US-Wahlen: Der Protest der alten Dame

Betty Hall aus meinem Nachbardorf Brookline ist 83 Jahre alt, klein, zierlich und politisch äusserst robust. Seit mehr als einem halben Jahrhundert bekleidet sie öffentliche Ämter in der Region. Sie ist eine unerbittliche Wächterin über die Einhaltung demokratischer Spielregeln. Wenn nötig, meldet sie sich höflich, aber bestimmt zu Wort. Ihre hartnäckigen Fragen haben zum Beispiel die Mauschler in unserer Schulbehörde, die sich beim Neubau der Middle School die eine oder andere Gefälligkeit erwiesen hätten, derart in Rage gebracht, dass sie die starrsinnige alte Dame wüst beschimpften – wofür sie sich in der Lokalzeitung entschuldigen mussten.

Am 25. März dieses Jahres traf Betty Hall auf George Bush. Beinahe jedenfalls. Der Präsident ging in Nashua, New Hampshire, diesem halb republikanischen, halb demokratischen Einzelstaat, auf Stimmenfang. Die Demokratin Hall wollte sich das, mit einem Anti-Bush-Plakat in der Hand, aus der Nähe ansehen. Mehrmals folgte sie der Aufforderung der örtlichen Polizei, sich weiter weg hinzustellen. Aber als die Sicherheitskräfte sie in den «Käfig» einweisen wollten – den bei Bush-Auftritten üblich gewordenen abgetrennten Sperrbezirk für Protestierende, auch «Redefreiheitszone» genannt –, weigerte sie sich. Sie blieb auf ihrem Campingstuhl sitzen und liess sich von zuvorkommenden und etwas verlegenen Polizisten wegtragen und in die Gefängniszelle bringen. «Ich glaube nicht, dass die Wegweisung legal war», sagte Hall nach ihrer Verhaftung.

Am vergangenen Freitag nun, kurz vor einem erneuten Bush-Blitzbesuch in Nashua zum Auftakt des Republikanischen Konvents, bekam Betty Hall Recht: Sie wurde von der Anklage wegen Störung der öffentlichen Ordnung freigesprochen, weil man ihr, wie der Bezirksrichter sagte, keine kriminellen Absichten und auch keine massgebliche Beeinträchtigung der motorisierten Bush-Eskorte vorwerfen konnte.

«Grossartig, ich lebe immer noch in einem freien Land», freute sich die Aktivistin nach dem Urteil. Doch der Triumph der Demokratie war von äusserst kurzer Dauer. Schon am Montag danach war das Sicherheitsszenario des Kriegspräsidenten, der sich den Teufel um Hall’sche Demokratiekriterien schert, wieder perfekt. Und obendrein legalisiert: Zwar verletzt ein Protestplakat in Sichtweite von George Bush kein Gesetz in New Hampshire. Aber auf nationaler Ebene wurde prompt ein Paragraf «Title 18, Chapter 203, Sec.3056» ausgegraben, der den Geheimdienst ermächtigt, den Präsidenten zu beschützen – und zwar so, wie er es für richtig hält. Wer sich mit den Sicherheitsagenten anlegt, macht sich automatisch strafbar. Tausend Dollar Busse sowie bis zu ein Jahr Gefängnis drohen widerspenstigen alten Damen und anderem ungebetenem Besuch.