Nanotechnologie: Wunderwelt der Zwerge

Nr. 20 –

Immer mehr Produkte des täglichen Gebrauchs enthalten Nanopartikel. Aber niemand weiss genau, welche Produkte es sind. Und nicht einmal die Fachleute kennen die Risiken.

Das Kleine ist stärker als das Grosse, sagte einer der Redner irgendwann. Und darum ging es an diesem Anlass: um die Kunst, mit unvorstellbar winzigen Teilen eine neue Welt zu bauen – die Nanowelt, die so verrückt ist wie Alices Wunderland.

Im Nanowunderland sind die winzigsten Insekten gigantische Monster. Einzelne Atome lassen sich anschauen und befühlen. Zu sehen ist das in einer Ausstellung, die junge ForscherInnen der Vereinigung MEMS-Point realisiert haben und die an jenem Abend Ende April im Migros-Einkaufszentrum Säntispark in Abtwil bei St. Gallen eröffnet wurde. Bis November tourt die Ausstellung durch verschiedene Ostschweizer Einkaufszentren und soll über das «grosse Potenzial der Nanotechnologie» informieren.

Noch ist Nano ein unschuldiger Begriff. Und die Nanogemeinde betet, er möge es bleiben.

Drei Männer, die von der Nanotechnologie leben, traten im Säntispark auf: ein Mitglied der Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW), ein Nobelpreisträger, ein Bankanalyst.

Der Akademievertreter

Peter Vettiger von der SATW-Kommission für Nanotechnologie sprach als Erster: über «Technik – Woher? Wohin?».

Er sagte, die Menschheit habe viel Energie investiert, um weniger arbeiten zu müssen. Er zeichnete die Geschichte des Transistors nach, ohne den es heute keine Computerchips gäbe. 2004 seien pro Person 200 Millionen Transistoren produziert worden, die pro Person zwanzig Milliarden Bites speichern könnten, 2008 würden es eine Milliarde Transistoren sein: Die Kosten für eine Chipfläche von einem Quadratzentimeter seien stets gleich geblieben, doch die Speicherkapazität – respektive die Anzahl Transistoren – pro Fläche verdopple sich alle achtzehn Monate. Kein anderes Produkt habe je eine solche Steigerung erreicht. Doch sei man vermutlich bald am Ende der bisherigen Technologie angelangt, sagte er: «Wir brauchen neue Technologien, damit man den Faktor zwei beibehalten kann.»

Dann verglich er das menschliche Gehirn mit den Chips. Das Gehirn habe bis zu 200 Milliarden Zellen und lasse sich mit zehn Billionen Transistoren nachbilden. In vierzehn Jahren würden mehr Transistoren pro Person gebaut, als man für die Nachbildung eines Elektrohirns brauche. Das menschliche Gehirn benötige pro Stunde nur zehn bis zwanzig Watt, ein elektronisches Hirn hingegen eine Million Watt. Der grosse Energieverbrauch sei ein Problem. Mit Nanotechnologie wäre es möglich, ganz neue Datenspeicher zu bauen, die auf weniger Platz viel mehr speicherten und viel weniger Energie verbrauchten.

Was ist Nano?

In der Atomtechnologie werden Atome gespalten, in der Gentechnologie Gene manipuliert. – Und in der Nanotechnologie? Nano ist nichts als eine Grössenangabe. Ein Meter beinhaltet tausend Millimeter oder eine Milliarde Nanometer. Alles, was kleiner als hundert Nanometer ist, gilt als Nanopartikel. Das sind zum Beispiel Bakterien, die sich im Darm tummeln, oder Feinstaub, der im Winter den Asthmakranken das Leben schwer macht, oder einfach nur einzelne Molküle oder Atome. Nano ist nichts und alles – und das macht jede Debatte vermaledeit schwierig.

Heute können WissenschaftlerInnen mit Atomen wie mit Legosteinen bauen. Sie konstruieren aus bekannten Substanzen neue synthetische Partikel – die Substanz bleibt dieselbe, aber sie verhält sich ganz anders. Die Dinger sind schon auf dem Markt: Es gibt Socken mit Nanopartikeln, die Fussschweisskeime töten; Lacke mit Nanopartikeln, die den Dreck vom Auto fernhalten; Sonnencremes mit Nanopartikeln, die den UV-Schutz verbessern.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) publizierte vor kurzem die Studie «Aus dem Labor auf den Teller – Die Nutzung der Nanotechnologie im Lebensmittelsektor». Der BUND listet darin 93 Produkte aus dem Lebensmittelbereich auf, die Nanopartikel enthalten und bereits in den Regalen stehen. Weltweit existiere kein Standard für den Umgang mit solchen Partikeln, kritisiert der BUND: Es mehrten sich die Hinweise, dass «viele synthetische Nanomaterialen toxischer sind als die gleichen Substanzen in grösserer Form». So zum Beispiel bei Titandioxid: Dieses «wird in Makroform häufig als chemisch träger Zusatzstoff in Nahrungsmitteln verwendet. Als Nanopartikel oder als Partikel mit einer Grösse von nur einigen Hundert Nanometern kann es zu Nieren- und Leberschäden führen.» Wenn die Nutzung einer Chemikalie in Makrogrösse genehmigt sei, stehe heute dem Einsatz in Nanoform nichts im Weg: «Es besteht weder eine Meldepflicht an die Behörden noch eine Kennzeichnungspflicht für die Hersteller der Produkte.»

Der deutsche Naturschutzbund fordert deshalb ein Moratorium für den Einsatz von Nanomaterial im Lebensmittelbereich, bis die entsprechenden Regelungen und Risikoabschätzungen vorhanden sind.

Welche Nanoprodukte stehen in der Schweiz in den Regalen? Die Grossverteiler wissen es nicht, noch nicht.

Vor kurzem verabschiedeten sie im Rahmen der Interessengemeinschaft Detailhandel Schweiz (IG DHS) einen «Code of Conduct». Der IG gehören Coop, Migros, Denner, Manor und Vögele an, und in diesem Verhaltenskodex verpflichten sie sich, von ihren Lieferanten «Informationen über Nanotechnologien einzufordern» und die «Konsumentinnen offen über Produkte mit Nanotechnologie zu informieren». Konkret bedeutet der letzte Punkt, dass sie Nanoprodukte «ausloben» wollen. Auslobung bedeutet: Es soll auf der Etikette erkennbar «Nano» stehen, zum Beispiel Nanolack oder Nanofensterreiniger. Auslobung ist keine Deklaration.

Brigit Hofer von Coop Schweiz – die bei der Ausarbeitung des «Code of Conduct» dabei war – sagt, man habe den Kodex Ende April an die Lieferanten verschickt. Bislang seien noch keine Reaktionen eingegangen.

Der Nobelpreisträger

Der Zweite, der im Säntispark referierte, war Heinrich Rohrer, der bärtige Physiker, der das Rastertunnelmikroskop erfunden hatte, das das Winzige überhaupt erst sichtbar machte. Dafür bekam er 1986 den Nobelpreis. Rohrer sprach über «Nanotechnologie – Schlüssel zur Nachhaltigkeit».

Die industrielle Revolution habe uns von strenger körperlicher Arbeit entlastet, sagte er. Die IT-Revolution habe uns einfache geistige Arbeit abgenommen, und jetzt sei eine neue Revolution im Gang, die noch keinen Namen habe, aber sie werde die Dinge nicht nur viel kleiner, sondern auch gescheiter machen.

Nano beherrsche die lebende Natur: «Natur ist Nano in Reinkultur – alle Prozesse in unserem Leben laufen in Nanodimensionen ab.» Nano bedeute nicht einfach, noch kleiner zu werden. «Nano ist anders, es gelten ganz neue physikalische Gesetze, es eröffnen sich uns ganz neue Möglichkeiten.»

Sicher, das Neue berge immer Gefahren, doch müssten wir lernen, damit umzugehen. Die Wissenschaft schaffe Möglichkeiten und Neuheiten – ob gut oder schlecht, «die Frage stellt sich nicht, Wissenschaft ist wertfrei». Vielleicht sei das naiv, fügte er noch an, «aber am Ende entscheidet der Konsument, was produziert wird, niemand produziert, was die Leute nicht kaufen».

In der Schweiz sind schätzungsweise 300 Firmen im Nanogeschäft aktiv, genau weiss es niemand.

Anfang Jahr publizierten Michael Riediker und Kaspar Schmid vom Institut für Arbeit und Gesundheit der Universitäten Lausanne und Genf eine erste selektive Untersuchung über den «Gebrauch von Nanopartikeln in der Schweizer Industrie». Die beiden Wissenschaftler interessierte vor allem, wie es mit dem Schutz der Angestellten aussieht, die mit Nanopartikeln hantieren. Denn freischwebende Nanopartikel können über die Lunge in den Körper gelangen und dort Schaden anrichten. Welche Schäden die auf dem Markt verfügbaren Nanopartikel auslösen können, ist aber noch nicht im Detail bekannt.

Die beiden Wissenschaftler eruierten 43 Unternehmen, die direkt mit Nanopartikeln arbeiten. Sie produzieren Kosmetika, Reinigungsmittel, Nahrungsmittel, Farben, Mühlen, Papier, Plastik, Sensoren, Uhren, Textilien et cetera. Insgesamt entstehen in diesen Betrieben beinahe 2500 Tonnen Nanomaterial pro Jahr, wobei etwa die Hälfte davon altbekannte Stoffe sind wie zum Beispiel Industrieruss. Nicht alle Unternehmen gaben Auskunft zu den Schutzmassnahmen, die in ihrem Betrieb gelten. Zwei gaben an, dass sie überhaupt keine spezifischen Schutzmassnahmen hätten. Oft hörten die Wissenschaftler auch: Man sei sehr interessiert an der Frage, wisse aber selber zu wenig.

In der Vergangenheit habe sich die Schweizer Regierung dem Problem gegenüber passiv verhalten und auf wissenschaftliche Ergebnisse gewartet, bevor sie im Arbeitsschutz etwas unternehmen wollte, schreiben die beiden Autoren, fügen aber an: «Gegenwärtig zeigt die Regierung jedoch ein proaktives Interesse.»

Tatsächlich tat sich in den letzten Monaten einiges. Im vergangenen Jahr veröffentlichte der Bund einen umfangreichen Grundlagenbericht zu «synthetischen Nanomaterialien». Im November wurde ein nationales Forschungsprogramm zu «Chancen und Risiken von Nanomaterialen» bewilligt, in den nächsten vier Jahren stehen zehn Millionen Franken dafür zur Verfügung. Im April veröffentlichte der Bundesrat den «Aktionsplan Synthetische Nanopartikel». Auch da wird der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz prioritär behandelt, mittel- und langfristig sieht er eine Meldepflicht, Grenzwerte und mögliche Verbote vor. Eins spürt man klar: Alle sind bemüht, die Nanotechnolgie von einer polarisierten Debatte fernzuhalten. Studien wie diejenige des Deutschen Naturschutzbundes mag man bei den Bundesbehörden nicht. Steffen Wengert vom Bundesamt für Gesundheit hält den Bericht für ungenau. Zu vieles werde vermischt, was nur Angst schüre. Ziel des BAG sei es, klar herauszuarbeiten, welche Nanopartikel gefährlich seien und welche nicht. Es gebe sicher auch Bereiche, wo man sehr vorsichtig sein müsse, zum Beispiel, wenn Nanopartikel frei herumfliegen – wie es bei einem Nanospray sein könne. Aber auch gewöhnliche Sprays seien nicht ungefährlich, das würden die Leute einfach vergessen.

Die Industrie steckt zurzeit viel Geld in die Entwicklung von Nanoprodukten, doch kaum jemand zahlt für die Risikoforschung.

Der Bankanalyst

Dominik C. Müller war der Dritte, der im Säntispark auftrat. Der junge, adrette Analyst der Credit Suisse sprach über «Nano – Eine Investition in die Zukunft». Er redete von Medikamenten, die gezielt Tumore abtöten, von völlig neuen Solarzellen, die man auf die Hausfassade aufmalen könne, von drei Millimeter dünnen Bildschirmen und neuen Lampen, die kaum Strom brauchen – und von Nanotitananzügen, die Soldaten für Infrarotgeräte unsichtbar machen.

2007 seien weltweit dreizehn Milliarden US-Dollar in Forschung und Entwicklung von Nanotechnologie geflossen. Die USA, Japan, Deutschland und die Schweiz seien führend, Russland investiere auch tüchtig und erwarte in sieben Jahren einen Umsatz von 36 Milliarden US-Dollar. 600 Produkte seien schon auf dem Markt, wöchentlich kämen drei neue hinzu.

Für sie als Analysten sei es indes nicht einfach, in die Zukunft zu extrapolieren, wie sich der Nanomarkt entwickle. Manche Firmen seien vielversprechend und scheiterten dann doch.

Was Müller sagte, klang nicht nach dem Superhype – wie er es sagte, umso mehr: rasend schnell und euphorisiert, glückstrunken von der neuen Wunderwelt.