An der US-Grenze: Die Skelette in der Sonorawüste

Nr. 49 –

Weil Scott Warren in Arizona ehrenamtlich Geflüchteten hilft, droht ihm der Staat mit bis zu zehn Jahren Gefängnis. Warum nun am Fluchthilfeprozess viel mehr verhandelt wurde als nur die Anklageschrift. Ein Besuch vor Ort.

  • «The Barn»: In dieser Scheune versorgt die Organisation No More Deaths MigrantInnen mit Essen, Wasser, Medikamenten und einem Schlafplatz. Hier wurde der humanitäre Helfer Scott Warren zusammen mit den Geflüchteten Kristian Perez-Villanueva und José Sacaria-Godoy von der Border Patrol verhaftet.
  • «Die Grenzpolizei hat Blut an den Händen»: Samariterin Jan St. Peters vor dem Ajo Humanitarian Aid Office.
  • Maria Singleton brach sich bei einem Hilfsausflug in der Wüste das Handgelenk: «Für einen Migranten wäre es womöglich das Todesurteil gewesen.»
  • Fand bis heute die Überreste von achtzehn Menschen in der Wüste: Scott Warren vor dem Gerichtsgebäude in Tucson.

Als die zwei entscheidenden Wörter den Gerichtssaal füllen, wirkt der ruhige Scott Warren noch ruhiger als sonst. Mit gefalteten Händen schaut er hoch zum Richter, der das Urteil der zwölfköpfigen Jury verliest. «Nicht schuldig.» Warren nickt. Sein mit einem Haargummi zusammengebundener Pferdeschwanz bewegt sich langsam von oben nach unten, während die Menschen hinter ihm vor Erleichterung aufstöhnen und weinen.

Die Menschen hinter ihm, das sind seine Eltern, seine Schwester, seine vielen Freunde und Kolleginnen sowie KirchenvertreterInnen aus dem ganzen Land, die an diesem Mittwochnachmittag im November dicht nebeneinander auf den Holzbänken im Bundesgericht in Tucson, Arizona, sitzen und sich aneinanderklammern. Dieser Prozess, die ganze Geschichte, hat gezehrt, gespalten, gekostet – und sie hat zusammengeschweisst.

Es ist fast zwei Jahre her, dass der Lehrer und Geograf Scott Warren in seiner Wahlheimat Ajo, 69 Kilometer nördlich der mexikanischen Grenze, verhaftet wurde. BeamtInnen der Border Patrol stürmten am 17. Januar 2018 ein für humanitäre Hilfe ausgestattetes Haus, «The Barn» (die Scheune), und fanden dort neben Warren auch zwei Geflüchtete aus Lateinamerika. Der 20-jährige José Sacaria-Godoy aus Honduras und der 23-jährige Kristian Perez-Villanueva aus El Salvador waren nach Tagen in der Sonorawüste mit Blasen und Prellungen in der Scheune angekommen, wo sie von Warren und anderen freiwilligen HelferInnen der Organisation No More Deaths (Keine weiteren Toten) mit Wasser, Essen, Medikamenten und einem Platz zum Schlafen versorgt wurden.

Was für den 37-jährigen Warren nicht mehr als «einfache menschliche Güte» war, wertete die Staatsanwaltschaft als ein schweres Verbrechen. Bis zu zehn Jahre Gefängnis drohten ihm wegen mutwilligem «Verstecken undokumentierter Migranten».

Es ging in diesem Prozess, der zunächst im Sommer an einer unentschiedenen Jury gescheitert war und nun zum zweiten Mal verhandelt wurde, um die Frage, wo humanitäre Hilfe aufhört und illegale Fluchthilfe anfängt. Diese Frage wurde zugunsten Warrens beantwortet.

Doch es ging in diesem Prozess um noch mehr. Die Regierung wollte ein Zeichen setzen, sie wollte Angst verbreiten, abschrecken. Seit Donald Trump Präsident der USA ist, stehen humanitäre Gruppen wie No More Deaths, Humane Borders, Eagles of the Desert oder die Samaritans unter besonderer Beobachtung. Wer MigrantInnen mit dem Nötigsten versorgt, ist in den Augen der Strafbehörden einE potenzielleR SchmugglerIn. Wer hilft, macht sich verdächtig.

«Wir werden nicht unterscheiden, ob jemand mit der Beherbergung und dem Transport von Migranten Geld macht oder ob er es aus einem fehlgeleiteten Sinn für soziale Gerechtigkeit oder dem Glauben an offene Grenzen heraus tut», sagte Bundesstaatsanwalt Michael Bailey nach dem Prozessende. Der von Trump nominierte Jurist war für die Schlussplädoyers extra nach Tucson gereist. Breitbeinig stand Bailey ganz hinten im Gerichtssaal, die Arme verschränkt. Es wirkte wie eine Botschaft direkt aus dem Weissen Haus.

Die systematische Einschüchterungspolitik hat Spuren hinterlassen, daran ändert auch der Freispruch Warrens nichts. Was jahrzehntelang zum selbstverständlichen Alltag in den Grenzgegenden gehörte, ist heute ein persönliches Risiko. Einerseits hat der Fall Warren AktivistInnen im ganzen Land mobilisiert. Andererseits haben viele normale BürgerInnen mittlerweile Angst, zu helfen. Zumindest dieses Ziel hat die Regierung erreicht.

Eine permanente Katastrophe

Wenige Tage vor dem Urteil steht Maria Singleton in der Wüste von Arizona und malt mit einem roten Filzstift Herzen auf Wasserkanister. Sechs grosse Behälter, sechs kleine Herzen. Dazu legt die 57-Jährige eine schwarze Kreuzkette. «Die Wüste hier ist wunderschön», sagt Singleton. «Und brutal.» Sie zeigt eine Narbe an ihrem linken Unterarm. Anfang des Jahres stürzte sie bei einem der Hilfsausflüge und brach sich das Handgelenk. FreundInnen brachten sie in ein Krankenhaus. «Für einen Migranten wäre es womöglich das Todesurteil gewesen», sagt sie.

Singleton, die aus Colorado kommt und seit fünf Jahren in Ajo wohnt, gehört wie Warren zu den rund dreissig aktiven «SamariterInnen» im Ort, einer Gruppe überwiegend älterer HelferInnen, von denen manche mehr und andere weniger religiös sind. Was sie eint, ist der Wunsch nach weniger Toten. Die SamariterInnen verteilen Wasser in der Wüste, oft mehrere Male pro Woche. Sie sammeln Klamotten und besorgen Lebensmittel, die sie in die Flüchtlingslager in Mexiko liefern. Sie organisieren Mahnwachen und Ausstellungen, um andere BewohnerInnen zu sensibilisieren. Und sie suchen nach Überresten verstorbener MigrantInnen, damit deren Verwandte zumindest Klarheit erhalten.

Ihre Arbeit sei legal, sagt Maria Singleton. «Aber alle hier sind gewarnt. Die Polizei hat Ajo im Fokus.»

Ajo war die längste Zeit des 20. Jahrhunderts eine «company town». Die meisten Einwohner arbeiteten für das Bergbauunternehmen Phelps Dodge. Als die Kupferminen 1984 geschlossen wurden, verliessen viele Menschen den Ort. Geblieben ist eine kleine Community aus Rentnern und Helferinnen, die sich immer mehr GrenzpolizistInnen gegenübersehen.

Vier SamariterInnen haben sich an diesem Sonnabend zum «water drop» verabredet: Neben Maria Singleton und ihrem Mann Leslie Sunde sind auch die ehemalige Sonderschullehrerin Jan St. Peters und ihr Partner Rick dabei. Die Sonne drückt, 28 Grad. «Mild für die Verhältnisse in der Wüste», meint Singleton. In den Sommermonaten kann es bis zu 50 Grad heiss werden.

Im Gepäck haben sie Wasserkanister, mehrere Paletten Bohnendosen, Medikamente, Sonnencreme und einen braunen Pudel namens Coco. Mit zwei Pick-up-Trucks geht es auf den Highway 85, raus aus Ajo und dann eine halbe Stunde über kleine, hügelige Pfade Richtung Nordosten. «Es ist ein komisches Gefühl, dass wir möglicherweise gerade überwacht werden», sagt der 73-jährige Leslie Sunde, während er den silbernen Chevrolet immer tiefer in die staubige Landschaft fährt.

Tausende MigrantInnen sind in den letzten Jahrzehnten beim Versuch, durch die Wüste ins Landesinnere der USA zu kommen, gestorben. Wie viele es genau sind, weiss keiner. Nicht selten werden ihre Skelette erst nach Jahren gefunden. Manche Menschen verschwinden für immer. Es ist eine permanente Katastrophe – von der Politik gemacht.

Mehr Kameras, mehr Waffen

«Prävention durch Abschreckung» heisst die Strategie, die Expräsident Bill Clinton in den neunziger Jahren einführte. Die Zäune wurden Jahr für Jahr höher, bis es schliesslich keine Zäune mehr waren, sondern Mauern. Die Zahl der US-GrenzpolizistInnen wuchs von 4000 auf rund 20 000, auch die Zahl der Checkpoints hat sich stark erhöht. Es kommen immer mehr Hubschrauber zum Einsatz, immer mehr Kameras, immer mehr Waffen.

Die milliardenteure Militarisierung der Grenze, die unter Clinton begann, unter Bush und Obama fortgesetzt wurde und nun unter Trump wie auf Steroiden intensiviert wird, soll illegale Einwanderung und den Drogenhandel eindämmen, so das offizielle Ziel. Doch weder das eine noch das andere ist geschehen. Solange es Fluchtursachen gibt, wird es Flucht geben. Das ist in Amerika nicht anders als in Europa.

In Arizona haben die Hilfsorganisationen stattdessen etwas anderes beobachtet – den sogenannten Trichtereffekt. Die Routen der MigrantInnen sind länger und gefährlicher geworden. Seit selbst kleine Grenzortschaften grossräumig gesichert sind, bleiben den Flüchtenden nur noch die entlegenen und tödlichsten Gebiete. «Prävention durch Abschreckung» bleibt ein Mythos, der Leben kostet.

Früher war Ajo ein Endpunkt, MigrantInnen hatten dort so weit ihr Ziel erreicht und mussten keine Grenzkontrollen mehr befürchten. Heute liegt die Siedlung mitten im militarisierten Gebiet, der Halt hier ist im besten Fall ein Zwischenstopp. Manche Geflüchtete sind so entkräftet und dehydriert, dass sie sich freiwillig verhaften lassen. Maria Singleton erinnert sich an den Moment, in dem sie verstand, dass sie an diesem Ort «nicht leben könne, ohne sich zu engagieren». Ihre Freundin Jan St. Peters zeigte ihr die «migrant death map», eine von der Organisation Humane Borders erstellte Onlinekarte von Südarizona, auf der die toten MigrantInnen der letzten Jahre vermerkt sind. Jeder gestorbene Mensch bekommt dort einen roten Punkt. Wer ein kleines bisschen herauszoomt, sieht nur noch eine Farbe.

Für die humanitären HelferInnen ist die Karte auch eine Orientierung dafür, wo sie Wasser abstellen müssen. An diesem Nachmittag haben sie sich zwei Punkte ausgesucht: einen zerfallenen Bienenstock in der Nähe eines ausgetrockneten Baches. Und etwas weiter östlich eine stillgelegte und von Sträuchern überzogene Farm. Je offener das Land, erklärt die 68-jährige Jan St. Peters, desto schwieriger werde es, die MigrantInnen zu unterstützen. «Wir müssen die Lebensmittel nicht nur vor der Sonne, sondern auch vor Tieren verstecken, vor allem vor Raben und Eseln», sagt St. Peters, während sie einen leeren, verbeulten Wasserbehälter aufhebt und den Deckel mustert. «Immerhin, es sieht so aus, als wäre der hier zum Einsatz gekommen.» Sie lächelt zaghaft.

Bemerkenswert ist der kleine Ort Ajo, in dem rund 3000 EinwohnerInnen leben, nicht nur, weil dort fast täglich Geflüchtete landen, durstig, hungrig, erschöpft, oft alleine, verletzt, traumatisiert, auf der Suche nach Hilfe und zugleich mit der Furcht, entdeckt und abgeschoben zu werden. Bemerkenswert ist Ajo auch deshalb, weil es von historischen Landschaften umgeben ist, die viel über die US-Politik der letzten Jahrhunderte verraten. Darüber, wer in diesem Land sein darf und wer von der Bildfläche verschwinden soll.

Östlich von Ajo liegt das Reservat der Tohono O’Odham, eines indigenen Stammes mit circa 28 000 Mitgliedern. Seit dem Vertrag von Guadalupe Hidalgo, der das Ende des Mexikanisch-Amerikanischen Kriegs 1848 besiegelte, wird das Reservat, das fast so gross wie der Bundesstaat Connecticut ist, von einer Ländergrenze durchzogen. Diese Grenze hat den Stamm nicht nur willkürlich geteilt, sie ist auch der Grund, warum die Tohono O’Odham ihre heilige Natur schwinden sehen. Wo heute Beton und Stacheldraht in die Höhe wachsen, standen bis vor kurzem noch riesige Orgelpfeifenkakteen. Bis zu 150 Jahre alt und acht Meter hoch werden die Pflanzen, die dem südlich von Ajo gelegenen Nationalpark Organ Pipe seinen Namen gegeben haben. «In unserer Sprache gibt es kein Wort für ‹Mauer›», sagte der Vizepräsident der Tohono O’Odham, Verlon Jose, Anfang 2017 kurz nach Trumps Amtseinführung.

Es braucht nicht viel, um zu verstehen, wie ignorant und grotesk es auf die Einheimischen wirken musste, dass einer der Staatsanwälte im Warren-Prozess diesen Teil der Wüste als «gigantisches Nichts» beschrieb.

Rund um Ajo gibt es kein Nichts. Im Norden liegt die Barry-Goldwater-Bombenanlage, ein gigantisches Areal, auf dem die US-Luftwaffe seit dem Zweiten Weltkrieg ihre Flieger und Raketen testet. Das Betreten ist streng verboten, was die Arbeit der humanitären Organisationen dort nahezu unmöglich macht. In den wenigen Suchaktionen, die in den vergangenen Jahren meist heimlich durchgeführt wurden, fanden HelferInnen Dutzende Skelette.

Darüber hinaus gibt es in der Wüste noch ganz andere Gruppen, die nach MigrantInnen Ausschau halten. Auch rechte Bürgerwehren wie die United Constitutional Patriots, die California State Militia oder Three Percent United streifen systematisch durchs Land, oft scharf bewaffnet. Wenn sie Flüchtende finden und an die Polizei ausliefern, verbreiten sie stolz Videos ihrer Aktionen auf den Social-Media-Kanälen. In Trump sehen die Möchtegernpolizisten einen Verbündeten.

Der grösste Gegner sei laut Jan St. Peters aber jemand anderes: die Grenzpolizei. «Sie haben Blut an den Händen», sagt sie.

Die Tradition der Underground Railroad

Der Tag, an dem Scott Warren verhaftet wurde, begann mit einem Scoop. No More Deaths veröffentlichte am Morgen des 17. Januar 2018 einen Report, der bewies, dass die Grenzpolizei in der Wüste von Arizona Tausende Wasserkanister zerstörte. Videos aus den Jahren 2010 bis 2017 zeigen, wie Beamte die für MigrantInnen überlebenswichtigen Behälter wegkicken und ausgiessen. «Schau dir den Müll an, den jemand auf seinem Weg gelassen hat», sagt ein feixender Polizist, der einen Kanister nach dem nächsten leert.

Während das Video im Netz zirkulierte, entschlossen sich zwei Ajo-Grenzpolizisten, John Marquez und Brendan Burns, die humanitäre Station «The Barn» zu überwachen. Sie versteckten sich rund 150 Meter vom Haus entfernt hinter Büschen und wechselten sich am Fernglas ab. Nach etwa einer Stunde sahen sie, wie Warren vor die Tür trat, neben ihm Kristian und José, die zwei jungen Geflüchteten, die vor drei Tagen in dem Gebäude untergekommen waren. Warren zeigte auf verschiedene Berge in der Umgebung. Für die Beamten war klar, dass er Fluchtwege vorgab. Kurz darauf rollten mehrere Fahrzeuge an. Mit gezückten Waffen durchsuchten die Grenzpolizisten das Grundstück. Warren und die zwei Migranten wurden verhaftet.

Warrens Anwälte konnten nachweisen, dass sich humanitäre Organisationen wie No More Deaths an feste Protokolle halten, die mit Juristinnen und Ärzten abgesprochen sind. «Wir ziehen eine klare Linie», erklärte Warren vor Gericht. Verpflegung, medizinische Versorgung und räumliche Orientierung seien im legalen Rahmen. Geflüchtete vor der Polizei aktiv zu verstecken und mit ihnen Routen zu planen dagegen nicht.

Die Regierung hatte in diesem Prozess von Beginn an ein Ziel: humanitäre Hilfe als Ganzes zu diskreditieren. Warren wurde zunächst sogar einer «Verschwörung» gegen die Grenzpolizei beschuldigt. Er sei der Anführer einer Organisation, die Schmuggeloperation durchführe, hiess es. Von den zwei Migranten, denen Warren geholfen hatte, wurden im Gerichtssaal immer und immer wieder dieselben Selfies gezeigt, die sie an ihre FreundInnen in der Heimat geschickt hatten. Die Fotos sollten beweisen, dass die Männer gar keine Hilfe gebraucht hätten. «Es wirkt fast so, als wären sie im Urlaub», meinte Staatsanwalt Nathaniel Walters.

Wie politisch dieser Prozess war, erkannte man alleine daran, dass die Staatsanwaltschaft im Vorfeld beantragt hatte, der Name Trump und dessen Agenda solle unerwähnt bleiben. Die Intention war unschwer zu erkennen: Der Zusammenhang zwischen der Antieinwanderungspolitik in Washington und der Kriminalisierung humanitärer Arbeit in Arizona sollte kein Thema werden. Der Richter bewilligte den Antrag. Wie stark wiederum die lokale Unterstützung für Warren war und ist, zeigte sich an jedem einzelnen Tag des Prozesses. Die Bänke im Gerichtssaal waren voller UnterstützerInnen. Vor dem Gebäude fanden zahlreiche Proteste und Aktionen statt.

Zu den RednerInnen gehörte dabei auch John Fife, ein ehemaliger Pastor, der 1980 die Sanctuary-Bewegung in Arizona gestartet hatte. Hunderte Kirchen im ganzen Land schlossen sich damals der von ihm geleiteten Southside Presbyterian Church in Tucson an und gaben Flüchtlingen «sanctuary» – einen Zufluchtsort. 2002 half Fife bei der Gründung des lokalen SamariterInnen-Netzwerks, zwei Jahre später initiierte er dann No More Deaths. Wann immer die USA in neue Abschottungsphasen eintrat und die Asylgesetze verschärfte, kümmerte sich Fife um Gegenstrukturen.

Zum Abendessen in einem mexikanischen Restaurant in Tucson erscheint der 79-Jährige so, wie man ihn von Fotos kennt: hellblaues Hemd, dunkle Jeans, Cowboystiefel, weisser Bart. «Es gibt in Arizona eine lange Tradition der humanitären Hilfe», sagt Fife. «Ich hoffe, dass sich normale Bürgerinnen und Bürger jetzt nicht abschrecken lassen.»

Alleine in den achtziger Jahren seien mehr als 13 000 MigrantInnen in der Southside Church untergekommen, die meisten aus Guatemala, Nicaragua und El Salvador. «Wir haben damals an die Tradition der Underground Railroad angeknüpft», erinnert sich Fife: ein Netzwerk, das SklavInnen im 19. Jahrhundert bei der Flucht aus den Südstaaten half.

Immigration sei immer ein Produkt der US-Politik gewesen, sagt Fife. Als Beispiel nennt er die Hunderttausenden LateinamerikanerInnen, die in den achtziger Jahren vor den Militärdiktaturen flohen. Diese Diktaturen konnten auch deshalb so repressiv herrschen, weil sie wegen ihrer antikommunistischen Ideologie von den USA unterstützt wurden. Mit einem strukturellen Kurswechsel rechnet Fife nicht. Er habe zu viele verschiedene US-Präsidenten erlebt, ob von den DemokratInnen oder RepublikanerInnen, deren Immigrationspolitik letztlich auf das Gleiche hinauslief: streng bewachte Grenzen und Tote in der Wüste.

Hoffnung macht Fife etwas anderes: die wachsende Community der humanitären Hilfe. Besonders viele junge Frauen haben sich in den vergangenen Jahren Organisationen wie No More Deaths angeschlossen. Sie fahren zusammen in die Wüste, organisieren Proteste. «Es ist wie damals», sagt Fife, «die Menschen reagieren.»

«Verstörend, aber erwartbar»

Der Fall Scott Warren macht Hoffnung. Und er ist ernüchternd. Knapp zwei Jahre lang hat die Staatsanwaltschaft versucht, einen Mann dafür ins Gefängnis zu bringen, dass er MigrantInnen das Leben rettet. Seit zwei Jahren steht da jemand im Mittelpunkt, der nicht im Mittelpunkt stehen will.

«Ich freue mich darauf, wie die anderen Freiwilligen einfach wieder zu arbeiten», sagt Warren, als er am letzten Prozesstag in einem Café nahe des Justizgebäudes sitzt. Seine Verteidiger und die Gegenseite haben am Vormittag ihre Schlussplädoyers gehalten. Jetzt liegt die Entscheidung bei der Jury.

Warren trägt einen grauen Anzug und eine blau-weiss gestreifte Krawatte, seine braunen Augen sehen erschöpft aus. Die letzten zwei Jahre haben Kraft gekostet, sagt er. «Als ich verhaftet wurde, gab es eine Phase von zwei Monaten, in der ich gar nicht mehr in die Wüste wollte.» Auch Ajo habe sich durch den Prozess gegen ihn verändert. «Ich habe das Gefühl, dass die Kommunikation nicht mehr so offen ist», so Warren.

Als er 2009 das erste Mal zufällig mit seinem Honda durch Ajo fuhr, spürte er schnell, dass ihn dieser Ort nicht mehr loslassen würde. Die einzigartige Landschaft, die eigenwilligen BewohnerInnen, die Nähe zur Grenze, das Leid. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit der Geschichte dieses Ortes, insbesondere mit der Aufrüstung durch die Grenzpolizei. «Der wohl beunruhigendste Aspekt dieser neuen Industrie ist die weitverbreitete Alltagsgewalt», schreibt Warren. Vor Gericht sagte Warren, dass er bis heute die Überreste von achtzehn verschiedenen Menschen gefunden habe. «Es ist verstörend», so Warren, «aber man fängt irgendwann an, es zu erwarten.»

Wer diesem Mann zuhört, ihn beobachtet, erlebt eine grosse Sanftmütigkeit. Warren hätte allen Grund, wütend zu sein. Aber er ist und bleibt vor allem ein nachdenklicher Mensch. Jemand, der auf seine Umgebung eingeht.

Das Gespräch ist gerade seit ein paar Minuten beendet, da kommt Warren für seine Verhältnisse hektisch zurück an den Tisch. «Das Urteil ist da», sagt er. Die Geschworenen haben sich entschieden.

Eine Stunde später steht Warren vor dem Gerichtsgebäude und nimmt eine Helferin nach der anderen in den Arm. «Der Bedarf an humanitärer Hilfe ist ungebrochen», sagt Warren bei einer spontan organisierten Pressekonferenz. «Lasst uns tief durchatmen, etwas ausruhen und darauf vorbereitet sein, was als Nächstes kommt.»

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen