wie sich politische Freiheit für die Gegenwart neu erfinden liesse – jenseits von libertärem Radikalindividualismus und sozialistischem Etatismus (vgl. «Von Natur aus ist kein Mensch frei» ).

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