Mission Mittelmeer

«There is no happy ending ...»

Dienstag, 1. November, 11.01 Uhr

Sich zusammenzureissen wird an Land immer schwieriger. Seit vorgestern sind wir wieder in Malta, nach zwei stürmischen Tagen mit bis zu sechs Meter hohen Wellen und Windstärke 8. Unser Schiff war ein grosser Schüttelbecher, das Salzwasser der Wellen tropfte von der Küchendecke, wenn man aufs Klo ging, schwappte das Wasser aus dem Spülkasten über. Zahnbürsten lagen neben Klobürsten, der Medienraum war mit losen Blättern aus irgendwelchen Ordnern übersät. Es ergab wenig Sinn, irgendetwas aufzuheben und zu versorgen. Nun, im Hafen angekommen, war grosses Reinemachen angesagt. Unsere Nachfolger, Crew 14, liess ausrichten, dass sie das Putzen für uns übernehmen würden. Doch niemand wollte das Angebot annehmen. Das Schiff wieder klarzumachen, alles zu ordnen, zu schrubben, ist auch Psychohygiene und Gelegenheit, der «Sea-Watch 2» etwas zurückzugeben. Sie, die uns so gut durch diese in vielerlei Hinsicht stürmischen Tage getragen hat. Ich erinnere mich an den ersten Tag auf See: Captain Jon sprach, als sei das Schiff ein beseeltes Wesen, dem man Sorge tragen muss. Seit Tagen sehne ich mich nach Zuhause. Doch als wir gestern unsere Sachen packten, an Land gingen, während die neue Crew die Kabinen bezog, war ich doch traurig, die «Sea-Watch 2» im Hafen zurückzulassen.

Jetzt zurück in der Burg. Es ist deutlich kühler, weniger Moskitos. Gestern grosse Debriefing-Runde mit zwei SeelsorgerInnen der SBE (Bundesvereinigung zur Stressbearbeitung nach belastenden Einsätzen e.V.). Es war merkwürdig für mich, dass dieselben Leute sich unter anderem auch um PolizistInnen, die jemanden erschossen haben, kümmern. Aber es war gut, nochmal mit allen in der Runde zusammenzusitzen. Den anderen zuzuhören. Was sie, was uns bewegt hat, was uns bleibt. Am Ende sagten alle, welches Bild sie nach Hause nehmen wollen. Für mich ist es der Vogel auf dem Kopf unseres Gastes vom letzten Gummiboot.

In dieser Runde wurde mir auch nochmals klar, was mich so traurig und wütend macht: Die Gewalt, die diesen Menschen, die über das Meer kommen, widerfährt. In der Nacht mit der libyschen Küstenwache zeigte sie sich bloss in ihrer greifbarsten Form. Es war eine schlimme Erfahrung. Aber ich trauere nicht nur um die Toten, die Menschen, die ihr Leben in jener Nacht verloren haben, die Toten der folgenden Tage, die wir geborgen haben, die Toten, von denen wir nur hören, und jene, von denen wir nichts mitbekommen (immer wieder denke ich auch an das eine Gummiboot am Horizont, das ich zu Beginn unseres Einsatzes mit dem Fernglas im Auge zu behalten versuchte, während wir zu all den näher gelegenen Gummibooten fuhren – irgendwann war es einfach nicht mehr da, verschwunden hinter dem Horizont). Ich trauere auch um die Lebenden.

Sie sehen aus wie Schiffbrüchige in Abenteuerromanen aus dem 19. Jahrhundert. Nur ist wenig Romantisches dabei. Alle barfuss, viele nur mit zerschlissenen Shorts bekleidet, von einem Stück Schnur zusammengehalten. Manche haben nicht einmal das. Die Menschen, die wir in der Nacht mit der libyschen Küstenwache aufgenommen haben, begannen ihr «neues Leben» nackt, in eine gold-silberne Wärmefolie gewickelt, um den Hals eine Schwimmweste. Folie und Weste sind längst zum allgegenwärtigen Symbol dieser sogenannten Flüchtlingskrise geworden. Ich kann sie nicht mehr sehen. Sie widern mich an. Doch es geht nicht ohne sie.

Was ist das für ein «neues Leben», das diese Menschen erwartet? Die grosse Mehrheit unserer Gäste dieser Tage - aus Gambia, dem Senegal, Togo, der Elfenbeinküste, Mali, Nigeria - haben kaum Aussichten auf Asyl in Europa, werden als «Wirtschaftsflüchtlinge» klassifiziert. Selbst wenn sie vielleicht nicht alle vor Gewalt geflohen sind, haben die meisten auf ihrer Flucht Gewalt erlebt. Doch die Gewalt hat in Europa kein Ende. Nach dieser gefährlichen Flucht, in Empfang genommen von Froschmännern und vermummten Wesen in Ganzkörperanzügen, werden sie an Land gebracht und in Lagern gehalten, verwaltet. Von Anfang an wird ihnen verständlich gemacht, dass sie nicht erwünscht sind, dass niemand auf sie gewartet hat. Am Ende steht die Ausschaffung. In der Schweiz wahlweise auch gefesselt, an Füssen, Beinen, Armen und Händen, mit einem Helm und einem über den Kopf gezogenen Spucknetz. Immer wieder dachte ich in diesen Tagen an Joseph Chiakwa. 2010 starb er am Zürcher Flughafen während den Vorbereitungen zu seiner Ausschaffung nach Nigeria, am ganzen Körper gefesselt. Ich weiss nicht viel über ihn. Aber wahrscheinlich ist auch er übers Meer gekommen.

Einzelne Mitglieder unserer Crew sind bereits abgereist. Wir versuchen, die Abschiede kurz und schmerzlos zu halten. Mein Flug ist morgen. Ich sitze auf der Terrasse der Burg, bin zum ersten Mal seit zwei Wochen alleine, der Rest der Crew ist auf einem Stadtspaziergang. In regelmässigen Abständen fährt einer dieser Touristen-Doppeldecker-Busse mit offenem Dach vorbei, vollbesetzt. Wie ein Ende finden für diesen Blog, ein positives, hoffnungsvolles Ende? Vielleicht mit Gedanken an unsere Crew. Crew 13. Viele wollen nächstes Jahr wieder mit auf einen Einsatz mit der «Sea-Watch», zurück an die libysche Küste. Unermüdlich und unverwüstlich im besten Sinne des Wortes. Crew 14 wird dieser Tage in See stechen, Captain Jon geht mit ihnen. Es ist gut, sie da draussen auf dem Meer zu wissen, Ausschau haltend auf Monkey Island. Antonin, der RIB-Fahrer aus Frankreich, mit dem ich jeweils Nachtwache geschoben habe, setzt sich zu mir. Sein Flug geht in zwei Stunden. Wir werden noch eine Runde Backgammon spielen. Aber wie diesen Blog beenden? Antonin: «I think there is no happy ending at the moment.»