Die Geschichte von Winterthur: Die Zeit nach den Fabriken

Luxuswohnungen für Yuppies oder Lebensraum für alle? Die ehemalige «Sulzer-Stadt» Winterthur nach der Desindustrialisierung.

Jeden Tag sehen die WinterthurerInnen, dass es vorbei ist mit der Industriestadt: Das Sulzerhochhaus von 1968, lange Zeit das höchste Gebäude der Schweiz, steht leer und dunkel. Nur ganz oben, im 24. Stock, brennt manchmal Licht: Dort hat der neue Besitzer, der schwerreiche Bruno Stefanini, sein Büro eingerichtet. Eines Abends bekam er unerwartet Besuch von jungen Leuten, die ihm erklärten, das Hochhaus sei für drei Tage besetzt.

In einem Communiqué kritisierten die BesetzerInnen die momentane Stadtentwicklung: «Die weniger finanzkräftigen WinterthurerInnen kommen in den Plänen der Stadtentwicklung nicht vor und haben anscheinend keinen Wert für diese Stadt und werden höchstens erwähnt, wenn von Problemfällen und Problemquartieren die Rede ist», heisst es darin. Und: «ArbeiterInnen, die zur wirtschaftlichen Entwicklung gebraucht wurden, sind heute überflüssig und werden verdrängt. Andere Lebensmodelle sind schwer realisierbar. Industrieareale werden zwar umgenutzt, leider allergrösstenteils zu rein kommerziellen Zwecken, nur der so genannte Gewinn im finanziellen Sinn zählt, die Chance, Neues zu versuchen, wird verpasst. Die Stadt verliert an Farbe, an Ecken und Kanten.»

Unternehmer gegen Mietskasernen

Noch 1850 bestand Winterthur nur aus der Altstadt und einigen wenigen Gewerbeliegenschaften vor den ehemaligen Stadtmauern. Dann begann die Stadt mit dem Textil- und Schwerindustrieboom schnell zu wachsen. Aber nicht schnell genug: In der Stadt und im damals noch selbständigen Vorort Töss gab es bald nicht mehr genug Wohnungen für die vielen ArbeiterInnen. Hier begann in Winterthur eine Sonderentwicklung. Anders als in anderen Industriestädten wie Zürich engagierten sich nämlich nicht die Gemeinden im Wohnungsbau, sondern fast ausschliesslich Private. Ab 1865 liessen Rieter und die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM) in der Nähe ihrer Fabriken Arbeiterhäuschen nach englischem Vorbild bauen. 1872 gründeten wohlhabende Bürger die Gesellschaft für Erstellung billiger Wohnhäuser (GebW) – nicht aus Menschenliebe, sondern weil sie sozialen Unruhen vorbeugen wollten. Der grösste Teil des Häuserbaus war aber in der Hand von Privatunternehmern.

Bereits 1860 schrieb der Unternehmer Heinrich Rieter dem Stadtrat einen Brief, in dem er sich gegen die «Erbauung von Arbeiter-Quartieren (Casernen-System), wo sehr viele Leute unter einem Dach leben», aussprach. Seine Ansicht setzte sich schliesslich durch. Ausser hinter dem Bahnhof entstanden in Winterthur keine neuen städtisch wirkenden Quartiere, sondern überall freistehende Ein- und Mehrfamilienhäuser oder Reihenhäuser mit Pflanzland zur Selbstversorgung.

Das Verschwinden der Industrie

Anfang des 20. Jahrhunderts kam es auch in Winterthur zu Arbeitskämpfen – der Generalstreik von 1918 wurde von den FabrikarbeiterInnen fast geschlossen eingehalten, im gleichen Jahr erreichten engagierte Frauen aus Winterthur und Zürich mit einer Hungerdemonstration die Senkung des Milchpreises. Erst mit Arbeitsfrieden, Aufschwung und Konsumgesellschaft wurden die WinterthurerInnen die braven und firmentreuen FrühaufsteherInnen, die dem Klischee entsprachen. Sulzer wuchs und wuchs, übernahm in den sechziger Jahren SLM und Escher-Wyss und beschäftigte allein in Winterthur 14000 Personen. Doch dann folgten die ersten Krisen, die Produktion wurde zuerst nach Oberwinterthur verlegt und 1992 schliesslich ganz eingestellt. Übrig blieben zwei riesige leere Industrieareale.

Sulzer wollte das Areal Stadtmitte zuerst abreissen und ein völlig neues Quartier bauen, wogegen sich vor allem Winterthurer ArchitektInnen und der Industriehistoriker Hans-Peter Bärtschi wehrten. Ein anschliessend präsentiertes Umnutzungsprojekt der Stararchitekten Jean Nouvel und Emmanuel Cattani scheiterte an der Finanzierung. Seither werden die ehemaligen Fabrikhallen einzeln und ohne Gesamtkonzept verkauft und vermietet – an die Zürcher Hochschule Winterthur, verschiedene kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und Immobilienfirmen, die Luxuslofts bauen. Immer noch stehen viele Hallen leer oder werden für absurde Zwecke genutzt, die historisch interessante älteste Maschinenfabrik von 1861 zum Beispiel als Parkhalle. Nichtkommerzielle Zwischennutzungen gibt es keine, die Preise sind viel zu hoch.

Aufwertung und Verdrängung

Seit dem Niedergang der Industrie hat sich die Bevölkerungsstruktur in den traditionellen Arbeiterquartieren Töss und Tössfeld stark verändert. Sulzer und die GebW haben viele Häuser an Private verkauft, deren Mieten danach für ehemalige ArbeiterInnen nicht mehr zu zahlen waren. Gleichzeitig wurden mit der Stilllegung des Rangierbahnhofs die Quartiere an der Bahnlinie attraktiver. Nach Aussagen von Hans-Peter Bärtschi fand eine «eigentliche Segregation» statt: In alle ruhigen Quartiere im inneren Tössfeld und im alten Kern von Töss zog der Mittelstand ein. An der Autobahn und direkt an der Zürcherstrasse, der verkehrsreichsten Strasse der Stadt, die das Quartier zerschneidet, wohnen hingegen praktisch nur noch arme AusländerInnen. Töss und Tössfeld werden also von zwei völlig verschiedenen sozialen Gruppen bewohnt, die höchstens beim Einkaufen im Zentrum Töss miteinander Kontakt haben. In Oberwinterthur sei die Entwicklung ähnlich, wenn auch nicht so krass ausgeprägt, sagt Bärtschi.

Heute liegt das Steueraufkommen Winterthurs weit unter dem Kantonsdurchschnitt. Oberstes Ziel des Mitte-links-Stadtrates ist es deshalb, «die Steuerkraft markant zu erhöhen». Vor allem Stadtpräsident Ernst Wohlwend (SP) wiederholt das an jeder öffentlichen Veranstaltung. An einem KMU-Apéro im Februar erklärte Wohlwend, «treue Steuerzahler aus dem oberen Segment» erhielten von der Stadt einen Dankesbrief.

Um den «guten Steuerzahlern» passende Wohnungen zu bieten, bemüht sich der Stadtrat zurzeit, mehrere stadteigene Baulandareale am Stadtrand an private Investoren zu verkaufen. Ausserdem will die Stadt das Arch-Areal beim Bahnhof, auf dem heute das ehemalige Volkshaus und das städtische Parkhaus stehen, an die Halter Generalunternehmung verkaufen. Auf dem Areal soll ein Einkaufszentrum mit Luxuswohnungen entstehen. Die Alternative Liste (AL) hat gegen den Verkauf das Referendum ergriffen.

Wohlwends Werbeaktion zielt auf Yuppies, die im Grossraum Zürich arbeiten und ruhig, aber dennoch «urban» wohnen wollen – die guten S-Bahn-Verbindungen machen es möglich. Inzwischen hat sich die Zürcher Wohnungsnot ein Stück weit auch nach Winterthur verlagert. Auf die Kritik der HochhausbesetzerInnen sagte Wohlwend, die Stadt habe ja reagiert und es würden günstige Wohnungen gebaut. Mit den zwei Grossüberbauungen von Leopold Bachmann in Wülflingen und Hegi, wo verhältnismässig günstige Wohnungen entstanden sind (rund 1500 Franken Miete für drei Zimmer), hat die Stadt aber gar nichts zu tun. Trotz grossen Nachteilen – Autobahn- beziehungsweise Bahnlärm und schlechte Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr – waren beide neuen Wohnquartiere schnell vermietet. Aber für viele WinterthurerInnen sind auch sie noch viel zu teuer.

Um Investoren entgegenzukommen, sind dem Stadtrat auch zweifelhafte Mittel recht: Letztes Jahr erliess er zwei kurz nacheinander gebauten Einkaufszentren in Hegi die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP). Die Verkaufsflächen beider Komplexe liegen knapp unter den 5000 Quadratmetern, ab denen eine UVP obligatorisch ist – das grössere, der Hegi-Märt, gerade um vier Quadratmeter. Die Gebäude liegen nebeneinander und haben eine gemeinsame Tiefgarage; trotzdem folgte der Stadtrat der Argumentation des Investors, die beiden Häuser hätten nichts miteinander zu tun, und niemand gehe in beide nacheinander einkaufen. Dieses seltsame Argument überzeugte den Regierungsrat nicht; Mitte März 2004 hiess er eine Verbandsbeschwerde des VCS gut. Bauherr der beiden Einkaufszentren ist die Halter Generalunternehmung, die auch auf dem Arch-Areal bauen soll.

Der Ärger des Planers

Dem Architekten und Planer Mario Rinderknecht ist der öffentliche Raum schon lange ein Anliegen. Als er Ende der fünfziger Jahre am Technikum Architektur studierte, war es noch verboten, im Stadtpark auf dem Rasen zu lagern. Deshalb inszenierte er 1960 mit zwanzig Mitstudierenden ein Sit-in auf ebendiesen Grünflächen. Dass damals die Polizei einfuhr, konnte nicht verhindern, dass der Stadtpark später auf Druck der Öffentlichkeit zu einem belebten Ort wurde und die Leute den öffentlichen Raum in Beschlag nahmen. Rinderknecht ist vehement gegen die zunehmende Überwachung und Kontrolle, die diese Entwicklung umzukehren droht. «Stadtentwicklung lässt sich nicht auf Wohnungen und Strassen reduzieren, und ob sich die Leute in einer Stadt wohl fühlen, hängt lange nicht nur vom Gebauten ab», ist er überzeugt. Es gehe um viel mehr, um Kultur, auch alternative, um Reibungsflächen zwischen Menschen. Die Fixierung des Stadtrates auf das Anlocken von «guten Steuerzahlern» findet er «pathologisch». Wie andere Beispiele zeigten, profitierten die Gemeinden oft nicht einmal finanziell davon: Die «guten Steuerzahler» verlangten auch eine entsprechende Infrastruktur – zulasten der Gemeinde natürlich. Und die Zerstörung von billigem Wohnraum bringe der Gemeinde höhere Sozialausgaben.

Für Rinderknecht ist klar: «Es ist nicht die Aufgabe der Stadt, Luxuswohnungen zu pushen.» Mit dem Verkauf des Baulandes gebe sie die letzten Einflussmöglichkeiten aus der Hand. Wenn die Stadt schon nicht selber baue, solle sie zumindest Bedingungen stellen – das Land zum Beispiel nur an Non-Profit-Organisationen wie Wohnbaugenossenschaften abgeben, damit selbst verwaltete Siedlungen, Wohnexperimente, Alterskommunen und Ähnliches entstehen könnten.

Gibt es Alternativen?

Auch in Winterthur gibt es Leute, die alternative Wohn- und Arbeitsformen verwirklichen wollen. Die Vielfalt an selbst verwalteten Kleinbetrieben – das Getränkehandelskollektiv Hako, die Baugenossenschaft Geko, die Buchhandlung Atropa und viele mehr – ist erstaunlich. Aber auch für das alternative Völklein wird der Platz eng. Ein Beispiel eines verhinderten Projekts ist die Jägerstrasse (siehe im Anschluss an diesen Text).

Das Sulzerhochhaus steht nach einem spektakulären Wochenende wieder leer. Trotzdem hat der Winter Spuren hinterlassen. Inzwischen sind wieder mehr Leute daran interessiert, was mit ihrer Stadt geschieht. Die ausserparlamentarische linke Szene ist lebendiger als noch vor ein paar Jahren. Sie wird sich hoffentlich dafür engagieren, dass Winterthur ein Ort zum Leben für alle sein kann und nicht ein Marketingunternehmen, in dem nur Menschen ab einer gewissen Einkommenshöhe willkommen sind

Ein sauberes Stück Schweiz an der Jägerstrasse

Die denkmalgeschützten Arbeiterhäuschen an der Jägerstrasse stehen inmitten von Fabrikhallen. Eine Häuserzeile wurde schon 1997 saniert und wird seither an StudentInnen vermietet. Die restlichen Häuschen blieben Eigentum der Sulzer. Verlottert, aber billig, wurden sie von ausländischen ehemaligen Sulzer- und Rieter-ArbeiterInnen und einigen SchweizerInnen mit wenig Geld bewohnt. Es war ein lebendiges, leicht chaotisches Quartier, in dem sich alle kannten. Im Sommer 2001 kündigte Sulzer den BewohnerInnen. Sie wolle die Häuser verkaufen. Die MieterInnen konnten eine Fristerstreckung bis Sommer 2002 durchsetzen. Die Leute diskutierten weiter, wie sie sich gegen den Rausschmiss wehren könnten. Es habe sehr unterschiedliche Vorstellungen gegeben, sagt eine ehemalige Bewohnerin. Für die meisten ehemaligen ArbeiterInnen sei es einfach zu viel gewesen, zuerst den Job und dann auch noch die Wohnung zu verlieren. Viele hätten am liebsten einfach ihr Haus gekauft, aber Sulzer akzeptierte keine Einzelkäufe. Die linken SchweizerInnen wollten ganze Häuserzeilen kaufen und selbst verwaltet umbauen - möglichst viel selber machen, damit die Miete danach günstig bleiben konnte. Das Ziel, alle zu organisieren, scheiterte jedoch. Die meisten Familien und älteren Menschen ertrugen die Ungewissheit nicht und zogen aus, sobald sie eine halbwegs geeignete Wohnung fanden.

Den verbleibenden BewohnerInnen gelang es, neue Interessierte zu finden. Mit Hilfe der Gesewo (Genossenschaft für selbstverwaltetes Wohnen) stellten sie ein Kaufgesuch an Sulzer. Sulzer gab jedoch der Immobilienfirma Meier und Partner den Zuschlag - obwohl beide Interessenten gleich viel geboten hatten. Sulzer habe wohl einfach nicht so unbequeme Leute im «aufgewerteten» Quartier gewollt, meint die ehemalige Bewohnerin.

Ende 2003 mussten schliesslich die letzten MieterInnen ausziehen, nachdem ihnen Meier und Partner beinahe zu früh Strom und Wasser abgestellt hätten. Was das für ein Quartier werden wird, zeigt die geplante Aufteilung der Gärten hinter den Häusern: Wo vorher eine wilde Wiese war, die alle MieterInnen gemeinsam nutzten und die gross genug war zum Herumrennen und Fussballspielen, bekommt neu jedes Haus ein sauber abgetrenntes, rechteckiges Stück Garten. Wie es halt üblich ist in der Schweiz.