Internationale Arbeitsorganisation: Für die Würde der Arbeit

Nr. 18 –

Ende April feierte die International Labour Organization in Genf ihren 90. Geburtstag. In der gegenwärtigen Krise tritt die ILO aus dem Schatten der Welthandelsorganisation: Die G20 hat ihr ein wichtiges Mandat übertragen.


«Die ILO ist überproportional von Arbeitern, genauer gesagt, Gewerkschaften geführt», schreibt der Thinktank der US-amerikanischen Rechten, die Heritage Foundation, tadelnd im Januar dieses Jahres. Die International Labour Organization (ILO) ist das einzige internationale Gremium, in dem sich Arbeiter- und UnternehmervertreterInnen zusammenfinden, um international gültige Normen zu erarbeiten. Sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1919 gegründet. Ziel: den Weltfrieden durch eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen aller Menschen zu sichern.

Ein Schwerpunkt der Tätigkeit ist die Setzung von Arbeitsnormen - das erste ILO-Übereinkommen von 1919 legte Obergrenzen für die Länge der Arbeitszeit in der Industrie fest. Inzwischen gibt es gegen 190 solcher Konventionen. Mit der «Agenda für menschenwürdige Arbeit» von 1999 hat die ILO ihre Arbeit auf vier strategische Ziele ausgerichtet: zum einen die Umsetzung der Kernarbeitsnormen (wie Vereinigungsfreiheit, Abschaffung von Zwangs- und Kinderarbeit und Diskriminierungsverbote), sodann menschenwürdige Beschäftigungsmöglichkeiten, die Stärkung der sozialen Sicherheit und der Dialog zwischen den Sozialpartnern.

Zeitenwende

Bis 1974 hatte die Internationale Arbeitsorganisation ihren Sitz in Genf direkt am See. Dann zog sie weg vom pulsierenden Zentrum in die Peripherie der internationalen Quartiere im Norden der Stadt. Die früheren Räumlichkeiten der ILO hingegen wurden von der heutigen Welthandelsorganisation WTO übernommen - ein fast schon symbolischer Wechsel genau zu der Zeit, als in Chile der erste blutige Versuch neoliberalen Wirtschaftens begann. Er sollte die von der WTO geförderte Globalisierung einläuten.

Nun sieht die ILO eine Zeitenwende gekommen: «Wir kritisieren seit Jahren ein gewisses Modell der Globalisierung, das einseitig und exzessiv auf Markt und Finanzwirtschaft setzt», sagt Philippe Egger, stellvertretender Direktor des Kabinetts von ILO-Generaldirektor Juan Somavia. Somavia wurde letzten November für eine dritte Amtsperiode an der Spitze der Organisation bestätigt - es war ein eigentliches Plebiszit für den chilenischen Diplomaten, nachdem der französische Arbeitgeberverband mit einem Gegenkandidaten gedroht hatte. Die ILO hatte ein Projekt für prekäre Jugendarbeitsverträge in Frankreich kritisiert. Es sei nicht mit den internationalen Regeln konform. Die Kritik trug zum Scheitern des Projektes bei.

Somavia begann seine diplomatische Karriere unter Präsident Salvador Allende. 1998 wurde er zum Generaldirektor der ILO gewählt. Als einer der Ersten sprach er von der «ethischen Leere» der Globalisierung, die sie «moralisch inakzeptabel und politisch nicht lebensfähig» mache. Nun hat die ILO recht bekommen: Die Finanzkrise ist zu einer globalen Wirtschaftskrise geworden. «Eine soziale Krise unerhörten Ausmasses ist in Vorbereitung», sagt Philippe Egger.

Die von der Organisation am 28. Januar prognostizierten Zahlen sind erschreckend: Bis zu 50 Millionen Menschen könnten im laufenden Jahr weltweit ihre Arbeit verlieren. Die Zahl der arbeitenden Armen, die trotz Arbeit nicht über die Armutsgrenze von zwei Dollar pro Tag kommen, könnte sich auf 1,4 Milliarden erhöhen - 45 Prozent der Beschäftigten weltweit. Der Anteil der ungesichert Beschäftigten könnte im schlimmsten Fall auf 53 Prozent aller Beschäftigten steigen. Die ILO glaubt nicht an eine baldige Erholung: «Selbst wenn wir davon ausgehen, dass wir im Mai oder Juni die Talsohle erreichen, dauert die Wirtschaftskrise noch ein bis zwei Jahre. Und bis die Zahl der Arbeitsplätze wieder das Niveau von 2007 erreicht, schreiben wir das Jahr 2012, 2013 oder 2014», sagt Egger.

Das Mandat

Schon letzten Oktober schlug die Organisation Alarm. Es handle sich nicht nur um eine Krise der Wall Street, schrieb sie am 20. Oktober 2008 und forderte das Wiederherstellen der Kreditflüsse, die Verbesserung des sozialen Schutzes, Kredite für Unternehmen zur Vermeidung von Entlassungen, eine Garantie für öffentliche Entwicklungshilfe, den Wiederaufbau eines Regulationssystems für die Finanzwelt, Investitionen in nachhaltige Entwicklung. Und siehe da, die ILO erhielt vom G20-Gipfel in London ein wichtiges Mandat: Sie soll die Konsequenzen der Krise auf die Arbeitsplätze einschätzen und Vorschläge für den nächsten G20-Gipfel im September vorbereiten.

Unia-Gewerkschafter Vasco Pedrina, der im Juni als Chef der Delegation des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) an der jährlichen ILO-Konferenz in Genf teilnehmen wird, freut sich: «Die ILO musste bisher die Rolle des armen Verwandten spielen. Es war eine der Forderungen der internationalen Gewerkschaften, dass sie endlich in den Prozess der Reregulierung der Finanzmärkte und der Reorientierung der Wirtschaft einbezogen wird.»

An der Konferenz in Genf, an der 4000 Delegierte aus 183 Ländern teilnehmen werden, will die ILO einen «globalen Beschäftigungspakt» erarbeiten und verabschieden. «Die nationalen Konjunkturpakete sind einseitig und ungenügend», kritisiert Vizedirektor Egger. «Sie unterstützen die Banken oder sehen Steuersenkungen vor, statt dass sie die Schaffung von Arbeitsplätzen und den sozialen Schutz fördern.» Unter den Massnahmen, die die ILO im Rahmen dieses Paktes vorschlagen will, stehen in erster Linie solche für öffentliche und private Investitionen in Sektoren, in denen viele Arbeitsplätze geschaffen werden können: etwa im Bereich von nachhaltigen Energie- und Umwelttechnologien, Wohnungsbau, Infrastrukturen, Trinkwasserversorgung und Abwassersanierung. «Auch der soziale Schutz muss ausgebaut werden», so Egger. Einer der Vorschläge betrifft ein garantiertes Mindesteinkommen für die Ärmsten in armen Ländern. Das Einkommen könnte unter gewissen Bedingungen - etwa Schulbesuch der Kinder, regelmässiger Arztbesuch - vor allem an Frauen ausbezahlt werden.

Die Arbeit der ILO ist nicht unumstritten. Im bereits zitierten Bericht der Heritage Foundation wird gefordert, die Organisation solle sich auf ihre «eigentliche Arbeit» konzentrieren, nämlich die Verbesserung der Arbeitswelt. Stattdessen stosse die ILO einen Haufen soziale Projekte an, greife Umweltthemen auf und wolle sichtlich zur führenden Organisation einer regulierten Globalisierung werden. Die Foundation würde es gar nicht schätzen, wenn eine internationale Organisation sich zur Richterin über den «richtigen Ausgleich» zwischen Beschäftigung und sozialem Schutz aufschwingen wolle.

«Mal stärker auf den Tisch hauen»

Kritik kommt allerdings auch von links. Unter der Hand wird innerhalb der ILO ein explosiver Bericht des englischen Universitätsprofessors Guy Standing weitergegeben. Sein Titel: «The ILO, An Agency for Globalization?» Standing wirft der Organisation vor, sich von der Erarbeitung zwingender Normen hin zu weichen, schlecht überprüfbaren Empfehlungen und moralischen Aufforderungen zu bewegen. Ausserdem tue sich die ILO schwer, mit den globalisierten Formen von Arbeit klarzukommen. Insbesondere mit der drastisch zunehmenden, per Definition ungeschützten und nicht gewerkschaftlich strukturierten Arbeit im informellen Sektor.

Von InsiderInnen kann man weiter die Kritik hören, Generaldirektor Juan Somavia sei «zu sehr Diplomat» und wolle vor allem niemandem wehtun. Auch SGB-Vertreter Vasco Pedrina wünscht sich, dass die Organisation ab und zu und stärker auf den Tisch haut. Der SGB hat schon im Jahr 2003 bei der ILO eine Klage gegen die Schweiz eingereicht. Denn die Schweiz respektiert zwar die Koalitionsfreiheit, das heisst das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und Betätigung, kennt aber kein Recht auf Wiedereinstellung bei gewerkschaftsfeindlichen Kündigungen. Die Höchststrafe, die einem Arbeitgeber droht, ist die Zahlung von sechs Monatslöhnen.

Geplagte Schweizer Regierung

Die SGB-Klage wurde vom Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der ILO behandelt, der sie guthiess und die Schweiz aufforderte, ihre Gesetzgebung anzupassen. Trotz der ILO-Rüge beharrt der Bundesrat jedoch bis heute auf der Haltung, der Kündigungsschutz sei «angemessen und ausreichend». Dass dem nicht so ist, zeigt der Fall der Genfer Manor-Verkäuferin Marisa Pralong. Anfang dieses Jahres wurde ihr gekündigt, weil sie als Gewerkschaftsvertreterin die Arbeitsbedingungen der Warenhauskette kritisiert hatte. Der SGB überlegt sich, diesen neuen Angriff auf die gewerkschaftliche Freiheit der ILO zu unterbreiten. Auch die Forderung nach einer internationalen Untersuchungskommission gegen die Schweiz wird im SGB diskutiert.

Welche Möglichkeiten hat die ILO überhaupt, ihren Vorschlägen Nachdruck zu verleihen? Sollte sie nicht, wie sich das Vasco Pedrina wünscht, mehr Druck ausüben, gar Sanktionen ergreifen können? «Unser Prinzip ist Freiwilligkeit und Dialog, ergänzt durch internationale Überwachung», sagt Egger. Dies sei besser als Sanktionen. Er glaubt an das Gespräch zwischen Arbeiter- und Unternehmerseite und Regierungen, an diesen Tripartismus, der die Originalität der ILO darstellt. «Nehmen wir das Beispiel der Kinderarbeit. Vor fünfzehn Jahren konnte man noch das Argument hören, wonach Kinderarbeit einen Marktvorteil bedeute. Dank unserer Überzeugungsarbeit schätzen jetzt die meisten Länder Kinderarbeit als Markthindernis ein und unterstützen uns bei ihrer Bekämpfung.»

Egger unterstreicht, dass der globale Beschäftigungspakt, den die ILO im Juni erarbeiten will, mehr als ein Stapel Papiere sein soll: «Wir wünschen uns, dass er auf nationaler Ebene durch dreiseitige Verhandlungen erarbeitet und auf internationaler Ebene durch den Beitritt möglichst vieler Länder effektiv wird.» Trotz Kritik schätzt auch Pedrina die Rolle der ILO als bedeutend ein. «Nehmen wir die Sache mit dem ungenügenden Kündigungsschutz bei gewerkschaftsfeindlichen Kündigungen. Die Schweizer Regierung hat zwar bisher nicht auf die Kritik reagiert, aber es ist offensichtlich, dass es sie plagt, wenn sie von der ILO international an den Pranger gestellt wird.» Die «moralische und praktische Wirkung» der ILO-Regeln dürfe nicht unterschätzt werden.

Philippe Egger jedenfalls ist optimistisch, dass die Werte der ILO an ihrem 90. Geburtstag, der vom 21. bis 28. April gefeiert wurde, aktueller denn je sind. «Die Würde der Arbeit und der Arbeitenden, der soziale Dialog und die soziale Gerechtigkeit, diese Werte haben einen Weltkrieg, unzählige Konflikte, mehrere Rezessionen und auch die Globalisierung überstanden.»


Prekäre Verhältnisse bei der ILO



Ausgerechnet die Internationale Arbeitsorganisation ILO beschäftigt einen Teil ihrer Angestellten in prekären Arbeitsverhältnissen. Die sogenannten «shorts» sind auf kurze Zeit befristete Arbeitsverträge, die vom nächsten abgelöst werden und so jahrelang dauern können. Sie gehören laut Informationen von InsiderInnen bis heute zur Normalität am Sitz der ILO.

Gemäss Pressemeldungen gibt es «shorts», die genau fünf Monate und drei Wochen dauern; nach sechs Monaten müssten Sozialleistungen bezahlt werden. Im Jahr 2006 machten PersonalvertreterInnen auf einen Mangel an sozialem Dialog in der Organisation aufmerksam. In einer Rede vor der Verwaltungskommission, die der WOZ vorliegt, kritisierten sie einen besonders stossenden Fall: Ein zu «short»-Bedingungen angestellter Mitarbeiter wurde nach Ablauf des Vertrags kurzerhand zum «externen Mitarbeiter» und nach Ablauf dieses Vertrags gleich auch noch zum «Stagiaire» degradiert - eine dreifache Prekarisierung mit immer weniger Lohn und Sicherheit für die immergleiche Arbeit.

Philippe Egger von der ILO relativiert: Es gebe bei der ILO eine gewisse Anzahl von Arbeiten mit begrenzter Dauer, wie etwa das Übersetzen während Konferenzen und Sessionen, wo Kurzarbeitsverträge angemessen seien. Die Anzahl der Kurzarbeitsverträge für reguläre Arbeit habe hingegen seit zehn Jahren stark abgenommen: «Wir haben strenge Direktiven erlassen, dass unsere Funktionäre normale Verträge erhalten.» Pressemeldungen über das Fortdauern der «shorts» beruhen für Egger auf «vereinzelten Fällen».