Wir wollen alles und zwar subito. Teil XII: Zürich wurde Teil vom Rest der Welt

Richard Wolff. Geb. 1957 in Erlenbach bei Zürich. Geograf. Experte für Fragen der Stadtentwicklung und Organisationsberater. Wurde am 21. April 2013 für die Alternativen in den Zürcher Stadtrat gewählt.

Richard Wolff im Jahr 2000: «Es geht auch heute noch darum, die Grundangst vor Systemkritik zu überwinden» (Bild aus Privatarchiv)

Mein Vater stammt aus einer Fabrikantenfamilie aus Norddeutschland. Er kam 1936 in die Schweiz, in ein Internat in St. Gallen. Als Jude konnte er in Deutschland nicht mehr zur Schule gehen. Nach dem Krieg studierte er in Deutschland Betriebswirtschaft und war darauf sein ganzes Leben lang in verschiedenen Grossfirmen tätig. Bis zwölf wusste ich nicht, dass mein Vater jüdisch war und mein Grossvater und andere Verwandte von den Nazis ermordet worden waren. Meine Mutter kommt ebenfalls aus Deutschland, stammt aber aus einer christlichen Familie. Ihr Vater war Oberregierungsrat. Natürlich fragte ich mich, was er während des Krieges gemacht hatte. Ich weiss, dass er kein Nazifreund war und seine Frau aus einem streng katholisch-konservativen Haus kam und die Nazis hasste. Meine Eltern lernten sich in den fünfziger Jahren in Deutschland kennen, heirateten und zogen in die Schweiz.

Was gaben dir die Eltern mit auf deinen Weg?
Bildung ist das Einzige, das dir niemand wegnehmen kann. Das haben mir sowohl meine Eltern als auch mein christlicher Grossvater immer wieder gesagt. Er hatte sein gesamtes Vermögen zweimal verloren, durch die Geldentwertung in den zwanziger Jahren und durch den Krieg. So hiess es bei mir zu Hause: «Lern etwas Gescheites! Das ist die beste Versicherung fürs Leben.»

Wie warst du als Kind?
Ich war ein Einzelkind und habe deshalb immer Freunde gesucht. Weil wir aber viel zügelten, war ich im Grunde immer einer «von aussen». Zuerst ging es von Erlenbach nach Schwamendingen, dann nach Venezuela, wo wir zweieinhalb Jahre blieben, und dann wieder zurück nach Zürich, wo ich nach einem halben Jahr Sekundarschule in die Mittelschule kam. Durch einen Schulfreund wurde ich in den jüdischen Jugendbund eingeführt. Es war eine lässige Clique. Wir trafen uns auch ausserhalb des Jugendbundes. Wir zogen miteinander herum: in die Jugendhäuser, ins Café Maroc oder im Sommer an die «Riviera» beim Bellevue.

Wie wurdest du politisiert?
Zu Hause lief immer der Fernseher, auch beim Abendessen. Da kam jeweils die «Tagesschau» mit Nachrichten und Bildern aus Vietnam: Kampfhelikopter, Schiessereien und Bombardierungen. Auch verfolgten wir die Berichterstattung über die 68er-Unruhen in Paris und Deutschland.
In Venezuela lernte ich die Armut kennen: Die Slums von Caracas mit all den Hütten und Bettlern. Da durften wir aus der Oberschicht nicht hingehen. Das nahm ich zur Kenntnis und machte mir meine Gedanken.

Welchen Einfluss auf dein Weltbild hatte die Zugehörigkeit zum Jugendbund?
Zu Hause war die Religion kein Thema. Mein Vater sprach eigentlich nie über jüdische Traditionen oder Geschichte. Ich habe mich erst im Umgang mit meinen KollegInnen aus dem Jugendbund mit jüdischer Geschichte, mit den Verfolgungen und der heutigen Stellung der Juden auseinander gesetzt.

Wie hast du als Jugendlicher Zürich wahrgenommen?
Die «Alten» waren mürrische und saturierte Leute. Sie hatten alles und waren doch verknöchert. Kein Vergleich zur Fröhlichkeit und Ausgelassenheit, die ich in Venezuela kennen gelernt hatte. Und doch lachten mich die Jungen hier am Anfang aus, weil ich so brav aussah. Hier in Zürich hatte sich die 68er-Zeit auf die Jugendlichen ausgewirkt. Sie waren freakiger als in Venezuela, und sie hatten schon früh mit Kiffen begonnen und mit Mädchen herumgeschmust. In Venezuela hatte es kein 68 gegeben. Das Grösste dort war Carlos Santana und der Film «Woodstock». In Zürich war es für mich als Jugendlicher spannender: die Musik und die neuen Ideen von Freiheit und Rebellion, die Erfahrungen im Umgang mit weichen Drogen. Das war für mich auch eine Art von Politisierung.

Wie meinst du das?
Ich merkte, dass es auch noch eine andere Welt gibt als die, die man wahrnimmt, auch dass nicht alles so geregelt und langweilig sein muss, wie das bei unseren Eltern der Fall war. Der Alltag, die materiellen Güter – alles wurde relativiert. Wenn ich in Venezuela geblieben wäre, hätte ich diesen Aufbruch trotz Salsa und Fiesta wahrscheinlich nicht erlebt. Ich hätte vielleicht in den USA studiert und nachher bei einer Firma wie IBM gearbeitet.

Wie ging es nach der Matura weiter?
Ich begann Geografie und Ethnologie zu studieren, und ich war ein absoluter Bob-Marley-Fan. Er verkörperte alle meine Themen und Interessen: Er kam aus einem Drittweltland, machte heisse Musik, setzte sich für Gerechtigkeit ein und kiffte auf der Bühne. Er war lustig und intelligent – einfach alles! Da ging ich natürlich zusammen mit meinen Ethnofreunden am 30. Mai 1980 ans Bob-Marley-Konzert im Hallenstadion. Am andern Tag erfuhr ich, dass in Zürich in derselben Nacht Strassenschlachten getobt hatten. Am gleichen Tag ging ich vors Opernhaus, und da lief es wieder genau gleich ab wie am Vorabend. Von da an ging ich an alle Demos. Du musstest mit niemandem abmachen. Du wusstest einfach: Am Mittwoch oder am Samstag, meistens sogar an beiden Tagen, war Demo. Dort hast du immer mehr Leute kennen gelernt, und es herrschte eine gute Stimmung.
Für mich war der Ausbruch der achtziger Unruhen eine Zäsur. Ich konnte das, was in Zürich geschah, mit der Dritten Welt und mit Bob Marley verbinden: Zürich wurde Teil vom Rest der Welt. Ich sah, dass es auch hier viele Leute gab, die etwas nicht gut fanden und dies verändern wollten. Zürich lebte! Dass ich mich in dieser Stadt zu engagieren begann, war für mich die persönliche Quintessenz aus der achtziger Revolte. Und da gab es eine Menge konkreter Forderungen: Wir wollen die Rote Fabrik und ein AJZ – und LSD im Trinkwasser der Stadt! Dann ging es auch gegen die Bullen, gegen den Stadtrat, gegen das Establishment, gegen die Bonzen, gegen die Unterdrückung. Das gab eine gemeinsame Basis. Und es war lustig!

Gleichzeitig hast du an der Uni studiert. Wie war das Verhältnis der Bewegung zu den Studenten?
Die Studenten waren in der Bewegung verpönt. Es herrschte eine intellektuellenfeindliche Stimmung. Das hat mich immer gestört. Die Studenten wurden nur als die Privilegierten gesehen. An der Universität gründeten wir den FFU: Für eine Freie Uni! Der konkrete Anlass dazu waren die Zensurmassnahmen rund um den Opernhauskrawall-Film. Wir verkauften tausende von Protestbuttons: «Gilgen, hau ab!». Gilgen war der damalige Regierungsrat, der mit schwerem Geschütz gegen die Ethnologen aufgefahren war. So hatten wir etwas Geld und konnten Aktionen organisieren. Nach einigen Demos und einem misslungenen Streik versandete aber der Aufstand an der Uni.

Warst du enttäuscht?
Ja, schon. Doch viele der radikaleren Studentinnen und Studenten hatten sich sowieso schon längst an der Bewegung beteiligt, und die Geschichte mit dem Verbot des Videofilms konnte die Leute nun mal nicht monatelang mobilisieren. Hingegen hat uns, die wir weiter an der Uni studierten, die ganze universitäre Auseinandersetzung um die Fragen der Wissenschaftlichkeit der von der Ethnofilmgruppe «Community Medien» angewandten Methoden der Aktionsforschung viel gebracht. Wir sagten uns, okay, wir sind Studis, aber wir wollen wie diese Projektgruppe «Community Medien» und wie der «Wissenschaftsladen» in Holland eine Wissenschaft mit den Leuten und für die Leute machen.
Ich konzentrierte mich auf das Fach Geografie, und zusammen mit anderen Geografen begannen wir uns im Rahmen der Gruppe SAU – Ssenter for Applied Urbanism – mit allen Aspekten der Stadtforschung und der Stadtentwicklung in Zürich auseinander zu setzen: Mit einer Multimediashow über den Aufstieg von Zürich zur Finanzmetropole, mit Konzeptveranstaltungen in der Roten Fabrik, mit Seminarien, Vortragsreihen und Buchpublikationen. Wir beschränkten uns nicht auf die theoretische Arbeit, sondern beteiligten uns ausserhalb der Universität überall dort, wo in dieser Stadt während der achtziger Jahre etwas lief: bei den autonomen Aussersihlern, die den Stauffacher besetzt hielten und von neuartigen Wohn- und Lebenszusammenhängen träumten 1), bei der «Allianz alli gäge d’Brugg», die eine Autobahnbrücke mitten in den Kreis 5 verhinderte, und vielen anderen Aktionsgruppen, die sich von der achtziger Bewegung inspirieren liessen.
An der Uni machten uns die Professoren das Leben schwer. Mit Ach und Krach konnten wir zu viert eine Diplomarbeit abschliessen. Anderen Aufmüpfigen erging es ähnlich.

Ihr Geografen habt durch die Bewegung euer zentrales Thema – die Stadt – gefunden. Wie beurteilst du im Nachhinein, wie die damalige Stadtregierung mit der Bewegung umgegangen ist?
Vor 1980 konntest du dir nicht vorstellen, dass in der Schweiz eine Stadtregierung die Polizei so hemmungslos auf Demonstrantinnen und Demonstranten loslassen würde. Während der heissen Phase der Unruhen – von 1980 bis 1982 – wurde zwar nicht scharf geschossen, doch mit dem systematischen Einsatz von Gummigeschossen und Tränengaspetarden wurden schlimme Kopf- und Augenverletzungen in Kauf genommen. Ein Freund von mir verlor ein Auge. Andere wurden in Sackgassen hineingetrieben und zusammengeschlagen. Leute wurden in Polizeiwagen gesperrt, die dann mit Tränengas voll gesprüht wurden. Von der Tendenz her waren das «südamerikanische Zustände». Wir haben Angsterfahrungen gemacht, die für die heutigen Jungen nur schwer nachvollziehbar sind, weil sie so etwas noch nie erlebt haben. Viele von uns haben damals den Glauben an die Demokratie verloren.

Hat der Staat aus den damaligen Ereignissen gelernt?
Heute wird von den Medien der kulturelle Aufschwung in Zürich gefeiert, der als ein Produkt der unruhigen achtziger Jahre gesehen wird. Doch vonseiten der Behörden ist diese Anerkennung grösstenteils ausgeblieben. Es wäre nützlich, wenn die Behörden die damalige physische Gewalt gegen die Bewegung aufarbeiten würden. Auch müsste die psychische Repression untersucht werden, die als Reaktion auf die Bewegung an der Universität, an den Mittelschulen und an den Arbeitsplätzen massiv eingesetzt hatte. Auch dass man das AJZ scheitern und am Schluss sogar abbrechen liess, gehörte zu einer solchen Untersuchung. Aus dieser Geschichte müssten die Behörden lernen, sonst schlagen sie das nächste Mal genau gleich drein.

«Mein Gegenstand: Utensilien zum Schutz gegen staatlich verordnetes Tränengas» Foto: Klaus Rozsa

Seit Jahren kenne ich dich als unermüdlichen Stadtforscher und Aktivisten. Welche Praxisfelder stehen dir in Zukunft offen?
Ich lebe als freischaffender Experte von Forschungs- und Lehraufträgen im Bereich Stadtentwicklung. Nach dem Studium habe ich mehrere Jahre im Kulturzentrum Rote Fabrik gearbeitet, so dass ich heute auch in der Kulturarbeit und in der Organisationsberatung ein Standbein habe.
Zudem haben wir von der SAU vor zehn Jahren das internationale Netzwerk INURA gegründet, wo der Meinungsaustausch über Probleme der urbanen Entwicklung viel intensiver und breiter stattfindet, als wenn wir uns auf Zürich beschränkt hätten 2). Da lernte ich Leute aus anderen Städten kennen und sah, dass Opposition in der urbanen Gesellschaft notwendig und an vielen Orten selbstverständlich ist. Opposition braucht es in jedem System! In der Schweiz hat man jedoch häufig das Gefühl, als Oppositioneller geächtet zu werden. Wir müssen diese Grundangst vor Systemkritik überwinden. Nur wenn die Gedanken frei sind, kann Neues entstehen. Das haben die Achtziger bewiesen.

1) Eine Utopie für urbane Lebensformen hatte der Schriftsteller P. M. in seinem Roman «Bolo’bolo» formuliert. Aus der Stauffacher-Besetzung entstand das Wohnprojekt Karthago und später das Siedlungsprojekt Kraftwerk 1 in Zürich West. P. M. «Bolo’bolo». 201 S. Paranoia City Verlag, 5. Auflage. Zürich 1990.
2) Siehe zu INURA die Publikation: INURA. Possible Urban Worlds. Urban Strategies at the End of the 20th Century. 268 S. Birkhäuser. Basel, Boston und Berlin 1998.