Asylpolitik: Gewissen vor Amt

Der Druck auf die Waadtländer Regierung wächst, auf die Ausschaffung von 523 abgewiesenen Asylsuchenden zu verzichten.

«Ich stehe auf der Seite der 523», sagt François Brélaz. Er gehört, gemäss einer repräsentativen Umfrage von letzter Woche, zur Mehrheit der Waadtländer Bevölkerung, die sich gegen die Ausschaffung von 523 abgewiesenen Asylsuchenden ausspricht, wie es das Abkommen der Kantonsregierung mit Christoph Blocher verlangt. Das Besondere an ihm: Fran­çois Brélaz sitzt für die SVP im Kantonsparlament. Er hat auf eigene Faust eine Reise nach Srebrenica unternommen: «Ich wollte mir eine eigene Meinung machen können. Und habe in Srebrenica festgestellt: Die Rückschaffung von Flüchtlingen in diese Gegend ist unmöglich!»

Letzten Mittwoch lief die Anmeldefrist für freiwillige Rückreisen ab. Bereits nächste Woche sollen die ersten behördlich festgelegten Flugtermine mitgeteilt werden. Die Waadtländer Regierung will weder ein Moratorium noch eine unabhängige Überprüfung der einzelnen Fälle. Einzig die Dossiers, in denen die Menschenrechtsorganisation Amnesty International gravierende Fehler festgestellt hat, sollen nochmals angeschaut werden.

Gegen den Willen der Bevölkerung

Der frühere Postangestellte und heutige Rentner François Brélaz ist überzeugt: «Wer unter den Asylsuchenden finanziell unabhängig ist oder wer we­nigs­tens seinen guten Willen gezeigt hat, sich zu integrieren, soll bei uns bleiben.» Die Lage in den bosnischen Gebieten, die heute von SerbInnen bewohnt werden, sei alles andere als stabil. Und vor allem: Die Leute würden schlicht keine Arbeit finden. Die Regierung müsse sich genau überlegen, welche Verantwortung sie auf sich nehme: «Da werden Leben zerstört», sagt François Brélaz.

Ebenso deutliche Worte findet Daniel Brélaz, Mitglied der Grünen Partei und Stadtpräsident von Lausanne. Mit seinem Namensvetter von der SVP verbindet ihn nichts als die Überzeugung, dass die drei besonders verwundbaren Gruppen unter den 523, nämlich die allein stehenden Frauen, die Überlebenden des Massakers von Srebrenica und die Familien mit in der Schweiz geborenen Kindern nicht ausgeschafft werden dürften.

Daniel Brélaz hat gemeinsam mit 24 Gemeindepräsidenten sowie 70 Mitgliedern von Gemeindeexekutiven eine von der PdA-Politikerin Marianne Huguenin lancierte Petition unterzeichnet. «Können Sie sich vorstellen, Kinder auszuschaffen, die nicht einmal die Sprache ihres Landes sprechen?» Als Meister der Untertreibung relativiert er die Bedeutung der Revolte der Bürgermeister gegen die Kantonsregierung: «Auch Exekutivmitglieder haben das Recht, das Gewissen vor das Amt zu stellen!»

Brélaz will die Regierung nicht kritisieren. Indirekt sagt er trotzdem, was er vom Festhalten am Flüchtlingsdeal hält: «Offenbar ist die Regierung der Ansicht, die in Bern geleistete Unterschrift stehe über dem Willen des Grossen Rates und über dem Willen einer Mehrheit der Bevölkerung.» Rein legalistisch gesehen sei das möglich. «Aus moralischer, ethischer und politischer Sicht ist es aber eine andere Sache.» Doch hat der Kanton überhaupt noch einen Handlungsspielraum? «Ja sicher», meint der Lausanner Bürgermeister. «Die Exekutive kann darauf verzichten, die Ausweisungen zu vollziehen.» Bundesbern könne dagegen nichts tun, ausser zur Strafe die Subventionen zu kürzen.

«Das ist Rechtsverweigerung!»

Derweil setzt die Unterstützungsbewegung grosse Hoffnungen auf ein Rechtsgutachten. Der vom Lausanner Universitätsprofessor Pierre Moor verfasste Bericht kommt zum Schluss, das Bundesamt für Flüchtlinge habe juristische Grundlagen verletzt. Die Bundesbehörden sind nämlich der Ansicht, Entscheide im Rahmen der «Härtefall»-Regelung, wie sie Ruth Metzler eingeführt hat, seien keine wirklichen Entscheide und damit nicht rekursfähig. Moor lehnte diese Interpretation ab: Für ihn hätten die Behörden die Kriterien für Annahme oder Ablehnung einzeln bekannt geben und damit den Weg für Rekurse öffnen müssen. Die Abgewiesenen erhielten die negative Antwort aber per vorformulierten Standardbrief und ohne Angabe von Gründen. «Das ist eine Rechtsverweigerung», kommentiert Yves Sancey von der Unterstützungsbewegung: «Vor der Klärung der Rechtslage ist jede Ausschaffung illegal!»

Doch hat das Gutachten auch wirklich aufschiebende Wirkung? Aus Miss­trauen gegenüber SVP-Regierungsrat Jean-Claude Mermoud hält die Unterstützungsbewegung an ihrem Dispositiv – Kirchenasyl und Unterkunft bei Privaten – fest. Nach zwei Wochen zügelt das Asyl der Kirchgemeinde Malley diese Woche wie abgemacht an einen andern Ort. Und über 700 Kulturschaffende und andere Prominente erklärten sich öffentlich bereit, das Gesetz zu brechen und Asylsuchende zu beherbergen.