Italien: Proteste gegen Militarisierung und Berlusconi: Zivilisiert gegen unzivilisiert

Silvio Berlusconi blieb zunächst erstaunlich sachlich: Die Anschläge gegen das World Trade Center und das Pentagon seien gegen die USA gerichtet, nicht gegen Italien. Seine Koalitionspartner von der rechtsextremen Alleanza Nazionale (AN) dagegen sahen die gesamte «Zivilisation» bedroht. Der Terror bestätigte aus Sicht der NeofaschistInnen, was sie, lange vor Samuel Huntington, gesagt hatten. Dass der «Kampf der Kulturen» unvermeidlich sei, gehört schliesslich zu den ideologischen Grundüberzeugungen der Partei Gianfranco Finis. In Carlo Ciampi, dem laut Verfassung über den Parteien stehenden Staatspräsidenten, fand Fini einen Bruder im Geiste. Ciampi, ein früherer Christdemokrat, reihte sich in die Schar derer ein, die nicht nur Terroristen dingfest machen, sondern die «zivilisierte Welt» gegen die «Unzivilisierten» schützen wollen.

Offen rassistisch äusserten sich AnhängerInnen der Lega Nord. Auf einem Plakat der «Volontari verdi» («grüne Freiwillige», so genannt wegen der grünen Hemden der Lega) prangte der Spruch «clandestini = terroristi islamici». «Illegale» Einwanderer und islamische Terroristen sind für diese Leute ein und dasselbe. Der von der Lega Nord gestellte Sozialminister, Roberto Maroni, versuchte den Vorfall herunterzuspielen. Dabei legte er auf seine Weise noch einmal nach. Im Interview mit der Tageszeitung «La Stampa» betrachtete er es als «erwiesen», dass es unter den «Illegalen» Terroristen gebe. Die Lega eröffne eine neue Hexenjagd, konterte der Linksdemokrat Gavino Angius. Und ein Sprecher von Rifondazione Comunista warf Minister Maroni vor, er nutze die Anschläge in den USA, um ein rassistisches Klima im Lande zu schüren. Er hob hervor, dass die Zahl der von Italienern an Nichteuropäern begangenen Gewalttaten ansteige, nicht umgekehrt.

Vertreter islamischer Gemeinden berichten, sie seien seit dem 11. September vermehrt Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt. Eine Woche nach seinem Aufruf zur Verteidigung der «Zivilisation» sah sich Staatspräsident Ciampi gar genötigt, Menschen islamischen Glaubens gegen pauschale Verdächtigungen in Schutz zu nehmen. In derselben Ansprache bekräftigte er aber auch die Entschlossenheit Italiens, an der Seite der USA den internationalen Terrorismus zu besiegen.

Dass Solidaritätserklärungen an die US-amerikanische Adresse nicht ausreichen und Italien sich notfalls auch militärisch engagieren muss, ist in der Regierungskoalition unumstritten. Die oppositionelle Zentrumslinke ist in ihrer grossen Mehrheit für einen militärischen Beitrag Italiens zum Kampf gegen den Terrorismus. Umstritten ist, ob das Parlament dem ausdrücklich zustimmen müsste. Die Regierung Berlusconi möchte den entsprechenden Verfassungsartikel am liebsten umgehen. Dies wäre von grundsätzlicher Bedeutung.

Die Anschläge von New York und Washington dienen der rechten Koalition auch zur Begründung weiterer zwielichtiger Vorhaben der Regierung. So sollen jetzt Armee, Polizei und Geheimdienste mehr Befugnisse und Mittel erhalten, um der «terroristischen Herausforderung» trotzen zu können. Was die Höhe des Verteidigungsbudgets im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt angeht, rangiert Italien innerhalb der EU bislang an letzter Stelle. Die zusätzlichen Gelder werden in Italien kaum für die äussere Landesverteidigung gebraucht und fliessen wohl eher in einen Staatsterrorismus, wie er sich in Genua zeigte.

Aber über die Vorgänge von Genua redet heute kaum noch jemand. Die Anschläge in den USA haben die innenpolitischen Themen in den Hintergrund gedrängt. Die Regierungskoalition hat den Bericht des parlamentarischen Ausschusses über die Ereignisse während des G8-Treffens angenommen. Der Bericht, vorgetragen vom Berlusconi-Vertrauten Donato Bruno, lässt fast alle Fragen offen und macht die Linke und das Genoa Social Forum für die Gewalttaten verantwortlich. Der Gegenbericht der sozialdemokratischen Opposition hält Innenminister Claudio Scajola für die Eskalation verantwortlich; Gianfranco Fini habe vor Ort in Genua diese höchstpersönlich betrieben.

Nach Genua wurden neben dem Italia Social Forum in vielen Grossstädten und Provinzen weitere Gruppen der GlobalisierungsgegnerInnen gegründet. Aber der Fahrplan für einen erhofften «heissen Herbst» ist mit dem 11. September durcheinander geraten. Die Nato hat ihr für den 26. September in Pozzuoli (bei Neapel) geplantes Aussenministertreffen nach Brüssel verlegt. Die OrganisatorInnen der Gegenaktivitäten wollen trotzdem in Neapel demonstrieren, um wieder in die Offensive zu kommen. Denn die Anschläge gegen die USA haben auch die italienische Protestbewegung überrascht. Erste Demos in vielen Städten waren geprägt von Entsetzen und von der Verurteilung des Terrorismus.

Inzwischen ist die Warnung vor einer kriegerischen Eskalation in den Vordergrund getreten. Das Milano Social Forum etwa demonstrierte unter der Losung «Für den Frieden, gegen Krieg, Terror und Militarismus». Das Torino Social Forum machte zusätzlich die nun betriebene «Einschränkung demokratischer Rechte» zum Thema. Darunter fällt auch der von der Regierung am 13. September verabschiedete Entwurf für ein verschärftes Einwanderungsgesetz. Danach darf, wer nicht aus einem Staat der EU stammt, nur einwandern, wenn ein Arbeitsplatz nachweisbar ist. Ausweisungen sollen erleichtert werden. Wer ein drittes Mal ohne gültige Aufenthaltspapiere erwischt wird, kann bis zu vier Jahre ins Gefängnis wandern.

Im Oktober findet der traditionelle Friedensmarsch zwischen Perugia und Assisi statt, angesichts der Weltlage ist eine Rekordbeteiligung zu erwarten. Aber auch an den absehbaren Protesten gegen die Regierung während der Haushaltsberatungen im Herbst werden besonders viele Menschen teilnehmen. Die Anschläge von New York und Washington, so schockierend sie auch sind, haben – anders als etwa in Deutschland – in Italien nicht zu Hysterie geführt. Der Ausspruch «Wir alle sind Amerikaner» ruft hier nur Kopfschütteln hervor.