Pflegenotstand: «Die Situation ist für alle Seiten untragbar»

Nr. 35 –

Während sich die Intensivstationen mit Covid-19-PatientInnen füllen, spitzt sich in den Schweizer Spitälern der Personalmangel zu. Um diesen zu beheben, braucht es Druck von der Basis, sagt Elvira Wiegers, Zentralsekretärin der Gewerkschaft VPOD.

Elvira Wiegers, VPOD-Zentralsekretärin

Frau Wiegers, weshalb fehlen in der Schweiz die Pflegefachkräfte?
Elvira Wiegers: Das Gesundheitspersonal arbeitete schon vor der Pandemie seit langem am Anschlag. 10 000 Pflegestellen sind in der Schweiz unbesetzt. Durch die Pandemie hat sich die Situation weiter zugespitzt. Das Pflegepersonal ist körperlich wie psychisch am Rand seiner Kräfte. Viele haben deshalb während der Pandemie ihren Beruf aufgegeben und fehlen nun in der aktuellen vierten Welle. Der Druck auf die verbleibenden Fachkräfte nimmt dadurch noch weiter zu. Besserung ist nicht in Sicht. Die Spitäler jammern zwar über den Personalmangel, gleichzeitig tun sie nichts, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und somit auch den Personalmangel zu beheben.

Wieso verhalten sich die Spitäler so?
Wenn man die Spitäler auf die Missstände anspricht, sagen sie, dass die Politik diese verursache. Die Politik erwidert, dass die Spitäler in der Verantwortung stünden. Wir haben es mit einem systemischen Versagen zu tun. Das ganze Spitalsystem ist auf Wettbewerb ausgerichtet. Dadurch steigen die Gesamtkosten. In den Spitälern herrscht gleichzeitig ein enormer Kostendruck. Beim Personal wird seit vielen Jahren massiv gespart. Dabei müsste in diesem Bereich eigentlich investiert werden. So bildet die Schweiz nur gut vierzig Prozent der benötigten Pflegefachkräfte selbst aus.

Und der Rest?
Die Schweiz wirbt im Ausland Personal ab – dieses Vorgehen ist nicht nur unsozial, sondern stösst auch an seine Grenzen. Denn der Bedarf der Schweiz ist enorm. In den kommenden Jahren benötigt die Schweiz über 60 000 zusätzliche Pflegefachkräfte. Dieser sich zuspitzende Personalmangel ist nicht nur für das Personal untragbar, sondern gefährdet auch die Versorgung und die Sicherheit der PatientInnen. Deshalb muss sich Grundlegendes ändern.

Was denn?
Es braucht bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal. Ein wichtiger Schritt ist diesbezüglich die Pflegeinitiative, die am 28. November zur Abstimmung kommt. Diese fordert mehr und besser ausgebildetes Personal, bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne sowie die Möglichkeit, dass Pflegefachpersonen gewisse Leistungen direkt mit den Krankenkassen abrechnen können.

Der Bundesrat und das Parlament sagen zwar, dass sie das Anliegen der InitiantInnen teilten. Trotzdem lehnen sie die Pflegeinitiative ab. Sie haben aber einen indirekten Gegenvorschlag verabschiedet. Reicht dieser nicht aus?
Der Gegenvorschlag sieht in erster Linie vor, während acht Jahren in die Pflegeausbildung zu investieren. Das ist grundsätzlich gut. Doch eine befristete Bildungsoffensive genügt nicht, um den zusätzlichen Bedarf an Pflegefachpersonen langfristig zu decken. Zudem ist es nicht damit getan, einfach mehr Pflegefachkräfte auszubilden. Aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen und tiefen Löhne verbleiben viele Pflegefachpersonen nur kurze Zeit in ihrem Beruf. Dieses Phänomen wird durch die Pandemie nur noch akzentuiert und ist einer der Hauptgründe für den Fachkräftemangel. Auch deshalb müssen sich die Bedingungen im Pflegeberuf ändern. Der Gegenvorschlag des Parlaments klammert dies aber komplett aus.

Die bürgerlichen GegnerInnen der Pflegeinitiative werden im Abstimmungskampf vor einem Prämienanstieg warnen.
Ja, so wird es sein. Doch das ist ein sehr unfaires Killerargument. Klar, man soll über die Kosten reden. Man muss dann aber darüber diskutieren, wofür wir das Geld ausgeben wollen: Bezahlen wir damit den Wettbewerb zwischen den Spitälern, Spitalluxusbauten und hohe Kaderlöhne – oder investieren wir es in die Menschen, die effektiv die PatientInnen retten, pflegen und versorgen? Zudem: Wenn es genügend Pflegepersonal hat, wird damit nicht nur die Gesundheitsversorgung verbessert – es werden auch teure Rehospitalisierungen und andere Folgekosten verhindert.

Vor einem Jahr gab es jede Menge Applaus fürs Gesundheitspersonal und nette Worte, etwa von der Bundespräsidentin. Was ist seither politisch passiert?
Nichts ist passiert. Auch deshalb werden die Pflegefachkräfte am 30. Oktober wie bereits im Vorjahr auf dem Bundesplatz demonstrieren. Wir lassen nicht locker. So fährt der VPOD aktuell unter dem Motto «Road to strike» mit einem Bus von Spital zu Spital. Damit wollen wir das Personal vor Ort dabei unterstützen, sich zu organisieren.

Der Organisierungsgrad des Spitalpersonals ist tief, es gilt als nicht besonders streikfreudig.
Die politischen Verhältnisse sind so, dass sich im Gesundheitswesen nicht von selbst etwas zum Guten verändert. Es braucht Druck von der Basis – durch ein Ja der Bevölkerung zur Pflegeinitiative und dadurch, dass die Gesundheitsangestellten damit beginnen, für ihre Rechte und für Verbesserungen im Gesundheitswesen zu kämpfen.