Kraftwerk 1: Guten Morgen, Ex-Utopie!

Die heilige Therese hat Recht: Die realisierte Utopie ist immer eine Ex-Utopie. Es ist kein Wunder, dass die Entstehung des Zürcher Wohnprojekts Kraftwerk 1 sich ausgerechnet den Kräften verdankte, gegen die es sich richtete: Profitum, Pragmatismus, Geld und der Immobilienkrise.

Diese Krise explodierte – nach fast 30 Jahren fetter Hochkonjunktur – in den achtziger Jahren: in einer schweineteuren, schweinesaturierten, schweinevollgepflasterten Stadt. Chaos, Punk, Dilettantismus, Stilmix, Siff und Piraterie waren die Antwort auf unbezahlbare Räume, Sauberkeit und Karrieremodelle, die so vorhersagbar waren wie ein mit Bigbandmusik bedudelter Lift.

Drogen, Abstürze, Kleinkollektive, Depression blieben von der Revolte übrig, als ein toller, blutiger Sommer vorbei war. Einer der wenigen Versuche, aus der Praxis in die Theorie zu entfliehen, erschien 1983: «bolo’bolo», eine Utopie des (unorthodoxen) Marxisten P.M., der für 1990 eine Welt von Kleinquartieren vorhersagte: Es verkaufte sich gut.

Zehn Jahre später, P.M. hatte als Prognostiker versagt, erschien ein weiteres Buch, «Kraftwerk», das die Utopie in Westentaschenformat beschrieb: die Möglichkeit, wenn die Restwelt schon nicht Vernunft annahm, wenigstens ein einzelnes bolo zu bauen: ein Haus, gross wie ein Quartier, in dem im Prinzip vom Baby bis zum Aufgebahrten, vom Gurkenhändler bis zur Elektronikspezialistin alles drin sein sollte, was man zum Leben brauchte: inklusive eigene Währung.
Am 30. Juli 1995, als von 26 Leuten eine Genossenschaft gegründet wurde, waren schon Abstriche gemacht, die Währung etwa war weggefallen, dafür herrschte ein koketter Pragmatismus vor: Das 700 Personen-Quartier Kraftwerk sei «null Utopie, sondern eine nahtlose Anpassung an die Gegebenheiten» (siehe WoZ Nr. 30/95), und man rechne bei der Durchsetzung nur auf 100 Millionen Argumente – in Franken.

Trotzdem blieb das Grunddilemma von Huhn und Ei: dass kein Geld aufgetrieben werden konnte, bevor nicht ein Areal da war, und kein Areal aufzutreiben war ohne Geld.

Hier halfen Rezession und Immobilienkrise: Im Industriequartier waren die Preise wegen des Überangebots an Büroraum in den Keller gefallen, und die Gläubiger sassen auf riesigen Brachflächen Konkursmasse fest.

Mit List, Tücke, Privat- und Genossenschaftsdarlehen, Krawattentragen und fleissig verkauften imaginären Wohnungen arbeitete die Kraftwerk-Genossenschaft einen Vertrag mit Grundstücksbesitzerin und Generalunternehmung Allreal aus. Es war ein Treffen zwischen ehemaligen Feinden: Allreal gehörte damals noch der Waffenschmiede Oerlikon Bührle – einem der traditionellen Hassobjekte der Linken. Die Kosten betrugen für das Land 10 und für den Bau 50 Millionen Franken. Ab 1998 wurde gebaut.

Das Resultat weist gegenüber der nüchternen Projektskizze 1995 weitere Abstriche auf: Zwar gibt es ein Restaurant, das Nicht-Köchen die Küche ersetzt, aber kein riesiges, nicht für 24 Stunden offen und auf privater Basis, Kandidatlnnen für die geplanten Alters-WGs wurden nicht gefunden, ein selbstversorgerisches Joint-Venture mit Bauernhöfen wurde fallen gelassen. Ebenso wurden die Wohnungen fertig gebaut, statt die BewohnerInnen in den Innenausbau einzubeziehen, etc.
Was blieb, war eine abgespeckte Variante von 300 BewohnerInnen in 100 Wohnungen in vier Häusern, rund 100 Arbeits- und Büroplätze, die Grundidee, möglichst viele verschiedene Wohn- und Lebensformen unter einem ökologisch vernünftigen Dach zu haben und ihre Voraussetzung: Synergien ermöglichender, physischer Gigantismus.

Nun, man hatte es geschafft, zwanzig Jahre nach der initialen Revolte, unter dem Einsatz von Kompromissen, Finanzplänen, Disziplin und harter Arbeit. Bleibt nur noch die Frage nach dem Resultat.

Physischer Gigantismus

Und diese Frage lässt sich nur physisch beantworten. Architektur wie soziale Konstrukte sind komplexe Probleme, ihr Resultat. ist allerdings körperlich erfahrbar. Gute Absichten, clevere Pläne zählen nichts. Sondern nur das, was Häuser und Städte, Firmen, Familien, Gesellschaften abstrahlen. Der Sinn von Politik, Architektur, Wirtschaft und Stadtplanung ist das Leben, das man darin führt: Ist es Terror, Gutgelauntheit, Bedrückt- oder Freiheit?

Konkret: Kraftwerk 1 sieht nicht im Geringsten so aus wie auf dem Papier – dort ist es ein förderungswürdiges Experiment mit interessanter Geschichte. Wie kühn, wie gewagt, wie clever es ist, merkt man erst, wenn man es sieht. Es ist ein monströser Gigant: Das Haupthaus, ein achtstöckiger, finsterer Klotz, sieht aus wie ein Ozeandampfer, umkreist von drei orangen Frachtschiffen. (Man selbst hat ungefähr Ruderbootgrösse.) 60 Millionen Kosten, 400 BenutzerInnen, 10 Jahre Lebenszeit der Planerinnen, Fotos und Konzepte – das alles sagt nichts, verglichen mit der donnernden, physischen, schnickschnacklosen Grösse: Hier ist nicht klein gedacht, nicht klein geplant worden, hier ist nichts Mickriges: Hier steht ein echtes Wagnis. Zu denken, dass das alles einmal nur ein verdammtes Buch war, nimmt einem den Atem.

Im Inneren ist es ein Labyrinth: interne Gänge, zahllose Treppen, Briefkastenbatterien, x Lifte, (davon einer gross genug für einen Sarg), darüber eine fussballfeldgrosse Dachterrasse mit einem Helikopterblick über eine ungeheure, besiedelte Stadt: Kraftwerk 1 ist grosse Maschine. Das Erstaunliche daran ist, dass es gleichzeitig corbusierhaft und verspielt ist: ein Mix aus Nüchternheit, Sichtbeton und Humor.

Letzterer kommt dadurch, dass jede Wohnung und Tür durch ein Fenster, geformt wie eine horizontale Schiessscharte, mit dem Gang verbunden ist. Man sieht einen Ausschnitt Innenleben oder dessen Tarnung. Selten ging man neugieriger durch ein Treppenhaus, selten lohnte es sich mehr. Die Wohnungen sind sehr verschieden gross und gebaut: von der Einzimmerzelle bis zur dreistöckigen Maisonette-WG. Das Riesenhaus ist extrem clever geschnitten, die Geschosse gegeneinander versetzt: dadurch entstehen interne Treppen und an den Fensterfronten überhohe Räume.

Der Witz am Kraftwerk-Gigantismus ist – so zwei Mitglieder der achtköpfigen Kerngruppe, die wahnhaft über Jahre, seltsamerweise ohne Spaltung, Fraktionsbildungen, grössere Absprünge an dem Projekt arbeitete -, «dass man mit völlig verschiedenen Leuten unter einem Dach wohnen kann» (Ruth Weiss auf der Dachterrasse), bzw. «die Herausforderung liegt darin: Was ist das Verhältnis zwischen möglicher Anonymität und einer gewissen Nähe? Ich habe den Wunsch, allein zu sein, ich habe das Bedürfnis, sozial zu sein. Kraftwerk als Projekt ist gross genug, beide Bedürfnisse zu erfüllen» (Tomi Geiger vor einer extrem knoblauchhaltigen Pizza).

Das soziale Event soll – anders als bei Kommune-Ideen – nicht durch Organisation, sondern durch Architektur gewährleistet werden. Es gibt die gigantische Terrasse, die Gangfenster, einen Kinderhort und einen -garten, das Restaurant, eine gemeinsame Bar, einen gegenüberliegenden (auf teurem Boden gebauten) ebenerdigen superfeudalen, supergrossen Waschsalon, daneben ein Schneideratelier, zwei Gemeinschaftsräume, eine buchbare Gästewohnung, Mobility Car Sharing, ABER keine für alternative Projekte so typischen Zwangssitzungen – (so der Architekt Andreas Hofer, der zusammen mit seinem Andreas-Vornamensvetter Wirz zehn Jahre seines Lebens in einen superkomplexen grössenwahnsinnigen Albtraum von tausenden von Details investierte, von denen jedes einzelne teures Geld kostete).

Superkomplex sollte auch die Durchmischung der BewohnerInnen sein. In der Praxis allerdings – die Mieten sind nicht niedrig, aber o.k., der Einstandspreis happig – existieren schwere Befürchtungen: Kraftwerk als SP-AL-Kuchen, als Freelancer-Sammelbecken und Pseudointellektuellen-Mittelschicht-Ghetto. Diese Befürchtungen stammen nicht zuletzt von, linken, freelancenden, pseudointellektuellen Mittelschichtlern, die im Obrigen meistens a) nett, b) von einem netten Bekanntenkreis linker, freelancender, pseudointellektueller Mittelschichtler umgeben sind. (ACHTUNG: HIER FOLGT GLEICH EIN WICHTIGER AUFRUF!) Dazu nur so viel: 1. Zürich ist eine reiche Metropole. Es gibt verdammt viel Mittelschicht. 2. Von der Entstehungsgeschichte her – Kraftwerk ist ein linkes Projekt und es brauchte Geld von zukünftigen MieterInnen – ist verdammt viel AL-SP-Klientel kein Wunder. 3. Alters- und einkommensmässig ist die BewohnerInnenschaft trotzdem nicht schlecht durchmischt: zirka von der Millionärin bis zur Punk-WG. 4. Es gibt einen obligatorischen Solidaritätsfonds für Einkommensschwache. 5. Kraftwerk rekrutierte bei sozialen Institutionen auch NichtmittelstandsmieterInnen, die sonst nie von dem Projekt gehört hätten – etwa kinderreiche AusländerInnenfamilen oder zwei Behinderten-WGs. 6. Kennzeichen von Kraftwerk sind, so Andreas Hofer, «viele WoZ-Abonnemente». Und WoZ-LeserInnen seien «ja auch ziemlich verschieden». Eine Nachprüfung der WoZ ergab übrigens einen extrem netten Abend in fünf sehr verschieden grossen Wohnungen mit sehr verschiedenen Alkoholika und höchst verschiedenen Kritiken an der WoZ, der nachts um halb drei endete. (UND HIER DER AUFRUF – BESONDERS AN EUCH IN DER 23-LEUTE-UND-13-WOZ-ABONNEMENTS-WG – ABER AUCH AN ALLE ANDEREN: LEGT UM HIMMELS WILLEN DIE ABONNEMENTE NICHT ZUSAMMEN. BEWAHRT EURE INDIVIDUALITÄT, KÜNDIGT NICHT! WIR HUNGERN SONST HIER!)

«Das Projekt», so der Autor P.M. mit einer frechen, blauen Designerbrille, «kann natürlich schief gehen – etwa ein Altersheim der neuen ledergerberischen Mittelschichten werden. Aber es ist ein Experiment in die richtige Richtung. Was die Utopie betrifft: Ich jedenfalls erwarte, dass sehr viel gestohlen, sehr viel missbraucht und sehr viel kaputtgehen wird. Dann heisst es wieder: Guten Morgen, Realität. Trotzdem: Mir ist soziale Stimulation wichtiger als die fast schon obligate soziale Dysfunktion.» – «Klingt pessimistisch.» – «Wenn man keine Angst vor der Gesellschaft hat, ist man naiv und bodenlos verloren. Ich jedenfalls freue mich trotzdem.»

Also: Klappt es? Was wird als Erstes gestohlen? Welche sonstigen sozialen Dysfunktionen tauchen auf? Wird Kraftwerk dynamisch? Oder werden alle fett, alt, langweilig und SP werden?

Antworten gibt es nur a) in der Praxis, also b) in der Zukunft und somit c) demnächst in dieser Zeitung. Einstweilen bleibt nur das Kompliment – und das Staunen über die Komplexität, den Mut und die gelassene Cleverness des Projekts. Therese von Lisieux hat oft Recht, nicht immer.