«Milk»: Heimspiel im Castro

Nr. 7 –

Nächste Woche kommt der neue Film von Gus Van Sant in die Schweizer Kinos. Im Dezember lief der Film in San Francisco im Stadtteil Castro - dort, wo er gedreht wurde. Eine Reportage aus dem Quartier.


San Francisco, 23. Dezember 2008. Zehn Minuten vor acht bricht Jubel aus im «Castro Movie Palace». Eine mächtige Wurlitzer-Orgel fährt automatisch aus dem Orchesterboden, ein schmaler Organist entlockt ihr ein Medley aus Filmmelodien. Seit 1922 werden Filme gezeigt in diesem plüschigen Saal, in dem Farben und Materialien, italienische, orientalische und spanische Einflüsse erbarmungslos übereinander herfallen. Das Programm ist durchaus dazu passend: Mainstream neben Independentproduktionen; «The Sound of Music» mit Judy Garland zum Mitsingen neben einer deutschsprachigen Reihe, ausgewählt von Wim Wenders.

Acht Oscar-Nominierungen

Zum Jahresende hat der Kinopalast einen der vielleicht grössten Auftritte seiner Geschichte. Gezeigt wird Gus Van Sants neuer Film «Milk». Die Biografie von Harvey Milk, der 1978 als erster offen schwul lebender Politiker in den USA in ein Amt gewählt wurde - direkt vor der Tür, in San Franciscos Schwulenbezirk rund um die Castro Street, nach der auch das Kino benannt wurde - und der einige Monate später durch die Kugeln seines politischen Gegners, des Republikaners Dan White starb. Mehr Heimspiel ist für einen Film nicht denkbar.

Zur Oscar-Verleihung am 22. Februar wird «Milk» als einer der Favoriten antreten - nominiert in acht Kategorien, darunter bester Hauptdarsteller, beste Regie, bestes Buch und bester Film. Dustin Lance Black schrieb das Drehbuch, Sean Penn spielt die Titelrolle. Jahrelang hatte Penn das Problem, vor allem als «Exmann von Madonna» tituliert zu werden, sodass ihn die breite Öffentlichkeit kaum als das wahrnahm, was er vor allem ist: einer der besten Schauspieler seiner Generation. Das zeigt er auch hier wieder, mit der überzeugenden Darstellung des flirrenden, charismatischen Harvey Milk.

Van Sant ist nicht der erste, der dessen Geschichte erzählt. Schon 1984 erschien «The Times of Harvey Milk» von Rob Epstein, der den Oscar für den besten Dokumentarfilm gewann. Mehr als einmal verwendet Van Sant Material aus Epsteins Film - in dramatischen Passagen gegen Ende des Films kombiniert er Spiel- und Dokumentarszenen zu einer Art Docufiction-Stil.

«Fünfzig werde ich nicht»

1995 wurde der Stoff auf die Opernbühne gebracht. Weit weniger beachtet als die Filme schaffte es die Inszenierung immerhin von den USA aus bis auf europäische Bühnen, und es ist davon auszugehen, dass Regisseur und Autor von «Milk» auch diese Bearbeitung genau studiert haben.

Wie also erzählen, wie beginnen? Van Sant entscheidet sich für relativ enge Bilder, die das Nachbarschaftliche, Verbundene des Castro und seiner BewohnerInnen zeigen. Aber auch die Unmöglichkeit, dem Anderen, dem Andersartigen aus dem Weg zu gehen. Die erste Sequenz erzählt eine Nacht im Frühjahr 1970, in der Harvey Milk - neu in San Francisco angekommen - seinen vierzigsten Geburtstag feiert; im Bett mit seiner neuesten Eroberung, die für die nächsten Jahre sein Freund wird. «Vierzig», lächelt Harvey bei der Zigarette danach. «Fünfzig werde ich bestimmt nicht.» Der als eitle Pointe gemeinte Satz entpuppt sich als Prophezeiung.

Gemeinsam eröffnen die Männer ein Fotogeschäft in der Lower Haight Street. Abgestossen von der Homophobie mancher alteingesessener Geschäftsmänner der Umgebung, aber auch befeuert von einer starken schwulen Gemeinschaft, die sich seit einigen Jahren im Castro ansiedelt, tritt Milk als Kandidat für das Amt des Stadtrats an. Und verliert. Zwei Jahre später verliert er erneut. Knapper zwar, aber der Mut für eine weitere Kandidatur scheint zu schwinden. Bis eines Tages sein Kampagnenmanager mit breitem Grinsen und einer Stadtkarte im Laden auftaucht. Die Wahlbezirke sind neu strukturiert worden. Der Manager tippt auf zwei Strassenzüge: «Wir müssen nur die Schwulen und die Hippies überzeugen. Das sollten wir schaffen!»

Fetischfreunde mit Einkaufskorb

Die Schwulen im Castro hat Milk ohnehin mehrheitlich auf seiner Seite. Aber nun ist Haight-Ashbury dazugekommen. Die Blöcke rund um diese Strassenkreuzung sind in den frühen sechziger Jahren Urzelle der Hippiebewegung geworden. Jerry Garcia und Grateful Dead haben in der Haight Street ihr Haus, und in einem der Hippiekindergärten wird LSD als Mittel frühkindlicher Erziehung eingesetzt. Wenn irgendwo auf der Welt etwas Niedagewesenes geschehen kann, die Wahl eines offen schwulen Politikers nämlich, dann hier. Harvey Milk und sein Team stürzen sich in einen weiteren Wahlkampf. Sein Freund verlässt ihn während dieser arbeitsintensiven Zeit. Aber Milk gewinnt das Mandat.

Heute gilt San Francisco als schwulste Stadt der Welt. Jeder sechste Mann in ihren Grenzen liebt laut soziologischen Studien gleichgeschlechtlich, dazu jede zehnte Frau, und im Castro sind es zusammengerechnet deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Wer am Samstagabend in den Drogerien «Walgreen’s» oder «Seven Eleven» ein paar Einkäufe nachholt, kann das Gefühl bekommen, in einem Comic von Ralf König gelandet zu sein: Ledermänner, Fetischfreunde und SM-Paare stehen mit ihren Einkaufskörben zwischen Rentnern und Sekretärinnen brav in der Warteschlange.

Doch dieser erste Blick täuscht. Dreissig Jahre nach der Ermordung von Harvey Milk sind auch in San Francisco die Schwulenrechte keineswegs sicher. Wenige Wochen vor dem Filmstart, als der erste Schwarze zum Präsidenten der USA gewählt wurde, stand in Kalifornien eine zweite Frage zur Abstimmung: Ja oder Nein zur «Proposition 8»? Würde «Prop 8» angenommen, wäre das vor kurzem erstrittene Recht gleichgeschlechtlicher Paare auf Heirat gleich wieder verloren. Aus Angst davor kam es in den Tagen vor der Wahl in den Standesämtern der Stadt zu regelrechten Massentrauungen. Die Angst war berechtigt: Während die Welt Barack Obama feierte, empörte man sich im Castro über die Annahme der verhassten Prop 8. Seitdem ist die Politik wieder auf der Strasse sichtbar. Vor dem Kino werden Unterschriften für eine neuerliche Volksabstimmung gesammelt. Wenige Häuser entfernt hat jemand ein Plakat in sein Fenster gehängt: «It’s a sin to say God hates gay!» («Es ist eine Sünde, zu sagen, Gott hasse Schwule») steht darauf.

Mainstream an der Haight Street

Im Gegensatz zum Castro wirkt die Haight Street wie ein Freilichtmuseum. Zwar haben auch hier ein paar Überbleibsel der Hippiekultur überlebt: Das «Red Victorian Inn» zum Beispiel, betrieben von der Künstlerin Sami Sunchild. Die 83-Jährige hat nicht nur ihre Kunstwerke zum Verkauf an die Wände gehängt. Zwischen den normalen Cafétischen stehen auch die sogenannten «Conversation Tables», an die man sich nur setzen sollte, wenn man bereit ist, mit anderen Gästen Gespräche zu Fragen des Lebens zu führen, die auf einer speisekartenähnlichen Liste verzeichnet sind. Schräg gegenüber wartet der «Booksmith», eine Buchhandlung, die auch vom Ruhm lebt, Schauplatz von Allen Ginsbergs letzter Lesung gewesen zu sein.

Vor allem aber ist die Haight Street voll von TouristInnen, Halbwüchsigen zumeist, die alle aussehen, als kämen sie aus Kleinstädten des Mittelwestens und wollten hier für einige Stunden mal richtig die Sau rauslassen. Von Zeit zu Zeit bekommt man sogar eine Bierdose zu sehen, die nicht in einer Papiertüte versteckt wird.

Es scheint, als seien die Ideale von Freiheit, Liebe, Drogen und dem Recht auf viertelstündige Gitarrensoli, die einst die Haight Street beherrschten, mittlerweile vollständig vom kulturellen Mainstream überrannt. Das Castro hingegen wirkt unbeschädigter. Vielleicht liegt das am Druck von aussen und innen, der nach wie vor besteht: Der ständige Kampf gegen Aids und die konservativen Gegenkräfte geht weiter.

Mord als einzige Lösung

Als Harvey Milk sein Amt im Rathaus antritt, lässt Gus Van Sant seinen Gegenspieler Dan White erscheinen, gespielt von Josh Brolin. Der republikanische Stadtrat ist überzeugter Verfechter der damals aktuellen Prop 6, mit der die Grundlage geschaffen werden soll, schwule Lehrer vom Dienst zu suspendieren. Milk unterläuft diesen Versuch, Schwule zu dämonisieren, mit einer simplen Strategie: Die Homosexuellen der Stadt sollen sich outen. Damit jeder merkt, dass er Schwule kennt, die mit dem düsteren Jugendverderberbild der Prop-6-Verfechter nichts zu tun haben. Für White wird das zum Dilemma. Zwischen ihm und Milk hat sich eine vorsichtige Kollegschaft zu entwickeln begonnen, die auch ins Private reicht. Ausgerechnet Milk ist der einzige Stadtrat, der zur Taufe von Whites Tochter erscheint. Mit einem Gewaltakt gegen sich selbst versucht White, sich aus diesem Dilemma zu befreien: Wenn Prop 6 scheitert, droht er sein Amt zurückzugeben. Als genau das passiert, bemerkt er seinen Fehler. Und als er sein Amt nicht zurückbekommt, bleibt ihm nur noch die Gewalt gegen andere. Er erschiesst den Bürgermeister und Harvey Milk. Mit Bildern von Fackelmärschen durchs Castro, die er aus Epsteins Film übernimmt, beendet Van Sant seinen Film.

Gegen halb elf strömen die Besucher aus dem Kino. Zwei verfrorene Aktivisten stehen noch am Prop-8-Stand und sammeln letzte Unterschriften. Einige BesucherInnen zieht es in die «Twin Peaks Bar» an der nächsten Strassenecke, die einst der erste schwule Club des Viertels war. Wer Hunger hat, geht zwei Häuser weiter ins «Orphan Andy’s». Der Laden ist proppenvoll, nur am Eingang, wo bei jedem Türöffnen die Zugluft hereinströmt, ist noch ein Tisch zu haben. Nebenan versucht ein kahl rasierter, schwarz gekleideter Galerist einen Kunden von seiner neuesten Entdeckung zu überzeugen.

Die Burger bei Andy sind teuer. Der Kuchen ist schauderhaft. Aber die Kellner sind durchtrainiert und gut gelaunt, und so ist die Stimmung super. Gleich beginnt der Heiligabend in San Francisco.

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