Das Franchisensystem: Ist es bösartig?

Zum Arzt gehen oder nicht? Wer seine Franchise erhöht und knapp bei Kasse ist, überlegt sich dies gut und lange. Vielleicht zu lange.

«Auf jeden Fall gilt es, die Eigenverantwortung zu fördern.»
Sozialminister Pascal Couchepin

Rosmarie Kunz* ist nicht zum Arzt gerannt, nachdem sie auf ihrem Arm einen Fleck entdeckt hatte. Beschäftigt hat sie dieses undefinierbare Ding auf ihrer Haut natürlich schon, aber sie spürte keinen Schmerz. In den Zeitungen liest man ja ständig von den explodierenden Gesundheitskosten. Es wird gesagt, zu viele Leute würden zu schnell und zu häufig einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen. Das koste. Zu viel und immer mehr. Die Prämien steigen. Auch deshalb, wird behauptet. Jeder Einzelne müsse sich also am Riemen reissen. Nicht wegen jedem Pipifax zum Arzt. Also ging auch Rosmarie Kunz nicht, als sie ihren Hautfleck entdeckte. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die andere ist die, dass Rosmarie Kunz kurz rechnete und zum Schluss kam, sie hätte gar nicht das Geld, zum Arzt zu gehen. Denn sie hätte die Rechnung selber bezahlen müssen – wegen der Franchise .

Rosmarie Kunz ist kein Einzelfall. Seit die obligatorischen Krankenkassenprämien kontinuierlich steigen und damit die Budgetrealitäten von zig Versicherten übersteigen, passen mehr und mehr Personen genau nach den Vorstellungen des freisinnigen Gesundheitsministers ihre Franchise nach oben an, weil sie damit von einem Prämienrabatt profitieren können. Höhere Franchise gleich tiefere monatliche Kosten.

Auch Anne-Sophie Müller* hats getan. Rauf mit der Franchise und dafür Rechnungen selber bezahlen, bis zu einem Betrag von 1500 Franken. Zwei Arztbesuche musste ihr Budget dieses Jahr bereits verkraften, rund vierhundert Franken. Der Pilz in ihrem Intimbereich, der auch nach dem Arztbesuch noch weiter wuchert, blieb unvermindert unangenehm, noch störender sind manchmal aber die entzündeten Hämorrhoiden, die auch nicht weg wollen. Anne-Sophie Müller, 36 Jahre alt und Akademikerin, ist arbeitslos. Sie sagt sich: «So weh tut es jetzt auch wieder nicht. Ich werde zum Arzt gehen, wenn ich wieder verdiene.» Sie sei schon vorher selten gegangen. Letztes Jahr habe sie auf Rat ihrer Krankenkasse die Franchise aufs Maximum erhöht. Seither schiebt sie auch die fällige Kontrolle bei der Gynäkologin hinaus.

Bundesrat Pascal Couchepin würde vermutlich sagen, Rosmarie Kunz und Sofie Müller seien Personen mit Vorbildcharakter. Sie hätten verantwortungsvoll gehandelt, sich im Bewusstsein der ständig steigenden Kosten, die im Gesundheitswesen zu bewältigen seien, nicht kopflos auf die Untersuchungsliege des nächsten Arztes geschmissen.

Lächelnd Rechnungen bezahlen

Eigenverantwortung: eine Forderung, die die Freisinnigen auch diese Woche wieder bei der Bekanntgabe der Prämien 2005 (durchschnittlicher Anstieg 3,7 Prozent) verkündeten. Nur: Was heisst Eigenverantwortung, wenn es um die Gesundheit geht? Heisst das: nur zum Arzt gehen, wenn es wirklich notwendig ist? Das klingt vernünftig. Aber wer, wenn nicht die Ärztin, kann der verunsicherten Laiin sagen, ob die Inanspruchnahme ihrer medizinischen Kompetenz, ihrer kostbaren Zeit gerechtfertigt ist? Ob der Fleck auf der Haut ganz harmloser Natur ist – oder Symptom eines Krebses? Und Anne-Sophie Müller, handelt sie unverantwortlich, wenn sie das durch den Pilz hervorgerufene Jucken nicht mehr erträgt und deshalb doch noch mal zur Ärztin geht? Die Frage erübrigt sich, weil sie derzeit tatsächlich kein Geld für einen Arztbesuch hat.

Menschen, die wie Anne-Sophie Müller aus Liquiditätsproblemen nicht zum Arzt gehen, sind vermutlich keine Seltenheit, seit es die Möglichkeit gibt, mittels Franchisenerhöhung Prämien zu sparen. Denn von diesem Angebot machen viele Gebrauch: Laut der neusten Statistik des Bundesamtes für Gesundheit haben sich für das laufende Jahr 47,9 Prozent der erwachsenen Versicherten für eine höhere Franchise entschieden, 16,3 Prozent davon für die höchstmögliche. Es ist ein verlockendes Angebot, aber nur wer lächelnd «eine Rechnung über tausend Franken ist doch kein Problem» sagen kann, kann es sich auch leisten, frei von finanziellen Ängsten medizinische Abklärungen und Hilfe in Anspruch zu nehmen – wohl wissend, dass innerhalb des Franchisenbereichs jede Rechnung selber zu bezahlen ist.

Moralische Appelle

Die linke «Vereinigung unabhängiger Ärztinnen und Ärzte» (VUA) ist nicht begeistert von diesem Franchisensys­tem. Schon vor zwei Jahren schrieb das VUA-Mitglied Christian Jordi in der Mitglieder-Publikation «Soziale Medizin»: «Abbau des Leistungskataloges, Erhöhung der Franchisen, Privatisierung öffentlicher Spitäler und Subventionen für Privatkliniken begrenzen den Zugang einkommensschwacher Schichten zur Gesundheitsversorgung.»

Für die Ärzte der VUA ist der Appell an die Eigenverantwortung Teil der unter dem Freisinnigen Couchepin fortschreitenden Ökonomisierung der Gesundheit. Jordi: «Es wird so getan, wie wenn medizinische Leistung ein Genuss wäre, von dem die Patienten nicht genug bekommen können. Durch moralische Appelle an die ‹Selbstverantwortung› und höhere Selbstbeteiligung sollen die PatientInnen vom Genuss dieser Leis­tungen abgehalten werden. Aus meiner ärztlichen Erfahrung weiss ich, dass dies dazu führt, dass Konsultationen zu spät erfolgen und die verspätete Diagnostik unter Umständen negative Folgen auf den Heilungsverlauf hat.» – Aber gibt es nicht viele Menschen, die wegen jeder Kleinigkeit zum Doktor rennen? Ein biss­chen Fieber, und schon haben sie Angst, todkrank zu sein. Oder sie machen in kurzen Abständen Generaluntersuchungen zur Früherkennung von Krebs – was, so heisst es mittlerweile, gar nicht unbedingt lebensverlängernd ist.

«Stimmt, Früherkennung ist umstritten», sagt Christina Schlatter, Oberärztin an der Frauenklinik des Unispitals Zürich. «Es ist eine Illusion zu glauben, bei einem jährlichen generellen Check-up könne man sich versichern, nicht an Krebs zu erkranken. Es gilt zu differenzieren zwischen den verschiedenen Krebsarten. Beim Brustkrebs zum Beispiel sind die Gynäkologinnen mehrheitlich der Meinung, dass sich ein Screening ab fünfzig Jahren lohnen würde. Eine solche Reihenuntersuchung wird aber in der Schweiz nicht gemacht, unter anderem weil der Nutzen schwierig zu beweisen ist. Meiner Ansicht nach soll ein gesundes Gesundheitssystem aber jedem, der Angst hat, etwas sei nicht in Ordnung, die Möglichkeit einer Konsultation bei der Ärztin geben.»

Schlatter fragt: «Was versteht Couche­pin eigentlich unter Selbstverantwortung?» Und antwortet gleich selber: «Für mich beinhaltet dieser Begriff die Aussage ‹Medizin ist Luxus, sei doch vernünftig!› Die Politiker versuchen immer, das Gesundheitswesen auf marktwirtschaftliches Denken umzupolen. Aber was man messen kann, sind nur die direkten Kosten – und auch die nur relativ. Und noch etwas: Gesundheit
und medizinische Versorgung sind ein Grundbedürfnis. Darauf haben alle ein Recht.»

Aber dieses Recht kostet mittlerweile ein paar Franken mehr, als den Leuten gut tut. Rosmarie Kunz wartete lange, bis sie einen Arzt aufsuchte, aber als ihr anhaltend ungutes Gefühl sie letztendlich – Geld hin oder her – doch in eine Praxis trieb, war es schon zu spät. Der schwarze Fleck auf ihrem Arm bedeutet, dass Rosmarie Kunz fortgeschrittenen Hautkrebs hat.

* Namen geändert.

Franchise

Wer bei der Krankenkassenprämie einen Rabatt erhalten will, hat die Möglichkeit, die Franchise hinaufzusetzen – also jenen Kostenbetrag, bis zu dem man für die Arzt- und Medikamentenrechnungen selber aufkommt. 300 Franken Franchise sind das obligatorische Minimum, die obere Grenze wird per 2005 von 1500 auf 2500 Franken angehoben. Hinzu kommt der Selbstbehalt, der ab dem Moment, in dem die Franchise ausgeschöpft ist, zum Zug kommt. Habe ich also – bei der Maximalfranchise – 2500 Franken an Arzt- oder Spitalrechnungen selber bezahlt, muss ich bei der nächsten Rechnung trotzdem noch zehn Prozent (bis maximal 700 Franken) selber berappen.