Aufstände in Syrien: Städtische gegen ländliche Eliten

Vor zwei Wochen haben nun auch in Syrien Proteste begonnen. Doch die städtischen Eliten werden anders als in Ägypten wohl kaum die radikale Umwälzung fordern.

Das syrische Baath-Regime, welches das Land seit 48 Jahren regiert, hängt im Leeren. Selbst Präsident Baschar al-Assad scheint schockiert über das Ausmass der Gewalt, mit der seine Sicherheitskräfte die Demonstrationen unterdrückt haben, die vor zwei Wochen begannen. Vergangenen Donnerstag kündigte er erstmals Reformen an.

Um das Regime ernsthaft herauszufordern, werden die Oppositionellen ihre Proteste jedoch über die südliche Grenzstadt Daraa auf die grossen Städte ausweiten müssen. Dabei stellt sich die Frage: Gleicht Syrien Tunesien und Ägypten, wo die Bevölkerung genügend Einigkeit fand, ihre Autokraten friedlich aus dem Amt zu stossen, oder eher dem Irak und dem Libanon, deren Gesellschaften nach einem Bürgerkrieg bis heute gespalten sind.

Spaltung der Elite?

Wie seine Nachbarn Irak und Libanon ist Syrien eine multireligiöse, ethnisch zersplitterte Gesellschaft. Assad gehört der alevitischen Konfession an, einer Abspaltung des schiitischen Islam, die zwölf Prozent der Bevölkerung stellt.

Die Proteste in Daraa regten viele Alevit­Innen in der Küstenstadt Latakia dazu an, auf der Strasse ihrem Präsidenten ihre Unterstützung zu zeigen. Auch ChristInnen und andere religiöse Minderheiten, die zusammen weitere dreizehn Prozent der Bevölkerung Syriens stellen, haben Assad, der für einen säkularen Staat steht, ihre Unterstützung bekundet. Viele Menschen in Syrien haben Angst, politische Umwälzungen könnten die IslamistInnen an die Macht bringen, wie dies im Irak geschehen ist.

Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Revolution liegt in der Spaltung der syrischen Elite. Diese besteht einerseits aus der Klasse der alevitischen Offiziere und andererseits aus den grossen sunnitischen Händler- und Industriellenfamilien, die die Wirtschaft sowie die Kultur dominieren. Halten diese beiden Gruppen zusammen, dann ist es schwierig, sich eine breite Revolte vorzustellen, die das Regime zum Stürzen bringt.

Der Zusammenhalt dieser Eliten ist ebenso eine Frage der sozialen Klasse wie eine der Konfession. Die Proteste in Daraa haben nur eine sehr beschränkte Ausstrahlungskraft auf die urbane Elite. Die Revolten in der staubigen Grenzstadt, die geprägt ist von Stammesloyalitäten, Armut und islamischem Konservatismus, haben Syriens städtische Eliten verängstigt. Selbst jene, die die Wut mit der ländlichen Bevölkerung teilen, fürchten sich vor den Armen und vor der möglichen politischen Unordnung.

Die urbanen Eliten Syriens betrachten das Regime bis heute als Diktatur der Landbevölkerung. Denn die Baath-Partei, die 1963 die Macht übernahm, war von jungen Offi­zieren und ländlichen Vertretern geprägt. Doch der in Damaskus aufgewachsene Präsident hat mit den städtischen Eliten mehr gemeinsam als mit den AlevitInnen der Küste, die seinen Vater an die Macht gebracht hatten.

Als Assad im Jahr 2000 die Macht übernahm, begann er die Wirtschaft und Gesellschaft zu liberalisieren. Ausländische Importe, der Tourismus und die Kultur wurden wiederbelebt. Heute ist Syrien ein wundervoller Ort, um reich zu sein.

Für die verarmte Mehrheit im Land ist das Bild jedoch düster. Ein Drittel der Bevölkerung kommt mit zwei US-Dollar am Tag oder weniger aus. Die Arbeitslosigkeit steigt, und vier Jahre Dürre haben aus dem ländlichen Osten Syriens ein Ödland aus verarmten Städten wie Daraa gemacht. Das Letzte, was die Städter­Innen in Aleppo, Homs und Damaskus wollen, ist eine Revolution, die eine neue ländliche politische Klasse an die Macht bringt – oder die das Land in einen Bürgerkrieg treibt.

Der geteilte Nahe Osten

Der arabische Aufstand teilt den Nahen Osten: in jene Länder, die echte Nationen geworden sind, mit einer politischen Gemeinschaft und der Fähigkeit, die postkoloniale Ära der Diktatur hinter sich zu lassen, und in jene, die dazu verdammt sind, entlang von Ethnien, Konfession und Stämmen zu streiten. Der Libanon und der Irak sind gestolpert. Libyen gleitet derzeit langsam in den Abgrund – der Jemen könnte folgen.

Eine Möglichkeit, weich auf dem Boden zu landen, gibt es für das syrische Regime aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Aus Angst, die Macht zu verlieren und verfolgt zu werden, werden die alevitischen Militärs voraus­sichtlich am jetzigen Präsidenten festhalten. Völlig offen ist dabei, ob die sunnitische Elite, die im Namen der Sicherheit und Stabilität seit vier Jahrzehnten den Präsidenten stützt, dies ebenfalls tun wird – und ob Präsident Assad bereit ist, tiefe und riskante Reformen zu ­wagen.

Dieser Artikel erschien auf dem Blog des Autors: www.joshualandis.com