New York einen Monat nach dem Anschlag: Entmischte Gefühle im US-Fahnenmeer

Vor dem 11. September 2001 hat sich New York kaum als normale amerikanische Stadt empfunden. Das hat sich umfassend gewandelt. Wie ist es um den Handlungsspielraum einer Linken in Zeiten des allgemeinen Konsenses bestellt?

«Gemischte Gefühle», das war meine Daueransage, fragte man mich einmal mehr, wie ich denn meiner Reise nach New York entgegensehe, so kurze Zeit nach dem 11. September. Die Antwort schien präzise wiederzugeben, was sich «in mir» abspielte. Doch ihre Metaphorik ist ungenau. Denn die «Gefühle» (und Gedanken) «mischen» sich weniger, als dass sie neben- und gegeneinander arbeiten, sich fortwährend «entmischen». Die Eindrücke, die ich an mir selbst und in der Welt sammle, scheinen keine Synthese mehr zu erlauben. Sie verharren im Zustand der Unvereinbarkeit, sie fusionieren nicht, sondern koexistieren: widersprüchlich, heteronom, asymmetrisch.

Die ausführlichen Sicherheitskontrollen am Frankfurter Flughafen (bereitwillig liess ich mich ein-, zwei-, dreimal durchsuchen) – habe ich sie nicht als ungemein beruhigend empfunden? Die gelben Bundesgrenzschutz-Banderolen an den Henkeln meines Handgepäcks – trug ich sie nicht wie Abzeichen meiner Legitimität, meiner solcherart verbürgten Harmlosigkeit?

All diese Massnahmen erhöhter Alarmbereitschaft fütterten das individuelle und allgemeine Phantasma der Sicherheit, das durch die Hinweise auf Sicherheitsmängel in seiner Wirkung nur gesteigert wird. Es hat sich fest in meiner aktuellen Existenzform eingenistet. Unmittelbar benachbarte Räume in diesem Haushalt namens «Selbst» sind dagegen der Kritik an der Konsensproduktion in Kriegszeiten, an der Suspendierung von Widerspruch, an der geräuschlosen Einführung polizeistaatlich-militärischer Verhältnisse und anderer Auslöser des Zweifels vorbehalten.

In New York eingetroffen, wird dieses Nebeneinander widersprüchlicher Perspektiven nochmals verschärft. Die Sonne scheint auch an diesem 4. Oktober, der Herbst präsentiert sich mit sommerlichen Temperaturen. Ich bin dafür dankbar, obwohl ich genau weiss, wie hervorragend das New Yorker Wetter am 11. September gewesen ist.

Neue, alte Eindeutigkeiten

Die Ansichten der Stadt sind durchsetzt von US-Fahnen. Es ist, als durchquerte man ein gigantisches, vieldimensionales Jasper-Johns-Gemälde. Fahnen erscheinen in allen denkbaren Kontexten. Als Wimpel an Taxis, als mächtige Textil-Murals an Brandmauern, als Anstecker an Hemdkragen, als Schleifen am Revers, als beiläufig ans Deli-Fenster geklebte Pflichtdekoration, als schäumende Patriotismusshow in der Auslage eines Luxusporzellangeschäfts, als blauweissrot beleuchtete Spitze des Empire State Building. Und man wird mir berichten, dass das hier noch gar nichts sei im Vergleich zu den Suburbs, wo Fahnen in jedem, wirklich jedem Vorgarten stehen, wo kein Fenster unbeflaggt bleibt.

Dies soll, unterschiedlichen BeobachterInnen zufolge, schon seit Mittwoch, dem 12. September, der Fall gewesen sein. Andere erinnern sich, das Fahnenmeer, besonders in New York, mit Verzögerung wahrgenommen zu haben. Nämlich erst, als der erste Schock sich gelegt hatte und die Medien und die Regierung anfingen, für die nationale Sache zu mobilisieren. Trotz dieser Instrumentalisierungen erscheint die Botschaft der millionenfachen Fahneneinsätze immer noch uneindeutiger als erwartet.

Die Rachegelüste, die unverhohlen aufblitzen, wo sich hinter dem Tresen eines Coffeeshops nicht nur zahlreiche Stars & Stripes in verschiedenen Varianten, sondern auch das Konterfei Bin Ladens findet (übermalt mit einem Fadenkreuz), bilden ein vergleichsweise lesbares Zeichenensemble. Doch mindestens ebenso häufig ist mir ein Umgang mit der Fahne begegnet, der weniger Gesinnung als Gedenken signalisiert. Immer wieder mutiert die Fahne hier von einem Symbol der Stärke und Souveränität zu einem Fanal der Ohnmacht und Verwundbarkeit (und zurück). Sogar im Büro des Geschäftsführers einer Kunstzeitschrift, deren MitarbeiterInnen sich zweifelsfrei dem linken Spektrum zurechnen, entdecke ich zwei Papierflaggen, die in einer Vase stecken, während wir uns über den entsetzlichen politischen Backlash in Amerika unterhalten, der nach dem 11. September eingesetzt hat. Die Fahne ist nicht reserviert für die «we stand united»-Propaganda, sondern oft genug Ausdruck einer diffusen, ungerichteten Reaktion auf die Ereignisse: Werkzeug des hilflosen Versuchs, mit der eigenen Hilflosigkeit und Angst semiotisch zurechtzukommen.

Seit Beginn der Militärschläge gegen Afghanistan freilich scheinen die Ressourcen eines nichtnationalistischen Fahnengebrauchs erschöpft. Die merkwürdige Ambivalenz, die die US-Fahne in widersprüchlichen sozialen, kulturellen und ästhetischen Kontexten angenommen zu haben schien, und mich in meiner Lektüre dieses Symbols schwanken liess, wird aufgelöst und in neue, alte Eindeutigkeiten überführt.

Als ich mich – mit «entmischten Gefühlen» – am Sonntag, 7. Oktober, zum Ort der Katastrophe vom 11. September begab, kollidierte das Unvereinbare ein weiteres Mal. Ich tauchte ein in den Strom der TouristInnen, die wie ich zum «ground zero» pilgerten, um sich entlang der weiträumigen Absperrungen ein Bild zu machen. Ich traf auf Abordnungen von patriotisch entschlossenen US-BürgerInnen, die Bürgermeister Giulianis Aufruf gefolgt waren, nach New York zu kommen und Geld auszugeben. Eine grosse Gruppe in «Oregon § New York»-T-Shirts begegnete mir am gleichen Tag noch einmal: Auf einem lokalen New York Kabelsender erzählten die Mitglieder stolz, dass jedeR von ihnen an diesem Wochenende durchschnittlich für 2000 Dollar konsumiert habe.

Souvenirs vom Nullpunkt

Trauer, Neugier, Schaulust, Zorn, Angst weigerten sich wie Öl und Wasser, zu einer einheitlichen Emotion zusammenzufliessen. Wenige weinten an diesem Sonntag, viele zückten die Kameras. Dabei gab es kaum etwas zu sehen (was ja besonders erschütternd ist, denn bis vor vier Wochen standen dort, wo jetzt alle hinstarrten, auf der Suche nach einer greifbaren, mit den vielen fotografischen und televisuellen Bildern vergleichbaren Impression, die beiden WTC-Türme). Doch die «eigentliche» Unglücksstelle ist unzugänglich abgeriegelt. Die hölzernen Absperrungen einer Firma mit dem sprechenden Namen «National Rent-A-Fence» schoben sich ins Blickfeld; dazu die vielen Verkaufsstände mit «Attack on America»-Souvenirs; die improvisierten Gedenkstätten im Umkreis des Nullpunkts, mit ihren Kinderzeichnungen und «New York endures»-Parolen; die Soldaten der Nationalgarde in ihrem Hummer-Militärfahrzeug (das Seitenfenster ihres Hummer-Militärfahrzeugs schmückt ein «Don’t mess with the US»-Aufkleber) im Plausch mit NYPD-Beamten.

Während ich mit den anderen TouristInnen des Schlachtfelds an der Ecke Broadway und La Maiden den einzigen Blick auf die verbliebenen, inzwischen emblematischen Reste der WTC-Fassade erheische und entgeistert das Innere des Schuhladens Easy Spirit betrachte, in dem der Staub noch unberührt, wie in einem Schrein, auf den Möbeln und den Waren liegt, laufen die Meldungen über die nächtlichen Bombenangriffe auf die Taliban-Stützpunkte ein. Zurück in meinem Hotelzimmer in Midtown, im zwölften Stock, zeigt ABC zum ersten Mal die Bildkonserve von Osama Bin Laden, der der Welt weitere Terroranschläge androht. Ein Kampfjet donnert über den Dächern Manhattans vor meinem Fenster hinweg. Die Sonne scheint einfach weiter, unverdrossen.

Am Abend dieses Tages steht Sonic-Youth-Gitarrist Thurston Moore auf der Bühne des Bowery Ballroom und erzählt, wie seine Band am Nachmittag zum Motiv für die Sightseer in der «Zone» geworden ist. Ihr Übungsraum liegt in dem abgesperrten, für Privatautos unzugänglichen Gebiet. Die fünf Mitglieder (inzwischen zählt Jim O’Rourke fest dazu) mussten ihre vielen Gitarren zu Fuss an den Absperrungen vorbeitragen, was angesichts der fehlenden Horrormotive für die PassantInnen ein willkommenes Bild abgab. Aber Moore wehrte sich dagegen, die Szene lediglich als Beispiel für den Zynismus eines neuen Katastrophen-Sensationalismus abzutun. Er habe den Eindruck gewonnen, die BesucherInnen der Stätte des Angriffs würden kommen, «um etwas Gutes zu tun», gemeinsam, wenn auch in den hergebrachten Formen des Tourismus.

Sonic Youth hatten diesen Konzertabend sehr kurzfristig organisiert. Hastig promoted, aber wie vieles, was derzeit in der Stadt geschieht – als Benefizveranstaltung. Das Eintrittsgeld geht an einen Hilfsfonds der NYWF (New York Women’s Foundation), der zur Unterstützung der ärmeren und sozial schwachen WTC-Opfer und deren Angehöriger eingerichtet worden ist, sowie an eine Organisation, die Empowerment-Projekte der hispanischen Community fördert. Neben Sonic Youth selbst treten unter anderen Tom Verlaine, Catpower und die Schriftstellerin Eileen Myles (in Begleitung von Kim Gordon, Jim O’Rourke und DJ Olive) auf. Das ausverkaufte Haus erlebte einen bewegenden Abend voll sorgfältig verstecktem Pathos. Und ohne eine einzige Fahne.

Auf dem Rückweg mache ich einen Abstecher zum Union Square. Hier hatte sich in den Tagen nach dem 11. September eine spontane, vielschichtige, ideologisch uneinheitliche Gedenkpraxis entwickelt. Ausserdem war der Platz zu einem der Versammlungsorte der verschiedenen Anti-War- Organisationen geworden, die sich hier mit antirassistischen Gruppen treffen. Die Memorials mit handschriftlichen Trauerbekundungen, politischen Äusserungen, Flugblättern, Fotografien sind jedoch in regelmässigen Razzien von der Stadt gegen den Widerstand der Gegenöffentlichkeit, die sich hier formiert hat, entfernt worden. Tag für Tag wird seitdem gegengehalten. Hartnäckig insistieren immer neue Memorials darauf, Beachtung zu finden. Auch in dieser Nacht, obwohl am nächsten Tag wieder das Räumkommando anrückt.

Was ist Vergebung?

Beharrlichkeit ist dringend geboten in Kriegszeiten. Besonders wenn man, wie die Antikriegsbewegung, von einem systematischen Totschweigen der Demonstrationen gegen den Konsens des «new normal» (CNN) betroffen ist. Chris Winter, Mitarbeiter des NYC Independent Media Center, der lokalen Indymedia-Filiale, spricht von einer «beleidigenden» Abwesenheit der Berichterstattung nicht nur in den elektronischen, sondern auch in den Printmedien. Im winzigen Büro der Organisation in der 29. Strasse kritisiert der vollkommen übermüdete Aktivist das verheerende «Mut-Vakuum» in den Redaktionen der grösseren Zeitungen und TV-Redaktionen, geisselt den manipulativen Einsatz von Umfragen, die von angeblich 92 Prozent KriegsbefürworterInnen in den USA künden (was aber lediglich einer bestimmten Fragetechnik zu verdanken ist), und spricht von der offensichtlichen Verflechtung von ökonomischen und militärischen Interessen bei der gezielten Destabilisierungspolitik von USA und Nato im Mittleren und südlichen Osten.

Auf die Frage, wie er die Verwandlung der Bewegung der GlobalisierungskritikerInnen zu einem Anti-War-Movement beurteilt, antwortet er: «Wir haben schon seit langer Zeit gegen diesen Krieg organisiert und mobilisiert, wir haben ihn kommen sehen. Automatisch wurde das Momentum der Antiglobalisierungsbewegung, die sich nach Genua und im Vorfeld des – inzwischen abgesagten – Weltbank-Gipfels in Washington aufgebaut hatte, umgelenkt.» Dann gibt mir Winter noch Hinweise auf einen Videoabend mit Paper Tiger Television (wo dokumentarisches Material zu den antirassistischen und Antikriegsdemonstrationen der letzten Wochen gezeigt wird) sowie auf einen grossen Demonstrationszug am 13. Oktober, der am Washington Square startet. Hier soll zunächst die Frage «Was ist Gerechtigkeit?» aus einer antiautoritären Perspektive diskutiert werden.

Einige Tage vor dieser Veranstaltung findet, ebenfalls am Washington Square, im Raum 405 des Hauptgebäudes der NYU, ein Seminar des französischen Philosophen Jacques Derrida zur Frage «Was ist Vergebung?» statt. Ohne ein einziges Mal konkret auf die historischen Umstände einzugehen, gelingt es Derrida, ein schillerndes Panorama von Reflexionen über die «Ökologie und Ökonomie des Vergebens» zu entfalten, in dem jeder Satz auf die Situation in der Stadt und in der Welt Bezug zu nehmen scheint. Gerade weil er sich den Aporien von Schuld und Vergebung nicht verschliesst, sondern sie im Gegenteil radikal öffnet, legt Derrida damit auch das Programm einer entschlossenen Entmischung der Fragen und Empfindungen vor, eine Anleitung zum Denken des Paradoxen, die derzeit äusserst angemessen wirkt – zumal dort, wo es darum geht, wirksame, neue Formen politischer Praxis zu entwickeln. Kurz vor Ende seines dreistündigen Vortrags schreibt Derrida – auf Deutsch – den Satz «Das Überunmöglichste ist möglich» an die Tafel. Die Losung dieser Tage?