Hisbollah: «Es geht nicht um Religion»

Nr. 41 –

Spätestens seit dem Krieg gegen Israel und der bewaffneten Übernahme von Westbeirut im Mai ist klar: Künftig wird die «Partei Gottes» im Nahen Osten ein gewichtiges Wort mitreden. Doch wer ist die Hisbollah, und was will sie? Zu Besuch bei Ali Fayyad, dem Präsidenten des Hisbollah-Thinktanks.


Hier im dritten Stock eines unauffälligen Wohnblocks im Süden Beiruts herrscht Hochbetrieb: Frauen mit Kopftuch eilen mit Akten umher, telefonieren und tauschen Informationen aus. Gelegentlich taucht ein Mann in weissem Hemd und Kittel auf, um gleich darauf wieder hinter einer Tür zu verschwinden. Dann, pünktlich um zwölf, erscheint Ali Fayyad im Türrahmen seines Büros. «Willkommen, ich bin der Präsident dieses Zentrums, Sie können es als Thinktank der Hisbollah betrachten.» Der Direktor des Konsultativ-Zentrums für Studien und Dokumentation lässt sich in seinen Bürosessel fallen und bittet seinen Gast, Platz zu nehmen - hinter ihm ein Bild von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah. Fayyad ist auch Mitglied des Hisbollah-Politbüros.

Das Zentrum liegt gleich neben dem Flughafen ganz im Süden der Stadt, wo die Hisbollah das Sagen hat. Hier leben überwiegend schiitische Muslime. Viele von ihnen sind aus dem Südlibanon zugezogen. Aus jener Region, in der die schiitische Hisbollah Anfang der achtziger Jahre ihren Anfang nahm: als Widerstand gegen Israel, das 1982, mitten im libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990), in den Südlibanon einmarschiert war, um Jassir Arafats palästinensische PLO aus dem Land zu vertreiben. Unter der Besatzung, die bis 2000 dauerte, entwickelte sich die Hisbollah zur stärksten Miliz im Lande. Zum offenen Krieg zwischen den verfeindeten Lagern kam es letztmals im Sommer 2006. Israel erlitt damals einen herben Rückschlag, während die Hisbollah in der arabischen Bevölkerung frenetisch bejubelt wurde. Heute streiten sich die Parteien noch um die Scheba-Farmen, ein 25 Quadratkilometer grosses Stück Land, das Israel besetzt hält.

WOZ: Herr Fayyad, kämpft die Hisbollah nur um die Scheba-Farmen, oder will sie auch den israelischen Staat beseitigen?

Ali Fayyad: Wir haben eine spezielle Perspektive auf Palästina und allgemein auf den israelisch-arabischen Konflikt. Wir lehnen die Idee zweier Staaten ab. Wir glauben, dass sie unrealistisch ist und dass die Zwei-Staaten-Lösung der Region keinen Frieden bringen kann. Ein echter Friede zwischen allen Menschen in der Region, speziell in Palästina, kann nur durch eine Ein-Staaten-Lösung erreicht werden. Alle Menschen dort - Juden, Muslime und Christen - müssen gleichberechtigt in einem Staat zusammenleben. Und sie müssen die Form ihres Staates und ihrer Demokratie gemeinsam wählen.

Wie soll das gehen?

Wir müssen das rassistische Regime Israel ausmerzen. Und wir müssen den Menschen dort helfen, einen neuen Staat aufzubauen. Unserer Meinung nach soll er Palästina heissen, aber der Name sollte nicht das Problem sein.

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Anfänglich als antiisraelische Miliz gegründet, hat sich die Hisbollah (wörtlich «Partei Gottes») über die Jahre im Libanon zu einer wichtigen innenpolitischen Kraft entwickelt. 1992 entschied sich die Partei, an den libanesischen Wahlen teilzunehmen - und errang zwölf Sitze. Dem Entscheid war eine heftige innerparteiliche Debatte vorausgegangen: War es legitim, sich an einem nichtislamischen Staat politisch zu beteiligen? In einem schwachen und korrupten Staat dazu, in dem die Macht bis heute fast ausschliesslich bei den einzelnen konfessionellen Gemeinschaften liegt?

Seit 2006 paktiert die Hisbollah mit der Partei von Michel Aoun, der die Mehrheit der libanesischen ChristInnen hinter sich hat. Gemeinsam sind ihnen der Konfrontationskurs gegenüber Israel, linke Wirtschaftsideen - und ein innenpolitischer Rivale: die Allianz von Sunniten, Drusinnen und rechten ChristInnen unter der Führung des sunnitischen Geschäftsmanns Saad Hariri, Sohn des 2005 ermordeten Expremierministers Rafik Hariri. Im Mai war der Streit zwischen den beiden Lagern eskaliert. Nach dem Entscheid der damals von Hariri dominierten Regierung, unter anderem das Kommunikationssystem der Hisbollah stillzulegen, brachten bewaffnete Hisbollah-Männer das sunnitisch geprägte Westbeirut unter ihre Kontrolle.

Diese Machtdemonstration ebnete den Weg zum Doha-Abkommen, in dem sich die Parteien unter anderem auf die Bildung einer Einheitsregierung einigten. Gleichzeitig verlor die Hisbollah vor allem innerhalb nichtschiitischer Bevölkerungsteile an Rückhalt, da sie erstmals in ihrer Geschichte ihre Waffen gegen LibanesInnen richtete. Viele hatten den Kampf der Hisbollah gegen Israel grundsätzlich unterstützt.

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Die Hisbollah-Charta von 1985 sieht einen islamischen Staat nach dem schiitischen Konzept des Wilayat al-Faqih, der «Vormundschaft der Gelehrten» vor, wie er im Iran besteht. Gilt das noch?

Nein. Man muss zwischen unserem ideologischen Hintergrund und unserem politischen Programm unterscheiden. Das Konzept des Wilayat al-Faqih funktioniert nur in einer rein schiitischen Gesellschaft. In einer pluralistischen Gesellschaft wie der libanesischen käme es zu Problemen. Glauben Sie, die Sunniten wären einverstanden, wenn wir einen schiitischen Staat errichten würden? Und die Drusen oder Maroniten? Es wäre eine grosse Sünde, einen islamischen Staat mit Gewalt zu errichten. In einem religiösen Staat müssen die Menschen an den Staat glauben und sich an seiner Errichtung beteiligen.

Was für einen Staat will die Hisbollah heute?

Hier im Libanon wollen wir einen nichtkonfessionellen und demokratischen Staat, der auf dem Konzept der Staatsbürgerschaft basiert. Wir sehen keinen Widerspruch zwischen der Demokratie und unserer islamischen Identität. Obwohl wir eine islamische Partei sind, haben wir es geschafft, eine breite politische Front aufzubauen, der auch Linke, Kommunisten und Panarabisten angehören. Für eine islamische Bewegung ist das eine gute Erfahrung. Sie beweist, dass islamische und säkulare Bewegungen in derselben gesellschaftlichen und politischen Umgebung zusammenarbeiten können.

Warum hat sich die Hisbollah verändert?

Sie hat sich nicht verändert, sie hat sich weiterentwickelt - weil wir aus Erfahrungen gelernt haben. Wir wurden als islamische Bewegung mit nationaler Ausrichtung gegründet und sind nun eine nationale Bewegung mit islamischer Ausrichtung. Wir interessieren uns nun mehr für die innenpolitischen Angelegenheiten. Neben dem Widerstandsflügel haben wir jetzt auch einen politischen Flügel.

Hat die Hisbollah einen Fehler begangen, als sie im Mai Westbeirut in ihre Gewalt brachte? In der Bevölkerung hat sie damit an Rückhalt verloren.

(Zögert,) Nein, ich denke, das ist ein vorübergehendes Problem. Die Aktion war eine Ausnahme. Im Allgemeinen ist das nicht unsere Politik - wir bekämpfen Israel. Wir wurden zu diesem Schritt gezwungen, er lag nicht wirklich in unserer Verantwortung.

Es war doch Ihr Entscheid!

Aber wir hatten keine Wahl. Das Regierungskabinett traf damals gefährliche Entscheide. Unsere Intervention verhinderte noch viel grössere konfessionelle Probleme und ebnete den Weg für das Doha-Abkommen.

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Der Streit zwischen den libanesischen Parteien ist auch das Resultat internationaler Machtkämpfe. Die Parteien greifen auf die Unterstützung ausländischer Alliierter zurück, um ihre innenpolitische Macht zu stärken: die Hisbollah auf den Iran und Syrien, Hariris Koalition auf den Westen, allen voran die USA und deren arabische Verbündete wie Saudi-Arabien. Die Alliierten nutzen wiederum ihren Einfluss, um auf libanesischem Boden ihre Machtkämpfe um Israel, den Einfluss im Irak und Irans Atomprogramm auszutragen. Anders als mit Syrien verbindet die Hisbollah mit dem Iran jedoch nicht nur eine strategische, sondern auch eine ideologische Gemeinsamkeit. Die schiitisch-islamische Revolution im Iran von 1979 diente den libanesischen Hisbollah-AnhängerInnen von Anfang an als Vorbild.

Auch die Schweiz ist im Libanon aktiv - allerdings in einer vermittelnden Rolle. Sie organisiert in regelmässigen Abständen einen runden Tisch, um die Versöhnung zwischen den libanesischen Parteien zu fördern.

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Ihre Gegner werfen der Hisbollah vor, der verlängerte Arm des Irans im Libanon zu sein. Was sagen Sie dazu?

Wir sind nicht proiranisch. Wir stehen in einer Allianz mit dem Iran wie auch mit Syrien und der palästinensischen Hamas. Gleichzeitig sind wir eine unabhängige libanesische Partei. Wir brauchen unsere Allierten ebenso wie sie uns. Zudem ist es unser Recht, in der Region Allianzen zu schmieden. Wir brauchen deren Hilfe, weil der ganze Westen und speziell die USA Israel unterstützen. Warum ist dies Israel erlaubt und uns verboten? Das ist eines unserer Probleme mit dem Westen: diese doppelten Standards.

Trotzdem spielt der Iran eine wichtige Rolle im Libanon.

Der Iran hat den Libanesen viel geholfen. Er hat für den Wiederaufbau der im Krieg 2006 zerstörten Gebäude viel bezahlt. Und er hat in den letzten beiden Jahrzehnten das politische Gleichgewicht in der Region aufrechterhalten. Wieso sollten wir ein Problem damit haben? Ich glaube, dass die konfessionelle Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten in der libanesischen Politik unecht ist, sie ist konstruiert. Sie ist das Ergebnis einer Strategie der USA, um den Iran zu bekämpfen.

Im Libanon gäbe es weniger Konflikte, wenn alle Parteien übereinkämen, auf fremde Hilfe zu verzichten.

Die Lage ist kompliziert - aber wie auch immer: Es ist wohl nicht realistisch, über eine libanesische Neutralität nachzudenken.

Wie stehen Sie dem Westen gegenüber?

Wir wollen mit dem Westen befreundet sein. Wir haben kein Problem mit westlichen Ländern - höchstens mit den USA, weil sie Israel unterstützen, auch im Krieg 2006. Unsere Differenzen mit dem Westen sind aber politischer, nicht religiöser Natur. Wir lehnen es ab, die Religion als Ursache politischer Konflikte zu sehen.

Was halten Sie von der Schweizer Politik in der Region?

Wir sind der Schweiz freundlich gesinnt. Die Hisbollah-Führung hatte grosse Bedenken, mit der Gegenkoalition in einen Dialog zu treten. Dank der Schweizer Initiative haben wir diese Bedenken ausgeräumt. Der Dialog war eine gute Gelegenheit, ernsthaft und vertieft über libanesische Angelegenheiten zu diskutieren.

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«Ach, Sie kommen aus der Schweiz? Ein schönes Land mit netten Menschen - willkommen im Libanon!» Der Taxifahrer bietet seinem Gast eine Zigarette an - dann biegt er in die Hauptstrasse ein, Richtung Norden zurück ins Stadtzentrum. «Waren Sie während des Kriegs 2006 hier? Nein? Die israelischen Kampfflieger haben hier in Südbeirut alles zerbombt - aber die Hisbollah hat es den Israelis gezeigt!»

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