Coronamassnahmen: «Jetzt an Corona zu sterben, wäre besonders tragisch»

Nr. 51 –

Was lief schief in der Schweiz? Manuel Battegay, Chefarzt für Infektiologie am Universitätsspital Basel und Mitglied im Leitungsteam der Science Task Force, über das Schweizer Coronadebakel – und den Ausweg daraus.

Manuel Battegay, Chefarzt

WOZ: Manuel Battegay, das Schweizer Gesundheitssystem ist am Anschlag, die Ansteckungszahlen sind hoch und steigen weiter – obwohl der Winter erst vor uns liegt. Ist die Schweizer Coronastrategie gescheitert?
Manuel Battegay: Die Lage in allen Schweizer Spitälern ist sehr ernst, und es gibt keine Anzeichen, dass sich die Situation bald verbessert. Die Schweiz hat einen Weg gewählt und stösst nun damit an. Wir als unabhängige wissenschaftliche Taskforce sagen, dass es jetzt wirksame Massnahmen braucht, analog zum Anfang November in Genf eingeführten Lockdown sowie dem schweizweiten Lockdown im März mit Schliessungen von Restaurants und nicht essenziellen Geschäften und strikter Durchsetzung von Homeoffice, wo immer dies möglich ist. Die Fallzahlen müssen schnell sinken. Zur Klinik passt das Wort «scheitern» schlecht, weil es hier darum geht, einen Notfall entschieden anzugehen. Wenn wir von scheitern sprechen, dann resignieren wir. Wir sind aber mitten in der Krise.

In der «NZZ am Sonntag» schlugen drei Chefärzte aus dem Kanton Zürich Alarm, weil die Bedingungen an den Spitälern kaum mehr zumutbar seien. Die Kapazitäten sind erschöpft, es kommt zu Ansteckungen in den Kliniken. Andere Spitaldirektoren schlossen sich den Forderungen an. Verstehen Sie Ihre Kollegen, die sagen, die Politik habe versagt?
Die Analyse der Situation an den Spitälern kann ich sehr bestätigen. Es braucht sehr viel, bis sich Ärzte öffentlich so zu Wort melden. Wir haben bislang wenig bis nichts Alarmistisches aus den Spitälern gehört. Als Mediziner lernt man, demütig zu sein. Ich kenne kaum Ärzte und Pflegende, die nicht sehr schlimme Erfahrungen in ihrem Berufsalltag gemacht haben. Wir müssen diese dann bewältigen. Wenn sich Ärzte und Pflegende nun äussern, liegt es daran, dass die Situation wirklich so nicht haltbar ist.

Wann und wo passierten aus Ihrer Sicht die entscheidenden Fehler, die dafür gesorgt haben, dass uns die zweite Welle so stark erwischt hat?
Während der ersten Welle im Frühjahr war die Schweizer Bevölkerung nur zu einem sehr kleinen Teil infiziert worden. Deshalb haben viele – ich auch noch im Frühjahr – die Wucht unterschätzt, die die zweite Welle nun entfaltet. Die Fallzahlen im Sommer waren ein Problem, aber Deutschland hatte damals viel tiefere Zahlen und steckt jetzt in einer ähnlichen Situation. Das Hauptproblem ist, dass wir bei hoher Basis im Sommer mit Ansteigen der Fallzahlen im Spätsommer und Oktober zu spät auf die Bremse getreten sind. Wir hätten früher und klarer eingreifen müssen. Im Frühherbst war schwer zu vermitteln, wie bedrohlich die Situation ist, weil es trotz hoher Falldichte einige Wochen vermeintlich «gut» ging. Und selbst jetzt sehen wir in dieser anhaltenden Notfallsituation, wie schwierig es ist, dass die Massnahmen akzeptiert werden.

Die Kommunikation erleichtern könnte nun ein Ampelsystem, das Eskalationsstufen direkt mit der epidemiologischen Entwicklung verbindet. Hilft das?
Ja, grundsätzlich schon. Bei einer so flächigen, schweizweiten Ausbreitung brauchen wir einheitlichere Regeln und entsprechend adaptierte Massnahmen. Man muss aber schauen, wie puristisch die Ampel angewendet wird. Um bei der Ampel zu bleiben: Im Moment ist sie rot. Eine hervorragende Disziplin ist bei jedem System essenziell. Jeder persönliche Beitrag ist wichtig: Wir können alle Geschäfte und Restaurants schliessen, aber wenn wir uns bei privaten Treffen nicht an die elementaren Regeln wie Abstand halten, lüften, Masken tragen oder Hände desinfizieren halten, sind Massnahmen viel weniger wirksam.

Also sollten wir die Festtage besser alleine verbringen?
Nein, überhaupt nicht. Wir haben jetzt zu Chanukka auch unsere 88-jährige Mutter besucht, waren nie mehr als fünf Personen. Wir haben unsere Hände desinfiziert, eine Maske getragen, erst einmal die Fenster kurz geöffnet und sind nicht sehr lange geblieben. Wir müssen die Wahrscheinlichkeiten reduzieren, dass es zu Ansteckungen kommt. Das ist seit Jahrzehnten ein bewährtes Präventionskonzept für Risikogruppen, beispielsweise für Transplantierte. Der Schutz für vulnerable Gruppen muss gewährleistet sein, aber wir müssen schauen, dass sich Menschen mit Risikofaktoren selber zusätzlich schützen können. Dafür darf es nicht zur Isolation kommen.

Gleichwohl sind neue Massnahmen geplant, mit denen die Kontakte reduziert werden sollen. Viele Geschäfte und die Gastronomie könnten ganz geschlossen, private Treffen stark eingeschränkt werden. Sind das die richtigen Massnahmen?
Die Schweiz hat bislang nie zu früh zu viel gemacht. Wir können nicht alles wissenschaftlich ergründen und jede Verästelung der Massnahmen mit Evidenz belegen. Ein Beispiel: Sie treffen sich zu zehnt, ein Teil der Besucher hält sich an die Regeln, ein Teil tut das nicht. Sie lüften gut, schauen auf Abstand, es kommt zu Ansteckungen. Was war der entscheidende Faktor? Das lässt sich nicht sagen. Wichtig ist die Reduktion von Kontakten vor allem in Situationen, in denen das Risiko von Ansteckungen hoch ist. Das sind zum Beispiel dichte Menschenmengen, der Aufenthalt in schlecht belüfteten Innenräumen, Situationen ohne Maske oder Abstand, aber auch lautes Reden und Singen, weil wir dabei viele Viren ausstossen.

Der Kanton Basel-Stadt hat relativ harte Eingriffe beschlossen, hat die Gastronomie und Fitnesscenter geschlossen. Trotzdem sind die Fallzahlen nicht zurückgegangen. Hat Basel die falschen Massnahmen ergriffen?
Leider ist das komplexer. Wir wissen nicht, ob die Fallzahlen ohne die Massnahmen noch viel höher wären. Wir wissen nicht, wie die Umsetzung im Alltag war, ob die Mobilität damit zurückging. Es hat aus meiner Sicht eine Rolle gespielt, dass die Basler Bevölkerung in umliegende Kantone ausweichen konnte, die weniger strikt waren. Diese Ungewissheiten zeigen, dass ein Manko besteht, zu verstehen, wie Massnahmen umgesetzt und befolgt werden. Die Forschung dazu ist sicher ausbaubar.

Bis die Impfung für alle verfügbar ist, vergehen noch einige Monate. Was ist eine realistische Perspektive auf die Zeit, die vor uns liegt?
Auch wenn es uns gelingt, die Fallzahlen runterzubringen – und das muss gelingen –, bleibt die Lage wahrscheinlich bis März, April auch im Gesundheitssystem angespannt. Die Impfungen beginnen hoffentlich ab Januar oder spätestens ab Februar. Ich bin zuversichtlich, dass diese dann bis zum Sommer eine schrittweise Verbesserung bringen werden. Die Impfung ist die konkrete Perspektive und die Motivation jedes und jeder Einzelnen, diszipliniert zu bleiben und die Massnahmen strikt umzusetzen. Denn sich kurz vor einer sehr gut schützenden Impfung anzustecken, möglicherweise zu erkranken und zu sterben, wäre besonders tragisch.