Gemeindefusionen: Glarner Redesign

Nr. 9 –

Aus 25 Glarner Gemeinden werden drei - das haben die Stimmberechtigten vor zwei Jahren beschlossen. 2011 soll der strukturelle Zusammenschluss Realität sein. Zur Halbzeit ein Augenschein.


Die zweitletzte Haltestelle der Bahnlinie in dieser verkehrstechnischen Sackgasse namens Glarnerland heisst Rüti. Das Dorf mit knapp 400 EinwohnerInnen ist eine Streusiedlung mit zahlreichen Ferienhäusern. Südlich des Bahnhofs steht ein riesiges Fabrikgebäude, eine ehemalige Baumwollspinnerei. Einige Fenster sind mit Brettern vernagelt. Im Norden gibt es ein weiteres nicht mehr benutztes Industriegebäude, die frühere Wollweberei Rüti. Auch das Schulhaus steht leer, die Kinder fahren zum Unterricht ins Nachbardorf. Und im Schaufenster des geschlossenen Dorfladens verstaubt eine Marlboro-Reklame. Die Gemeindeschreiberin kümmert sich mit ihren achtzig Stellenprozenten auch noch um die Finanzen und die Einwohnerkontrolle. Das Haus, in dem sich die Gemeindeverwaltung befindet, steht zum Verkauf. Der Gemeindepräsident im Nebenamt verdient sein Geld im Hauptort Glarus. Im kommenden Juni läuft seine letzte Amtsperiode aus. Danach ist Rüti keine selbstständige Gemeinde mehr.

Plötzliche Mehrheit

Es gibt wohl keinen Kanton, in dem die Zusammenlegung von kleinen Gemeinden nicht ein Thema wäre - aber nirgendwo sonst gehen die BürgerInnen derart radikal vor wie im Kanton Glarus: Anstatt der bisher 25 soll es ab 2011 nur noch drei Gemeinden geben. Dies sei nichts weniger als «ein Redesign des Kantons», beschreibt der langjährige Glarner SP-Nationalrat Werner Marti den Prozess, der vor knapp drei Jahren mit einem umstrittenen Entscheid an der Landsgemeinde begann, und der auch 2011, wenn die neuen Gemeindebehörden aktiv sind, noch lange nicht abgeschlossen sein wird.

Möglich wurde das spektakuläre Aufbrechen jahrhundertealter Strukturen durch eine Dynamik, wie sie bloss an einer Landsgemeinde möglich ist. Da kann es vorkommen, dass ein vermeintlich chancenloser Gegenvorschlag zu einem unpopulären Vorstoss plötzlich von einer Mehrheit unterstützt wird. Zur Debatte stand an jenem Sonntag, dem 7. Mai 2006, der Vorschlag der Regierung, die 25 Gemeinden auf zehn zu reduzieren. Im Ring wurde dann eine Variante mit acht Gemeinden lanciert. Den Vorschlag für sogar nur drei Gemeinden wagten die Sozialdemokraten gar nicht erst zu präsentieren. Das übernahm dann Kurt Reifler, ein 51-jähriger Staatsangestellter ohne politische Hausmacht. Und er trat damit eine Lawine los. Nach einer Kaskade von Abstimmungen konnte das Stimmvolk zuletzt nur noch zwischen dem Status quo und seinem Vorschlag, der Reduktion auf drei Gemeinden, entscheiden. Es hiess also: Stillstand versus radikale Veränderung. 2007 entschieden sich die GlarnerInnen in einer ausserordentlichen Landsgemeinde mit klarer Zweidrittelmehrheit für den Aufbruch.

Und seither wird umgesetzt. Vorexerziert wird damit nichts weniger als die Übersetzung einer revolutionären Vision in pragmatische Realpolitik. In jeder der drei Projektorganisationen beschäftigen sich gegen hundert Personen in diversen Arbeitsgruppen mit sämtlichen Aspekten der Fusion. Sie entscheiden über Details: Wie sieht das künftige Wappen aus? Aber auch über grundlegende Fragen wie: Braucht es ein Parlament? Jedes Thema wird zuerst «z Bodä» geredet, bevor es eine mehrstufige Entscheidfindung durchläuft. Das letzte Wort hat die Gemeindeversammlung der fusionierenden Ortschaften. Das Vorgehen ist damit breit abgestützt, doch ob all der kleinen Dinge, die es zu klären gilt, drohen die grossen Themen unterzugehen. Etwa das Raumplanungsrecht, über das bislang kaum nachgedacht wurde. «Das könnte zum grossen Knackpunkt werden», sagt Werner Marti, der im Fusionsprozess selber nicht aktiv ist.

Der Meinungsfindungsprozess ist zwar bei allen drei zu bildenden Fusionsgemeinden der gleiche, nicht aber die Ausgangslage. Wir beginnen die Reise im Glarner Vorderland, mit den Gemeinden in der Linthebene und am Walensee. Der Name steht schon fest: «Glarus Nord» wird der Zusammenschluss heissen. Auch die künftige Gemeindeordnung ist definiert - man will ein Parlament. Hier würden starke Kommunen fusionieren, sagt Willy Kamm, Projektleiter «Glarus Nord» und heute noch Gemeindepräsident von Mühlehorn, das direkt am Walensee liegt. Die Region profitiert vom Agglomerationsdruck aus Zürich, bietet tiefe Steuern und könnte sich ähnlich entwickeln wie die nahen Schwyzer Steuerparadiese Freienbach oder Wollerau.

Noch schnell ein Kunstrasenplatz

Mit den Projektarbeiten sei man auf Kurs, sagt Willy Kamm. Doch die entscheidenden Punkte sind erst traktandiert: Noch weiss niemand, ob Schulen geschlossen werden müssen, wie hoch künftig die Gebühren für das Abwasser sein werden, wie hoch der Steuersatz, und wessen Bauland allenfalls mangels Bedarf ausgezont werden wird. Bei all diesen Fragen wird es GewinnerInnen geben - und VerliererInnen. Kamm sagt: «Meine Leute werden profitieren. Denn heute haben wir hohe Gebühren und den maximalen Steuersatz.»

Täuscht die strebsame Ruhe, mit der im ganzen Kanton an der Umsetzung der Fusion gearbeitet wird? Im Januar gingen die Emotionen erstmals hoch - vielleicht bloss ein Vorgeschmack auf das, was noch folgen könnte. Die Kantonsregierung hatte die Budgets der Gemeinden kurzerhand mit einem vorsorglichen Ausgabestopp belegt. Sie begründete die Notbremse mit Zahlen: Normalerweise geben die Glarner Gemeinden jährlich rund 17 Millionen Franken für Investitionen aus. Nach dem Fusionsentscheid änderte sich dies schlagartig: 2008 waren es 30 Millionen Franken, für 2009 sind 41 Millionen budgetiert: Hier sollte noch ein Kunstrasenplatz gebaut werden, dort senkte man rasch die Steuern. Der Verdacht liegt nahe: Da wird Kapital verprasst, um es nicht mit den Nachbarn teilen zu müssen.

Die Regierung rief mit ihrem Erlass flugs die ReformgegnerInnen auf den Plan, die seit der Landsgemeinde bloss noch die Faust im Sack gemacht hatten. Der Gemeindepräsident von Obstalden sprach von «Zuständen wie in einer Diktatur». Zwei Leiter von Teilprojekten traten unter Protest zurück. In Leserbriefen wurden die Regierungsmitglieder als «Vögte» bezeichnet, und die Umsetzungsverantwortlichen mussten sich als «Fusionsfanatiker» verspotten lassen. Inzwischen hat sich das Donnerwetter gelegt, die Regierung gab diverse Budgets wieder frei. «Wir haben immer gewusst, dass die Gemeindestrukturreform kein Sonntagsspaziergang wird», kommentiert Regierungsrätin Marianne Dürst. Es bestehe die Gefahr, dass einzelne Mitglieder von Gemeindebehören zu beweisen versuchten, dass der Landsgemeindeentscheid ein Fehler war, warnt sie.

Industriegeschichtlicher Lehrpfad

Die nächste Ausfahrt auf der Strasse durch das enge Tal heisst «Glarus-Mitte». Unweit von hier liegen die drei Gemeinden, die mit der Stadt Glarus fusioniert werden: Netstal, Riedern und Ennenda - geografisch das am kompaktesten besiedelte Gebiet im Kanton. Projektleiter der hiesigen Fusion ist Hans Peter Spälti, Bauverwalter in Netstal. Er ist wie die meisten am Prozess mitarbeitenden Gemeindeangestellten in einer ungemütlichen Situation: «Keiner weiss, ob er nach 2011 noch einen Job hat, das gilt auch für mich.» Im Glarnerland wird nämlich nicht nur zusammengelegt, es wird vor allem auch gespart. Die Vorgabe in Glarus Mitte lautet: Jede der drei Gemeinden muss den Aufwand um 2 Millionen Franken reduzieren. Und statt vier Gemeindeschreibern braucht es nur noch einen. Noch sind die neuen Stellenpläne nicht veröffentlicht und der Ombudsmann, der für die Gemeindeangestellten zuständig ist, hatte bisher kaum etwas zu tun. «Das wird sich noch ändern», ist er überzeugt. Und Spälti erinnert an die Dimension des Projekts, «Blessuren werden da unvermeidlich sein.»

Die riesige Elmer-Citro-Werbung im Bahnhof von Glarus weist den Weg zur dritten Grossgemeinde. Sie hat wohl die schwierigste Ausgangslage. Unter dem Arbeitstitel «Glarus Süd» sollen sich siebzehn Dörfer aus zwei Tälern zusammenschliessen, dem Sernf- und dem Linthtal. Schwanden, wo die beiden Täler zusammenlaufen, ist der wirtschaftlich stärkste Ort der neuen Kommune. Sinnbild dafür sind die riesigen Fabrikhallen der Kunststoff AG gleich neben dem Bahnhof. Das Hinterland gilt als strukturschwach, die Umgebung könnte als Lehrpfad der Industriegeschichte dienen: Viele der Fabrikanlagen stammen aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert, nicht wenige stehen leer. Das künftige Gemeindegebiet hat keine geografischen Gemeinsamkeiten, zwischen den beiden Tälern steht der über 2700 Meter hohe Kärpf. Entsprechend schwer fällt es, sich auf einen gemeinsamen Namen zu einigen. Unter den 34 Vorschlägen finden sich die Namen Solmio, Tödiland, Zweitalen, Fryberg, Schwanden, Kärpf - und Glarus Süd.

Mathias Vögeli ist Gemeindepräsident von Rüti im Linthtal und im Projekt Glarus Süd als «Beinsteller» aktiv. Das bedeutet, dass er sich mit seiner Meinung bei allen Arbeitsgruppen einmischen darf. Er kann auch bereits gefällte Entscheide nochmals hinterfragen. Für ihn ist klar, was für das Gelingen der Fusion entscheidend sein wird: «Die Abläufe müssen einfach und transparent sein.» Oder konkreter: «Am 1. Januar 2011 muss die Schneeräumung genauso gut funktionieren wie vorher.» Wenn dies gelinge, werde es auch mit der Akzeptanz der neuen Zentralgemeinde klappen, ist er überzeugt.

Doch was ändert sich eigentlich konkret für die rund 40 000 Glarnerinnen und Glarner? Schliesslich ist das Ganze vor allem eine Strukturreform, die Dörfer verschwinden nicht, sogar die Ortstafeln bleiben. Die möglichen Veränderungen lassen sich am Beispiel von Rüti aufzeigen. Dort verkauft die Gemeindeverwaltung auch Abfallsäcke, seit es den Dorfladen nicht mehr gibt. Es gebe auch die Idee, einen Verein zu gründen, der gewisse gesellschaftliche Funktionen übernehmen könnte, erzählt Mathias Vögeli und illustriert dies an einem Beispiel: Die Gemeinde organisiere jedes Jahr einen «Putztag». Rund sechzig Einheimische und BesitzerInnen von Ferienhäusern setzen etwa gemeinsam einen Weg wieder instand. «Leute, die sonst kaum etwas miteinander zu tun haben, reden miteinander», erklärt Vögeli. Dass solche Anlässe weitergeführt werden, sei für das Identitätsgefühl innerhalb der Dorfgemeinschaft wohl wichtiger als ein besetzter Schalter im Gemeindehaus, ist er überzeugt.