Nach den Attentaten in New York und Arlington: Bin Laden und Palästina

Auch dass Bin Laden ein saudischer Abtrünniger ist, macht ihn noch lange nicht zum Verbündeten des palästinensischen Widerstandes.

Henryk M. Broder zitiert in einem gehässigen Artikel in der neusten Ausgabe des Nachrichtenmagazins «Spiegel» die palästinensische Flugzeugentführerin Leila Khaled mit dem Satz: «Ich war nie eine Terroristin, ich war eine Freiheitskämpferin.»

Der Artikel ist mit einem Bild von der diesjährigen 1.-Mai-Kundgebung in Zürich aufgemacht, das Leila Khaled – sie ist Mitglied des palästinensischen Nationalrats – als offizielle Rednerin zeigt. Broder schreibt: «Es gibt ein Milieu in Europa, das den Einsatz von Feuerwerkskörpern zu Silvester unschön findet und den Staatsterrorismus verurteilt, aber für individuelle Akte des Terrors durchaus Sympathien empfindet, vorausgesetzt, sie spielen sich nicht vor der eigenen Haustür ab, sondern im Baskenland, in Irland oder Palästina.» Diesem Milieu unterstellt Broder, dass es die Anschläge in den USA mit dem «Kampf der Dritten Welt gegen die Erste» in Zusammenhang bringe und dadurch wenn nicht rechtfertigt, so doch mit einer Aura des Verständnisses und der Nachsicht umgibt.

Dass Khaled am 1. Mai in Zürich auftrat, geht auf den Vorschlag und die Kontakte Marc Rudins zurück. Rudin arbeitete in den achtziger Jahren in Beirut als Grafiker für die zur PLO gehörende Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP). 1997 kehrte er in die Schweiz zurück. Rudin schliesst nicht aus, dass Usama Bin Laden der Urheber der Anschläge in den USA ist.

«Vielleicht sehen viele Menschen in ihm ein Symbol im Kampf zwischen Dritter und Erster Welt», sagt Rudin, «aber als antiimperialistischen Kämpfer würde ich ihn nie bezeichnen. Er ist eine Figur der US-Geheimdienste und der arabischen Reaktion. Diesen Begriff hört man hier in Europa oder in den USA nie. In den arabischen Ländern, bei den Palästinensern und den Menschen in den besetzten Gebieten ist dieser Begriff völlig geläufig. Er bedeutet eine klare politische Zuschreibung und markiert eine Trennlinie zwischen der Politik Saudi-Arabiens und anderer Golfmonarchien und dem Kampf der arabischen Völker um die nationale Befreiung.» Die Situation ist vergleichbar mit der europäischen im 18. und 19. Jahrhundert, in denen die europäische Reaktion – Habsburger Monarchie, Preussen und der Zarismus – den bürgerlichen revolutionären Staaten gegenüberstand.

«Vor ein paar Tagen», sagt Rudin, «habe ich gelesen, dass eine Palästinenserin in Deutschland wegen Billigung eines Verbrechens angezeigt worden ist. Leute des Norddeutschen Rundfunks waren nach den Anschlägen in den USA in ein Lager für Asylsuchende gegangen und hatten ihr das Mikrofon hingehalten. Es gibt keine palästinensische Familie, die in den letzten zwanzig Jahren nicht durch israelische Bomben oder Kugeln Angehörige verloren hat. Es ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich, dass diese Frau das brennende Pentagon und die in sich zusammenfallenden Bürotürme wie das Wahrwerden von während Jahren aufgebauten und hilflosen Rachefantasien erlebt hat.»

Er könne sich vorstellen, fährt Rudin weiter, dass viele Menschen im Nahen Osten im ersten Augenblick sogar gedacht haben, die Attentate seien von Leuten aus ihren Reihen durchgeführt worden, und dass sie dabei Stolz empfunden hätten. «Aber», sagt Rudin, «die gleichen Leute haben im nächsten Moment schon gewusst, dass sie es sein werden, die die Folgen zu tragen haben, wenn sich der Verdacht einer islamischen oder arabischen Täterschaft erhärtet. Die gleichen Leute haben keinen Moment vergessen, dass es zwischen ihnen und den Taliban in Afghanistan keine Gemeinsamkeit gibt. Das politische Bewusstsein im Nahen Osten ist hoch entwickelt. Dass die arabische Reaktion Israel als ihren Feind bezeichnet, hat noch nie jemanden über das saudische Doppelspiel hinweggetäuscht. Auch dass Bin Laden ein saudischer Abtrünniger ist, macht ihn noch lange nicht zum Verbündeten des palästinensischen Widerstandes.»

Rudin ist überzeugt, dass diese klare Abgrenzung auch für die islamischen Organisationen im Nahen Osten gilt, Hamas und Dschihad in Palästina, Hisbollah im Südlibanon. Hamas, sagt Rudin, sei zwar aus der Muslimbrüderschaft hervorgegangen, habe sich aber in den letzten Jahren stark von den ideologischen Fixierungen gelöst und eine an den Alltagsproblemen in den besetzten Gebieten orientierte Politik verfolgt. «Hamas und Dschihad sind religiös geprägt, in vielen Fragen – wenn ich an die Rolle der Familie und die Stellung der Frau denke – sind sie sehr konservativ», sagt Rudin. Das Gegengewicht zu ihnen bildeten die linken Organisationen, die PFLP und die Demokratische Volksfront DFLP.

Im Schatten des aktuellen Kriegstreibens der USA sieht Rudin die Gefahr einer Eskalation im Nahen Osten. Rudin rechnet mit vermehrten Selbstmordaktionen, aber auch gezielten militärischen Aktionen vonseiten linker Gruppierungen. Angriffe auf Zivilpersonen als «Terrorismus der Verzweiflung» zu bezeichnen, findet Rudin falsch. Er sagt: «Die Unterscheidung zwischen Angriffen auf Militärs und politisch Verantwortliche einerseits und willkürlichem Terror gegen die Bevölkerung andererseits ist eine Unterscheidung, die in der Geschichte immer nur, und sehr bewusst, von den Linken gemacht und gefordert wurde. Ausserhalb des linken Spektrums wird diese Frage gar nicht aufgeworfen, weil Israel als eine Einheit verstanden wird und nicht als eine Gesellschaft, die sich aus Klassen, Schichten und Gruppen mit gegensätzlichen und unterschiedlichen Interessen zusammensetzt.»

Entgegen Broders eingangs zitierten Unterstellungen war die Sympathie, die die 68er-Bewegung der PLO und dem palästinensischen Befreiungskampf entgegenbrachte, nicht von der Diskussion um die Berechtigung von Gewaltanwendung und Formen berechtigter Gewalt zu trennen. In der Schweiz waren es vor allem die Progressiven Organisationen Schweiz (Poch), die die Palästina-Solidarität zu einem Eckpfeiler ihrer Politik machten.

Thomas Heilmann, der heute beim Zürcher Rotpunktverlag arbeitet, sagt: «Die Palästina-Solidarität wurde Anfang der achtziger Jahre schwieriger aufgrund der verwirrlichen innerarabischen Gegensätze und des Bürgerkrieges im Libanon. Entscheidend aber war 1989 das Wegbrechen des sozialistischen Lagers. Die Schoah, die bis dahin im Kontext des antifaschistischen Kampfes interpretiert worden war, wurde als Holocaust in eine ahistorische Perspektive gerückt. Antizionismus in Europa wurde in der Folge immer mehr mit Antisemitismus identifiziert. Henryk M. Broder, der früher zur deutschen Spontiszene gehörte, hat dabei entscheidend mitgewirkt.»

Lucio Giugni war von 1981 bis 1989 Basler Poch-Sekretär. Für Giugni ist es das Verdienst der 68er-Generation insgesamt, die Existenz und die Forderungen der Dritten Welt ins Bewusstsein der europäischen und nordamerikanischen Öffentlichkeit gebracht zu haben. Zur Frage, weshalb Palästina für die Poch so zentral war, sagt Giugni: «Weil sowohl für die traditionelle wie für Teile der neuen Linken die Palästinenserfrage unbequem war. Man wollte nicht wahrnehmen, dass die Gründungsakte Israels ein Volk, nämlich das palästinensische, entrechtet hatte. Heute anerkennt die ganze Welt die Rechte des palästinensischen Volkes und die PLO als dessen rechtmässige Vertretung. Dass es überhaupt Palästinenser gibt, erfuhr ich durch die Berichte über die Flugzeugentführung, an der Leila Khaled beteiligt war.»

Auf die Frage, weshalb die Palästina-Solidarität in den achtziger Jahren eingeschlafen sei, sagt Giugni: «Vom Moment an, in dem Arafat in den achtziger Jahren mit dem Bundesrat, dem deutschen Kanzler und dem US-Präsidenten direkt reden konnte, brauchte es keine Vermittler mehr. Beim PLO-Kongress 1989 in Alger, bei dem die Zweistaatenlösung angenommen wurde, hatte ich die starke Vermutung, dass es in diesem Moment schon Geheimverhandlungen zwischen Israel und der PLO gab. Das Osloer Abkommen bestätigte meine Vermutung, und ich hätte mir eine solche Lösung gewünscht.»

Giugni macht kein Hehl aus seiner Befürchtung, dass eine solche Lösung heute in weite Ferne gerückt ist. Wie für Heilmann ist für Giugni 1989 der entscheidende Moment. Er sagt: «1989 war eine Revolution, aber nicht unsere. Wir waren überzeugt, dass die Ideale der französischen Revolution – minus Kolonialismus plus Wohlstand für alle – eine Perspektive für alle Menschen auf der Erde sein könnten. Wir selbst setzten auf Demokratie und Sozialismus. In den Bewegungen von Südkorea bis Berlin haben die Menschen nach 1989 klar gemacht, dass sie Demokratie, Wohlstand und eine bessere Welt für ihre Kinder wollen. Sozialismus war für sie aber keine Perspektive mehr, er war zu sehr diskreditiert.

Was aber hatten die europäischen und nordamerikanischen Eliten nach dem Sieg über den Kommunismus anzubieten? Nicht Demokratie und Wohlstand für alle, sondern schnelles Geld für wenige. Es entstand ein immenses Vakuum, und grosse Teile der Welt wurden in einen katastrophalen wirtschaftlichen Niedergang gerissen. Dies hat den Heilsverkündern aller Art und den Warlords riesige Räume für ihre Machenschaften geöffnet. Etwas weiss ich: Es gibt heute viel mehr junge Leute auf der Welt, die gebildet und informiert sind, als zur Zeit, als ich Kind war. Was wir und sie nicht brauchen, ist ein weiterer Krieg.»