Eine Feuerwehrübung für den American Way of Life: Nur nicht zurück ins 20. Jahrhundert

Einerseits ärgere ich mich über die aufgebauschten und apokalyptischen Szenarien, die mit dem schrecklichen Terroranschlag auf das World Trade Center und das Pentagon verbunden werden. Andererseits habe ich den Eindruck, dass die Attentate buchstäblich schlagartig etwas verdichtet und sichtbar gemacht haben, was schon da war: ein weit verbreitetes Gefühl, dass es so nicht mehr weitergehen kann.

1. Ende der sechziger Jahre wurden in den USA vierzig Prozent der Heiratsanträge im Auto gemacht. Dies illustriert vielleicht am anschaulichsten, wie sehr Erdöl das ganze 20. Jahrhundert und vor allem dessen zweite Hälfte geprägt und dominiert hat. Wesentliche internationale Konflikte, insbesondere im Nahen Osten, technische Entwicklung, Massenkonsum und Mobilität, kurz der American Way of Life, sind nicht vom Erdöl zu trennen.

2. Es fällt schwer, das Attentat in den USA nicht in den Zusammenhang der zynischen US-Politik im Nahen Osten zu stellen und sie von der Erfahrung einer ganzen Region zu trennen, die seit dem 19. Jahrhundert das Objekt rücksichtsloser strategischer Entscheide der Grossmächte war. Ebenso strategisch gedacht und rücksichtslos war der Terroranschlag. Die Nahostpolitik ist ohne die technische und ökonomische Bedeutung des Erdöls nicht zu erklären. Es geht nicht nur um die Profite der Ölmultis. In den vergangenen Jahren hat es in verschiedenen Ländern, in denen die Benzinpreise erhöht wurden, Aufstände gegeben, die an die Brotaufstände früherer Zeiten erinnerten.

3. Der immer noch herrschende Fortschrittsoptimismus wäre ohne Erdöl genauso wenig möglich wie – und das sei hier angemerkt – ohne die unbezahlte Arbeit der Frauen. Beliebig ausbeutbare Fremdenergie und beliebig verfügbare und flexible weibliche Arbeitskraft sind die ökonomische Basis des Glaubens an grenzenloses Wirtschaftswachstum und daran, dass es immer irgendwie weitergehen wird und alles nicht so schlimm ist. Solche Zuversicht ist wichtig für das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Geldsystems, ohne sie wäre das Finanzsystem bedeutend instabiler. Diese Zuversicht bröckelt.

4. Zukunftsperspektiven drehen sich heute, falls überhaupt, um ökologische und soziale Nachhaltigkeit, um die natürlichen und sozialen Grenzen des Wirtschaftswachstums und nicht mehr um den American Way of Life für die ganze Welt. Die US-Regierung kürzt nicht zufällig die finanziellen Beiträge an diejenigen Uno-Organisationen am radikalsten, die sich mit dieser Einsicht befassen und neue Perspektiven entwickeln. Bushs inzwischen fallen gelassener Name des geplanten Feldzugs, «Infinite Justice», assoziiert nicht nur den rächenden Gott des Alten Testaments, er erinnert auch an den illusorischen, aber schönen säkularen Traum vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Dieser Traum soll notfalls mit Gewalt aufrechterhalten werden.

5. Als die Öl produzierenden Länder 1973 den Ölpreis gegen den Willen der westlichen Weltmarktelite innerhalb von drei Monaten von 2.90 Dollar pro Fass auf 11.65 Dollar erhöhten, nahmen wir dies in der Linken als bahnbrechende Veränderung wahr. Das erste Mal in der Geschichte des Kapitalismus diktierten Länder des Südens einen Rohstoffpreis. Dies bewirkte eine schwere Wirtschaftskrise, aber auch die ersten Anstrengungen westlicher Regierungen, Energie spa- rende Techniken zu fördern. Die Rede war von neuen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Nord und Süd, und die Uno spielte bei der Ausarbeitung entsprechender Beschlüsse und Konventionen eine wichtige Rolle.

6. Die Schuldenkrise vieler Länder des Südens hat diese weltpolitische Entwicklung gestoppt und eine schreckliche Version kapitalistischer Entwicklung eingeläutet. Der Preis des Erdöls ist wieder auf dem Stand von 1973, die Preise für andere Rohstoffe fielen ins Bodenlose. Was dies bedeutet, zeigt eine kürzlich publizierte Studie der Uno-Wirtschaftsorganisation Unctad. Darin findet sich die Einschätzung, dass in den Ländern des südlichen Afrika auf einen Nettokapitalimport von 100 Dollar gegenwärtig 106 Dollar wieder aus den Ländern hinausfliessen: 51 Dollar aufgrund der Verschlechterung der Austauschverhältnisse zwischen exportierten Rohstoffen und importierten Industriegütern (Terms of Trade); 25 Dollar aufgrund des Schuldendienstes und der Gewinnrückführung und 30 Dollar aufgrund von Kapitalflucht und andern Transfers. Wären die Rohstoffpreise noch auf dem Niveau von 1980, läge das Pro-Kopf-Einkommen der AfrikanerInnen um die Hälfte höher. Heute verdienen Universitätsprofessoren in vielen afrikanischen Ländern nicht einmal mehr genug, um sich das Abonnement einer Fachzeitschrift leisten zu können. Das war in den siebziger Jahren anders.

7. Eine Wirtschaftskrise könnte die US-Regierung und andere dazu verleiten, sich für Krieg zu entscheiden. Krieg hilft, die Opferbereitschaft und Disziplinierung der Bevölkerung durchzusetzen und harte sozialpolitische Massnahmen zu legitimieren. Aber die Rüstungsindustrie ist heute kein so bedeutsamer Wirtschaftsmotor mehr wie früher. Die für den Krieg notwendigen Ausgaben könnten, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, wesentlich wirksamer für soziale Projekte, für Marshallpläne in den verarmten, politisch und sozial zerrütteten Ländern des Südens eingesetzt werden. Das wäre eine wirtschaftlich vernünftige Alternative zur aktuellen Krise. Die nordwestlichen Regierungen, ob sozialdemokratisch oder konservativ, scheinen jedoch nur noch in der Lage zu sein, für Kriege, Repression und ziemlich hoffnungslose Feuerwehrübungen Geld ausgeben zu können. Das haben sie schon im Fall des Balkans bewiesen.

8. Immerhin gibt es von der Weltmarktelite nicht nur Schlechtes zu vermelden: Die BörsenhändlerInnen haben bisher nicht so enthusiastisch wie früher auf martialische Kriegserklärungen von US-Regierungen reagiert. Das zeigt, dass viele von ihnen wahrscheinlich wesentlich globaler denken als die nationalen Regierungen. Wenn ganze Weltregionen in Aufruhr und weitere in die Zerrüttung getrieben werden, dann kann dies nicht ohne schwere ökonomische Folgen bleiben. Zu viele Regionen befinden sich gegenwärtig in einer prekären ökonomischen Lage. Vielleicht ist dies ein Faktor, der uns hilft, einen Krieg zu verhindern: einfach, dass ein Krieg für die Wirtschaft sehr riskant ist.

9. Situationen, in denen das Alte nicht mehr glaubwürdig, das Neue noch kaum sichtbar ist, sind sehr gefährlich. Insbesondere wenn Staatsmänner ihre Ratlosigkeit hinter kriegerischem Imponiergehabe verstecken. Wir scheinen uns heute in einer solchen Situation zu befinden.