Twitter: Dynamik einer Empörungswelle

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Der Schweizer Ringier-Journalist Fabian Eberhard wird von Zehntausenden von Nachrichten überrollt, nachdem er sich auf Twitter zum polnischen Unabhängigkeitsmarsch geäussert hat. Was ist da genau passiert? Steckt eine orchestrierte Kampagne dahinter? Und wieso sagt Eberhard nichts dazu?

Am Anfang stehen wenige Wörter. Mal wieder. «Beängstigend: 200 000 Nationalisten und Neonazis marschieren durch Warschau, Polen», schreibt der «SonntagsBlick»-Journalist Fabian Eberhard am Abend des 11. November 2018 auf Englisch auf Twitter. Eberhard, der sich auf Recherchen in rechtsextremen Milieus spezialisiert hat, erreicht über den Kurznachrichtendienst knapp 22 000 FollowerInnen – ein Vielfaches der allermeisten Schweizer JournalistInnen. Wie oft bettet er ein Video einer externen Quelle in den Tweet ein. Es zeigt ein Menschenmeer, rote Pyros werden zu Hunderten gezündet. Der Tweet explodiert, Eberhard schlägt eine Flut von Nachrichten entgegen, sein Beitrag wird tausendfach kommentiert. Der Tenor: Eberhard verbreite Fake News, in Warschau hätten längst nicht nur Nationalisten und Nazis demonstriert.

Vier Tage nach der Veröffentlichung des Tweets verkündet Eberhard auf Facebook, er habe seinen Twitter-Account vorübergehend deaktiviert. «Ich bin mir ja so einiges an Hass gewohnt, aber dieses Ausmass ist unvorstellbar», schreibt er. Es laufe eine «orchestrierte Kampagne» gegen ihn. «Bilanz: Knapp 70 000 Hass-Mitteilungen alleine auf Twitter.» Parallel dazu bildet sich unter Anleitung der Netzaktivistin Jolanda Spiess-Hegglin eine Verteidigungsfront. Spiess-Hegglin ruft dazu auf, der Hasswelle entgegenzuwirken. Wiederum Hunderte solidarisieren sich per Klick, darunter viele Medienschaffende aus dem deutschsprachigen Raum. Der Tenor: Der aufklärende Journalismus sei in Gefahr.

Am 23. November schaltet sich «Reconquista Internet» ein, eine von Jan Böhmermann gegründete Bürgerrechtsbewegung, die Hass im Netz mit Vernunft und Anstand entgegentreten will. Sie verhilft dem bereits Tage zuvor lancierten Hashtag #FabianeberHEART zu Popularität. Am 27. November kehrt Eberhard auf Twitter zurück und bedankt sich für die Unterstützung. Erneut flammt der Konflikt um die Deutungshoheit auf. Für die einen symbolisiert Eberhards ausbleibende Erklärung nach seiner Rückkehr die Ignoranz gegenüber ihrer Haltung, für die anderen ist die Rückkehr selbst ein Erfolg gegen den Hass.

Twitter als Brandbeschleuniger

In den Schweizer Medien wird der Fall oberflächlich abgehandelt. Die «70 000 Hass-Mitteilungen» erhalten zwar erwartungsgemäss Aufmerksamkeit, doch aufgeschlüsselt wird die Zahl nicht. Die polnische Seite kommt nur am Rand zu Wort.

Und so bestätigt die Empörungswelle rundum bestehende Ansichten: Die einen behalten die Ereignisse als weiteren Angriff des «Nazi-Mobs» auf den gewissenhaften Journalismus in Erinnerung, die anderen als weiteren Angriff der «Fake-News-Presse». Der Fall zeigt exemplarisch, wie schnell sich ein soziales Medium wie Twitter angesichts der unterschiedlichen Ansprüche und Interessen seiner NutzerInnen in einen Brandbeschleuniger für Debatten verwandelt – und wie die auf wenige Zeichen zusammengekürzte Darstellung der Realität das Potenzial für Ungenauigkeit und Missverständnisse maximiert.

Es mangelte dieser Debatte einschliesslich Berichterstattung an einer gemeinsamen Basis, an geteilten Annahmen über die Ereignisse oder Einigkeit über die Bedeutung von aufgeladenen Begriffen: Was meint «Nationalisten und Neonazis» eigentlich genau? Was ist eine «Hass-Mitteilung» – und was nicht? Was ist unter einer «orchestrierten Kampagne» zu verstehen?

Ausgerechnet jene Person, die präzisierend hätte in die Debatte eingreifen können, hat sich ihr konsequent entzogen: Fabian Eberhard. Seit seinem Facebook-Beitrag, in dem er die Deaktivierung seines Twitter-Accounts bekannt gab, ist er in dieser Angelegenheit still geblieben. Auf Anfrage schreibt er: «Ich kann mich zurzeit leider nicht zur Sache äussern.» So bleiben sein Tweet und sein Facebook-Beitrag die einzigen Äusserungen. Um ein differenziertes Bild der Empörungswelle zu gewinnen, hat die WOZ mithilfe einer Datenanalyse nachgezeichnet, welche zentralen Akteure Eberhards Beitrag auf Twitter verbreitet und kommentiert haben.

Zwei Märsche verschmelzen

Zunächst aber muss man den Tweet des Anstosses in Polens politische Situation einordnen. «200 000 Nationalisten und Neonazis» seien am 11. November, dem polnischen Unabhängigkeitstag, durch Warschau marschiert, schreibt Eberhard. Um die Aussage zu beurteilen, lohnt sich ein Blick in die jüngste Vergangenheit dieses Feiertags. Seit einigen Jahren wird der Unabhängigkeitsmarsch von einem Verein rechter Gruppierungen organisiert. In den letzten Jahren stieg die Zahl der Teilnehmenden, 2017 waren es zwischen 30 000 und 60 000. Gemäss dem britischen «Guardian» war es das grösste europäische Treffen rechtsradikaler Gruppierungen seit Jahren.

Doch im November 2018, als sich die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität Polens zum 100. Mal jährte, flossen zwei parallele Märsche ineinander: zum einen der Marsch der NationalistInnen, organisiert von einem Verein rund um die Allpolnische Jugend (MW) und das Nationalradikale Lager (ONR); zum anderen ein von Polens Staatspräsidenten Andrzej Duda unter dem Motto «Gemeinsam für das unabhängige Polen» organisierter Marsch an gleicher Stelle. Zu dieser Verkettung war es gekommen, weil die Stadt Warschau einige Tage zuvor den Marsch der radikalen Gruppierungen verboten und der Präsident die Initiative ergriffen hatte. Doch ein Gericht kippte kurz darauf das Verbot, worauf sich die beiden Märsche vermengten.

Doch nicht erst am 11. November und nicht nur in den Kameraobjektiven verschwammen die Grenzen zwischen den radikalen und nichtradikalen PolInnen. Vielmehr hofiert die regierende, nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) seit ihrem Regierungsantritt im Herbst 2015 die Radikalen unterschiedlicher Couleur. «Die Grenze zwischen der PiS und der radikalen Rechten ist fliessend, viele der Ansichten der Radikalen werden auch von PiS-Politikern geteilt – die Ablehnung der liberalen Demokratie und von Flüchtlingen etwa, das Pochen auf die Stärkung der Exekutive oder Widerstand gegen sexuelle Minderheiten», sagt Michal Syska. Der Jurist und Direktor des Lassalle-Zentrums für gesellschaftliches Denken in Breslau führt dies auf einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Gros der westeuropäischen Staaten einerseits und Polen andererseits zurück. «In den meisten westeuropäischen Ländern gibt es eine Art Cordon sanitaire, der darin besteht, dass alle Parteien des Mainstreams rechtsradikale Gruppen verurteilen und rassistische Ansichten nicht akzeptiert werden.» In Polen hingegen sei «die nationalistische Rechte stets selbst im Mainstream gewesen, ihre wichtigste Partei in der Zwischenkriegszeit war die Nationaldemokratie (ND)». Auf diese berufen sich sowohl Teile der PiS als auch etwa die nationalistische Partei Nationalbewegung (RN), die über die populistische Kukiz-15-Liste im Jahr 2015 einige Abgeordnete ins polnische Parlament hieven konnte.

Quelle mit Pyrofetisch

Mit seiner Formulierung trifft Eberhard also durchaus einen wunden Punkt im polnischen Selbstverständnis. Und dennoch: Die Aussage des Tweets ist unnötig unpräzis, sie zielt auf maximale Wirksamkeit – gerade in Kombination mit dem Video. Entlehnt ist dieses der Seite «Hooligans TV», die Gewalt und Pyrotechnik fetischisiert.

«Mag sein, dass sie zugespitzt war», sagt die Netzaktivistin Jolanda Spiess-Hegglin, die sich an vorderster Front für Eberhard einsetzte. «Doch wer in unmittelbarer Nähe von Nationalisten und Neonazis marschiert, muss damit rechnen, ebenfalls als solcher wahrgenommen zu werden.» Sie bezweifelt zudem, dass eine Differenzierung Einfluss auf das Ausmass der Empörung gehabt hätte. Doch wie setzt sich die Zahl von 70 000 Hassmitteilungen zusammen? Und wie klingt die Empörung?

Wie aus der WOZ-Analyse hervorgeht, haben sich in den drei Wochen ab dem Tweet insgesamt 11 544 NutzerInnen mit knapp 28 000 Tweets, Retweets und Replys («Antworten») beteiligt, wobei keine automatisierten Accounts (Bots) auffielen, die der Verbreitung Schub verliehen hätten. Anhand der öffentlichen Beiträge lässt sich die Zahl von 70 000 also nicht herleiten, schon gar nicht zwischen dem ursprünglichen Tweet und dem viel zitierten Facebook-Beitrag vier Tage später. Nimmt man hingegen an, Eberhard habe sämtliche Benachrichtigungen an seinen Account mitgezählt (etwa wenn jemand seinen Tweet favorisiert), kommt die Zahl hin.

Ausserdem ist davon auszugehen, dass Eberhard auch mit vielen privaten Nachrichten eingedeckt wurde. Spiess-Hegglin, die mit dem Verein Netzcourage Betroffene von Empörungsstürmen unterstützt, bestätigt: «Die heftigsten Anfeindungen kommen via Privatnachricht auf Twitter und Facebook oder per Mail.» Die E-Mail-Adressen und Accounts würden dabei vielfach über private Chats verbreitet. Allerdings beschränken sich (Mord-)Drohungen im grossen Stil längst nicht mehr auf Empörungswellen. Für viele JournalistInnen, die über kontroverse Themen wie religiöse Konflikte berichten und sich zudem auf sozialen Medien exponieren, gehören sie zum Alltag.

Auch ein Familienmarsch

Ein Blick auf die öffentlichen Beiträge macht deutlich, dass sich die Antworten in ihrer Tonalität stark unterschieden. Viele sind in gemässigtem Ton formuliert. «Ich bin polnischer Historiker, linksorientiert, meine Frau und ich waren auch dabei. Ich bin für Sie ein Nationalist oder ein Neonazi?», fragte etwa der polnische Historiker Stanislaw Zerko. Etliche NutzerInnen posteten als Antwort stellvertretend Fotos von Familien oder unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen, die gemeinsam marschierten. So verständlich Eberhards Formulierung «70 000 Hass-Mitteilungen» angesichts der Flut ist, so sehr birgt sie wiederum Sprengpotenzial. In ihr addierten sich berechtigte Kritik wie jene von Stanislaw Zerko mit grenzwertigen Kommentaren à la «fucking liar» und Morddrohungen zu einer einzigen Zahl.

Wie unvorsichtig aber auch auf der Gegenseite mit Begriffen hantiert wurde, demonstrierte der polnische TV-Journalist Daniel Liszkiewicz, eine zentrale Figur in der Debatte. Gemäss der Analyse wurden seine Tweets insgesamt 1282-mal geteilt, mehr als diejenigen aller anderen, er hat an der Verbreitung also massgeblich mitgewirkt. Ihn dürfte Eberhard gemeint haben, als er von einer «orchestrierten Kampagne» sprach.

Liszkiewicz arbeitete zwölf Jahre lang für den liberalen polnischen TV-Sender TVN, bevor er 2018 zum staatlichen TV-Sender TVP wechselte, der als äusserst regierungsnah gilt. Liszkiewicz hatte mitsamt Familie selbst am Warschauer Marsch teilgenommen. Am Tag nach Eberhards Tweet griff Liszkiewicz diesen auf: «Achtung. ‹Investigativjournalist› hat einen Marsch von 200 000 Nationalisten und Neonazis ausfindig gemacht. Ich war beim Marsch dabei, doch diese Faschisten und auch Fabian Eberhard habe ich nicht gesehen.» Noch am gleichen Tag legte Liszkiewicz nach: «Wenn eine Sammelklage gegen Journalisten und Medien zustande käme, die den #BialoCzerwonyMarsz (deutsch: weiss-roter Marsch; Anm. d. Red.) als Marsch von Nazis beschreiben, würdest du dich anschliessen?» Und am Tag darauf: «Ich habe genug davon, über uns als ein Land von Neonazis zu lesen, die in einem furchterregenden Marsch auf Europa zurollen und als Masse vor Hass brennen. (…) Ich werde nicht gleichgültig sein #PolandAgainstFakes.»

Bis in den Dezember hinein postete Liszkiewicz zum Thema – als Hassmitteilungen kann man seine Einträge nicht klassifizieren, doch verkürzt Liszkiewicz Eberhards Darstellung mitunter ebenso, wie er es seinem Gegenüber in Bezug auf die Ereignisse in Warschau vorwirft. Für eine Stellungnahme war er nicht erreichbar.

Ringiers Interessen in Polen

Ähnlich diffus wie Liszkiewicz agierte und argumentiert Rafal Ziemkiewicz, einer der meistgelesenen Publizisten der weitgefassten polnischen Rechten. Wie die Analyse zeigt, ist er unter den polnischen Accounts, die sich an der Debatte beteiligten, am stärksten vernetzt. Insgesamt erreicht er 163 000 FollowerInnen und tweetet mehrmals täglich – auch damals zu Eberhard. An die Details kann er sich im Gespräch jedoch nicht erinnern. Sicher aber sei es nichts Angriffiges gewesen, wie er sagt. Und ergänzt: «Das Internet ist nun mal zum Instrument für frustrierte Menschen mutiert, sie loggen sich nach der Arbeit ein und beleidigen Menschen nach links und rechts.» Zu Eberhards Eintrag sagt er: Darauf müsse man antworten, um die Falschaussagen geradezurücken.

Und damit zurück zu Eberhards Schweigen und zur Frage, warum er der Ambivalenz seiner Aussagen nicht entgegengewirkt hat. Seine Antwort, er könne sich nicht zur Sache äussern, legt die Vermutung nahe, dass er nicht darf. Dazu passt, dass sich auch sein Arbeitgeber zur Affäre ausgeschwiegen hat. Auf Anfrage schreibt Ringiers Pressestelle: «Da es sich hier um Äusserungen von Fabian Eberhard auf seinen privaten Social Media Kanälen gehandelt hat, und nicht um offizielle Posts oder Aussagen auf Kanälen der ‹Blick›-Gruppe oder der Ringier AG, werden wir diese nicht kommentieren.» Die Erklärung wirkt fadenscheinig. Es gibt guten Grund zur Annahme, dass Ringier die Angelegenheit auch darum möglichst schnell unter den Teppich kehren wollte, um die eigenen wirtschaftlichen Interessen in Polen nicht zu gefährden. Denn der Konzern betreibt dort als Joint Ventures mit Axel Springer mehrere grosse Medien – etwa das mit der deutschen «Bild» vergleichbare Boulevardblatt «Fakt».

Die polnischen Medien von Ringier und Axel Springer sind seit jeher PiS-kritisch, insbesondere das einflussreiche Wochenmagazin «Newsweek Polska». Polens Regierung hat zwar immer wieder ein neues Mediengesetz angekündigt, das etwa den Anteil ausländischer Konzerne an polnischen Medien auf dreissig Prozent beschränken sollte. Doch angesichts des zu erwartenden Widerstands seitens der EU-Kommission bleibt das bis auf Weiteres nichts anderes als heisse Luft, um die eigenen AnhängerInnen ideologisch bei der Stange zu halten.

Dennoch haben die Drohgebärden der PiS zu Spannungen geführt. In einem Interview mit der NZZ sagte Ringier-CEO Marc Walder: «Der Ton regierungsnaher Medien, aber auch der Regierung selbst hat sich uns gegenüber massiv verschärft.» Man halte aber «eisern» am Vorsatz des unabhängigen Journalismus fest. So eisern, dass der Konzern dem eigenen Journalisten untersagt, sich klärend in die Debatte einzuschalten? Die Frage bleibt offen. Auch Ringier hat es verpasst, den Raum für Spekulationen einzugrenzen.

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