Ein Jahr nach Kriegsbeginn gegen den Irak: Die Bilanz des Scheiterns

Ab Sommer 2002 gehörten die Behauptungen der Regierungen in Washington und London von der Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen und der davon ausgehenden «unmittelbaren Bedrohung» zu den Spitzenthemen in den internationalen Medien. Angesichts der eindeutigen Widerlegung vieler wesentlicher Details dieser Propagandakampagne gerieten beide Regierungen zunehmend in Bedrängnis. Nachdem auch die von der US-Regierung selbst entsandten Rüstungsinspektoren trotz neunmonatiger intensiver Suche im Irak keine Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen oder auch nur von entsprechenden Produktionsanlagen finden konnten, mussten beide Regierungen ihre ursprünglichen Behauptungen immer weiter relativieren und letztlich zurücknehmen.

Das Thema wird weiterhin für Schlagzeilen sorgen. Unter dem Druck der anhaltenden öffentlichen Kritik und bohrender Nachfragen sahen sich sowohl Bush als auch Blair gezwungen, die Einrichtung «unabhängiger» Untersuchungskommissionen zu verkünden. Diese sollen herausfinden, wer für die falschen Behauptungen verantwortlich war, die Washington und London als wesentliche Begründung für den Krieg dienten. Das Ergebnis ist völlig offen.

Abschliessende Untersuchungsberichte werden mit Sicherheit sowohl in Washington wie auch in London erst nach der US-Präsidentschaftswahl Anfang November veröffentlicht werden. Es scheint das Kalkül von Bush und Blair zu sein, den Geheimdiensten mit Hilfe der Kommissionen den schwarzen Peter zuzuschieben und ihre Regierungen damit zu entlasten. Die spannende Frage der nächsten Monate wird deshalb sein, ob und inwieweit die Führungen der Geheimdienste sich diesen Umgang gefallen lassen. Möglicherweise geht die Bereitschaft der Dienste, dieses Spiel mitzuspielen, sehr weit: Die politische Loyalität von CIA-Chef George Tenet gegenüber der Regierung Bush ist mehrfach deutlich geworden.

Denkbar ist allerdings auch, dass die Geheimdienste beweiskräftig offen legen, dass ihre bestenfalls vagen Vermutungen über irakische Massenvernichtungswaffen oder entsprechende Entwicklungsprogramme von den Regierungen in Washington und London zu harten Tatsachenbehauptungen verfälscht wurden – etwa von der Abteilung Office of Special Plans, die US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und sein Vize Paul Wolfowitz im Pentagon einrichteten.

Zu den Fakten, die zumindest gegenüber der breiten Öffentlichkeit weiterhin vertuscht werden, gehört auch die weit reichende Rüstungszusammenarbeit, die die fünf ständigen Mitglieder des Uno-Sicherheitsrates sowie die alte Bundesrepublik bis Mitte 1990 mit dem Regime von Saddam Hussein betrieben haben. Zumeist geschah dies unter Verstoss gegen internationale Rüstungskontrollabkommen und nationale Exportverbote. Die diesbezüglichen Fakten sind umfassend und detailliert im 12 000 Seiten starken Bericht enthalten, den Bagdad Anfang Dezember 2002 dem Uno-Sicherheitsrat übergab. Nach wie vor liegen jene massgeblichen rund 9000 Seiten dieses Berichtes, die die Informationen über die Rüstungskooperation enthalten, nur den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates vor (sowie dem Autor dieses Artikels).

Propagandalüge al-Kaida

Als zweite Rechtfertigung für den Irakkrieg diente die Behauptung, es bestünden Kontakte, Beziehungen und eine Kooperation zwischen dem Regime von Saddam Hussein und dem von Usama Bin Laden geführten Terrornetzwerk al-Kaida. Diese wurde von den Regierungen Bush und Blair auch dann noch aufrechterhalten, als Experten darauf hinwiesen, dass alle Indizien und Erfahrungen der Vergangenheit eher auf eine Gegnerschaft zwischen Saddam Hussein und Bin Laden denn auf eine Zusammenarbeit hinwiesen. Die Regierungen Bush und Blair konnten keinerlei stichhaltige Beweise für ihre Vorwürfe vorlegen. Alle öffentlich erhobenen Behauptungen – wie zum Beispiel die eines Treffens zwischen irakischen Agenten und Vertretern von al-Kaida in Prag – hielten einer Nachprüfung nicht stand und mussten zurückgezogen werden.

Nicht nur bei der Rechtfertigung des Krieges wurde gelogen, auch bei der Bilanzierung der Kriegsfolgen nehmen es die Befürworter der Invasion mit der Wahrheit nicht so genau. Zwar gelang den Streitkräften der Kriegskoalition aufgrund ihrer haushohen Überlegenheit auf sämtlichen militärischen Ebenen zunächst ein schneller Sieg gegen die offiziellen Verbände der irakischen Armee. Doch politisch ist die Bilanz dieses Krieges verheerend. Die Versorgungslage für die Menschen im Irak ist auch zwölf Monate nach dem Angriff immer noch schlechter als vor Kriegsbeginn. Die Aussicht auf eine Befriedung und Stabilisierung der Lage zumindest in absehbarer Zukunft ist gering – ganz zu schweigen von der Errichtung einer Demokratie, mit der Bush und Blair den Krieg zuletzt noch gerechtfertigt hatten. Erst seit dem Krieg und wegen der Besatzung insbesondere durch US-amerikanische Truppen ist der Irak zum Anziehungspunkt und Operationsfeld für ausländische Terroristen geworden. Anders als von Bush und Blair als Kriegsziel proklamiert, ist die Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen – vor allem atomarer – nicht eingedämmt, sondern vergrössert worden. Denn als einzige Versicherung dagegen, Ziel präventiver Kriege der USA zu werden, sehen viele Staaten nur noch die Beschaffung atomarer Waffen.

Eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist durch den Krieg – anders als zuvor von einigen seiner Befürworter in Washington behauptet wurde – nicht erleichtert, sondern erschwert worden. Die finanziellen Kosten des Krieges für die SteuerzahlerInnen der USA sowie die Zahl der toten US-Soldaten sind weit höher, als die Bush-Regierung zuvor glauben machen wollte.

(Noch) kein Flächenbrand

Nicht bewahrheitet hat sich - zumindest bislang – die Warnung, der Irakkrieg werde einen Flächenbrand in der Region auslösen. Und auch die Zahl der unmittelbar im Zeitraum vom 20. März bis 1. Mai 2003 getöteten und verwundeten IrakerInnen ist geringer, als gewisse Szenarien befürchten liessen. Allerdings ist die Zahl von «nur» knapp 13000 getöteten ZivilistInnen überhaupt kein Grund zur Beruhigung. Und Warnungen waren keineswegs «unverantwortliche Panikmache», wie nach Ende des Krieges so mancher seiner Befürworter behauptete. Denn der Krieg hätte durchaus 200000 Todesopfer fordern können, wenn die «Schlacht um Bagdad» tatsächlich stattgefunden hätte.

Die katastrophale Bilanz des Irakkriegs endet auch nicht mit dem Beginn der Besatzung. In den Monaten vor dem Krieg trat US-Aussenminister Colin Powell bei Pressekonferenzen gerne mit seinem Exemplar von Clausewitz «Vom Kriege» auf. Hätten die Mitglieder der Bush-Regierung ihren Clausewitz tatsächlich gelesen und seine Ratschläge befolgt, hätten sie wahrscheinlich manche ihrer verhängnisvollen Fehleinschätzungen vermieden und sich besser auf die Nachkriegssituation vorbereitet. Aber das ist Schnee von gestern. Inzwischen ist die Lage im Irak verfahrener und die Besatzungsmacht steckt tiefer im Dreck, als selbst die schärfsten KritikerInnen vorausgesagt haben. Wenn die Uno bald nach Ende der heissen Kriegsphase im Mai 2003 die volle Verantwortung in allen relevanten wirtschaftlichen und politischen, insbesondere den sicherheitspolitischen Angelegenheiten, übernommen hätte und die Besatzungstruppen abgezogen wären, hätte eine Chance auf eine Befriedung und Stabilisierung der Lage und eine Entwicklung zu einem demokratischen Nachkriegsirak bestanden. Doch je länger die Bush-Regierung eine solche Entwicklung verweigerte, desto geringer wurde diese Chance. Inzwischen ist sie wahrscheinlich völlig vertan, und auch die Uno könnte selbst bei einer vollen Übernahme aller relevanten Verantwortungsbereiche nur noch scheitern.

Anschlag auf das Völkerrecht

Absurde Züge nimmt die gängige Bilanz des Irakkriegs an, wenn es um die Vereinten Nationen geht. Vielfach wird der Krieg pauschal als «Niederlage der Uno» interpretiert. Doch diese oberflächliche Bilanz lässt die entscheidende Phase von Mitte September 2002 bis zum Kriegsbeginn ausser Acht, in denen es den USA und Britannien trotz intensiven Bemühungen nicht gelang, im Uno-Sicherheitsrat eine Resolution zur Kriegsermächtigung durchzusetzen. Aus der Resolution 1441 vom 8. November 2002 lässt sich keine völkerrechtliche Legitimation für den Krieg ableiten. Eine zweite Resolution kam trotz massiver Einschüchterung, Erpressung und Nötigung mehrerer Ratsmitglieder nicht zustande. Zudem sprachen sich bei drei für alle Uno-Mitglieder offenen Debatten des Sicherheitsrates von den über 120 teilnehmenden Staaten jeweils mehr als 90 Prozent entschieden gegen einen Krieg aus. Das muss man als schwere diplomatische Niederlage der USA interpretieren – und als Sieg der Uno über ihr gewichtigstes Mitglied.

Dennoch ist der Irakkrieg der schwerste Anschlag auf das Völkerrecht und auf die Uno seit ihrer Gründung im Jahre 1945. Niemals zuvor ist ein Verstoss gegen das Gewaltverbot der Uno-Charta so kalkuliert und unter so absichtsvoller Missachtung des Willens der überragenden Mehrheit der Uno-Mitgliedstaaten erfolgt. Und erstmals wurde ein Krieg ausdrücklich unter Berufung auf eine militärische Präventivdoktrin geführt. Damit wurden das Völkerrecht und die Institution grundsätzlich infrage gestellt. Doch auf diesen Umstand hat bislang lediglich Uno-Generalsekretär Kofi Annan – in seiner Eröffnungsrede zur Generalversammlung im September 2003 – in annähernd angemessener Deutlichkeit hingewiesen.

Selbst einstmals erklärte Kriegsgegner unter den Uno-Mitgliedsregierungen halten sich mit Kritik an der Präventivkriegsdoktrin wie auch grundsätzlich an der Völkerrechtswidrigkeit des Krieges bislang auffallend zurück. Zudem hat die Option auf den präventiven Einsatz militärischer Mittel (ohne eindeutige Bindung an ein Mandat des Uno-Sicherheitsrates) inzwischen Eingang gefunden in die neue Sicherheitsstrategie der EU. Und bei der derzeit laufenden Neuformulierung ihrer nationalen Militärstrategien planen auch Russland und Frankreich die ausdrückliche Aufnahme präventiver militärischer Handlungsoptionen.

Der Irakkrieg wird also auch in Europa von vielen Militärplanern als Präzedenzfall betrachtet – eine Tendenz, auf die der Uno-Generalsekretär bereits reagiert hat. Ende letzten Jahres setzte Kofi Annan eine Expertenkommission mit dem Auftrag ein, bis zur nächsten Generalversammlung eine Zauberformel zu finden, die präventives militärisches Handeln innerhalb der (unveränderten) Bestimmungen der Uno-Charta regelt. Doch tatsächlich geht es um eine Entweder-oder-Situation. Seit dem Irakkrieg steht die internationale Staatenwelt vor der historischen Alternative: Rückkehr zum Völkerrecht oder Präventivkrieg als Dauerzustand. Ein Kompromiss ist nicht möglich.