Die Europäische Union: Auf der Suche nach Europa

Nr. 2 –

Die Beziehungen der Schweiz zur EU stecken in der Krise, die europäische Währung ist im Sinkflug, und so hat es die Europäische Union in den letzten Monaten wieder in die Schweizer Schlagzeilen geschafft. Doch was genau ist die EU? Wer hat darin das Sagen? Und wo steuert sie hin? Eine Reportage aus dem Brüsseler EU-Quartier.


Zuletzt hatte ich Ulrike Lunacek im letzten Sommer getroffen. Zum Kaffee, im Kreuzgarten eines Klosters in Bregenz, wenige Kilometer hinter der Schweizer Grenze. Neben uns plätscherte ein Brunnen, aus einem weissen Festzelt nebenan drangen Stimmen: Österreichs Grüne hatten zu einer Konferenz geladen. Thema: «Für eine Europäisierung von unten».

Sie habe gegen den EU-Beitritt Österreichs gestimmt, vertraute mir Lunacek damals an, entsprechend der Parole ihrer Partei. Es war eine Stimme gegen einen Staatenbund, der an einem Demokratiedefizit leide und beherrscht sei von einem marktradikalen Projekt. Doch zwei Drittel der ÖsterreicherInnen wollten es anders: 1995 trat Österreich der EU bei – drei Jahre, nachdem das Land gleichzeitig mit der Schweiz sein Beitrittsgesuch eingereicht hatte.

Die Schweiz blieb draussen.

Nun ist es Winter. Lunacek und ich sitzen in roten Ledersesseln in der Cafeteria des EU-Parlaments in Brüssel, hinter einer langen gebogenen Glasfront, durch die man in einen Park hinunterblickt; zwischen den Bäumen spielen Kinder Fussball. Seit Mitte 2009 sitzt die einstige österreichische Nationalratsabgeordnete als eine von 55 grünen EU-Abgeordneten im 736-köpfigen Parlament.

Und? Wie würde Lunacek heute entscheiden, müsste Österreich über einen Beitritt befinden? «Ich würde auf jeden Fall Ja stimmen.» Wenn Europa auf der politischen Weltbühne mitreden wolle, meint die Abgeordnete, dann habe es nur geeint eine Chance. Und ja, natürlich sei auch die EU kein ideales Staatsgebilde: Das Demokratiedefizit wiege nach wie vor schwer; und auch das marktradikale Gedankengut sei nicht verschwunden – damit richte die EU auch ausserhalb ihrer Grenzen viel Schaden an. Doch da, sagt Lunacek, müsse man halt kämpfen, dass sich etwas ändere.

So denke sie nicht erst seit sie hier in Brüssel sitze. Am Tag nach der Abstimmungsniederlage 1994 hätten sich die Grünen gesagt: «So, jetzt versuchen wir diese EU von innen zu verändern.»

Und was denkt Lunacek über die Schweiz? Hat sie Verständnis, dass selbst viele Linke nicht in die EU wollen? Lunacek seufzt. «Ja sicher, schon aus meiner eigenen Geschichte heraus.» Und dennoch: Die Schweizer müssten viele EU-Beschlüsse übernehmen. «Da sollten sie schon schauen, dass sie mitentscheiden können.»

Und seit Lissabon, meint Lunacek, habe das Parlament auch endlich ein gewichtiges Wort mitzureden.

Der Weg nach Lissabon

Der Lissaboner-Vertrag trat 2009 in Kraft. Bis dahin hatte die EU einen langen Weg hinter sich gebracht.

Am 9. Mai 1950 trat Robert Schuman im französischen Aussenministerium am Quai d’Orsay vor die Presse, um eine historische Deklaration zu verlesen: Europa, so forderte der damalige französische Aussenminister fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, solle seine gesamte Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Behörde unterstellen – um künftig einen Krieg in Europa technisch unmöglich zu machen. Ein Jahr darauf gründeten Frankreich, Deutschland, Italien und die Beneluxstaaten die Montanunion. Der Grundstein für die künftige EU war gelegt – inklusive ihrer politischen Institutionen: Hohe Behörde, Ministerrat und parlamentarische Versammlung.

Über die folgenden Jahrzehnte wuchs die kleine Staatenfamilie nicht nur zu einem Bund aus 27 Mitgliedsländern heran: Aus der Montanunion entwickelte sich schon bald ein ambitioniertes Wirtschaftsprojekt. Bereits die Römischen Verträge (1958) schrieben das Ziel einer europäischen Freihandelszone fest – mit freiem Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- sowie Personenverkehr. Und der Vertrag von Maastricht (1993) machte aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine Union mit gemeinsamer Währung (Euro) und Zentralbank.

Und das war nicht alles: Maastricht festigte die Union auch politisch. Mit der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Und vor allem mit einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik.

Über die Jahre übertrugen die Mitgliedsstaaten damit immer mehr Entscheidungsmacht an die Hohe Behörde (später Kommission). Und so wurde diese über die Jahre auch einer immer stärkeren demokratischen Kontrolle unterstellt: Mit der Einheitlichen Akte (1986), den Verträgen von Maastricht, Amsterdam, Nizza und schliesslich Lissabon entwickelte sich die parlamentarische Versammlung zu einem eigentlichen Parlament mit gewählten Abgeordneten und weitreichenden Kompetenzen.

Allerdings blieb die EU auf halbem Weg stehen (vgl. unten «Aus Sicht der Bürger ist das zu wenig»): Auch nach dem Vertrag von Lissabon bleibt die Macht in den Händen der Kommission, die das alleinige Recht hat, Gesetze zu initiieren – und der Mitgliedsstaaten: Ihre Regierungen ernennen die Kommissionsmitglieder und stellen die Minister im Rat (Ministerrat), eine Art zweite Parlamentskammer, die die Gesetze gutheisst.

Das EU-Parlament kann anders als in Demokratien üblich, weder neue Gesetze in die Wege leiten noch die Exekutive (Kommission) bestimmen; und selbst bei der Verabschiedung der Gesetze bleibt seine Mitsprache gegenüber dem Ministerrat beschränkt – in der Aussenpolitik etwa bestimmt der Ministerrat allein.

Das Flüstern der Lobbyisten

Umso mächtiger sind in Brüssel dagegen die Wirtschaftskonzerne.

Das sagt auch Paul DeClerck, den ich einen Tag später in einer Kneipe in einem populären Brüsseler Quartier treffe, wenige hundert Meter vom Parlament entfernt. Der 46-jährige Niederländer, der im sorgfältig gebügelten Hemd erscheint, sitzt seit fünf Jahren in der Leitung von Alter-EU: Das Bündnis aus 160 nichtstaatlichen Organisationen verfolgt das Ziel, das Lobbying der Wirtschaftskonzerne in Brüssel aufzudecken.

«Die Politik der EU-Kommission wird von der Wirtschaft dominiert», sagt DeClerck. Und dies dank der sogenannten Expertengruppen: Plane die Kommission ein Gesetz, setze sie als Erstes eine Gruppe mit externen Beratern ein, die einen Vorschlag ausarbeiten. «Rund 500 solche Gruppen gibt es», sagt DeClerck, während er mir eine Studie unter die Nase schiebt. «Und viele von ihnen sind vollständig von Lobbyisten beherrscht.»

Die Studie nimmt die 19 Expertengruppen unter die Lupe, die 2009 für die Regulierung der Finanzmärkte zuständig waren. Ihr Befund: Drei von vier der externen ExpertInnen waren VertreterInnen der Finanzbranche. Nur ein Viertel von ihnen kam aus der Wissenschaft oder einer nichtstaatlichen Organisation. Und: Den 150 KommissionsbeamtInnen standen insgesamt 229 LobbyistInnen gegenüber.

Doch ist das in den Nationalstaaten anders? Immerhin war in der Schweizer Kommission zur «Too big to fail»-Problematik die Hälfte der Mitglieder Vertreter und Vertreterinnen des Finanzmarkts? Natürlich gebe es das auch auf staatlicher Ebene, meint DeClerck. Doch nicht in diesem Ausmass. Das zeigten schon die Zahlen: Den 20 000 Kommissionsbeamten in Brüssel stünden etwa gleich viele Wirtschaftslobbyisten gegenüber – wie viele genau, wisse niemand, da bis heute nur ein freiwilliges Lobbyregister existiere.

Das Problem, sagt DeClerck, seien aber nicht nur die vielen Lobbyisten. Entgegen dem, was viele Leute glaubten, sei die Brüsseler Verwaltung äusserst klein – jede grössere europäische Stadt habe mehr Beamte. Das verschaffe der Wirtschaft zusätzlichen Einfluss.

«Doch es gibt etwas, das noch viel bedeutender ist», sagt DeClerck: «Brüssel ist eine Blase.» Die Beamten kämen in der Regel nur für ein paar Jahre hierher – sie seien hier nicht verwurzelt, hätten weder Freunde noch Familie. «Also leben sie hier unter dieser Glocke, inmitten Tausender von Lobbyisten.» Täglich würden sie sich im EU-Viertel mit ihnen treffen – an Tagungen und Konferenzen, in Restaurants und abends in den Bars.

«Mit der Zeit», sagt DeClerck, «glauben die Kommissionsbeamten selber, Europa sei am besten gedient, wenn sie die Interessen der Wirtschaft vertreten.» Es sei kein Zufall, dass acht der dreizehn kürzlich abgetretenen EU-Kommissare einen Job in der Privatwirtschaft hier in Brüssel übernommen hätten – so wie das auch unzählige Beamte der Kommission täten.

Und diese Verstrickung mit der Wirtschaft, sagt DeClerck, finde man auch bei den Parlamentsabgeordneten. Vor allem bei denen der Europäischen Volkspartei.

Die EU als Wirtschaftsmacht

Auf zu Joseph Daul, dem Fraktionspräsidenten der Europäischen Volkspartei, mit 265 Sitzen die weitaus grösste Fraktion im Parlament.

Von der Kneipe geht es links durch schmale Gassen, entlang heruntergekommener Fassaden, an Kebab-Buden und kleinen arabischen Krämerläden vorbei – bis an die Rue du Trône. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite taucht man in das EU-Viertel ein: Eine Welt aus modernen Hochhäusern und riesigen Bauten aus Glas und Beton. Mittendrin: das Gebäude des Ministerrats, gleich daneben die Kommission und etwas weiter südlich das Parlament – ein lang gezogener Glaspalast.

Am Eingang werden die Personalien notiert, das Gesicht digital registriert. Durch eine Metallschleuse geht es dann über eine Rolltreppe hinauf in ein Labyrinth aus langen Teppichgängen, Aufzügen und weiten Lobbys, in denen Frauen auf hohen Absätzen und Männer in teuren Anzügen irgendwelche Geschäfte beraten. Rechter Gebäudeflügel, fünfter Stock, Zimmer 357: Daul ist ein kleiner Mann mit Doppelkinn und freundlichem Gesicht. Nur die Weite seines Büros und das kleine eingerahmte Bild an der Wand, auf dem er mit Frankreichs Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy posiert, verraten, dass der 63-Jährige Elsässer im Parlament die Fäden zieht.

Und? Was hält Daul von der Kritik, in Brüssel würden die Wirtschaftskonzerne regieren? «Ganz ehrlich?», sagt Daul nach einer kurzen Pause. «Diesen Eindruck habe ich nicht.» Manche Leute würden beim Wort Lobbying gleich an ein Monster denken, an Geld und Korruption. Doch ihn würden die Lobbyisten nicht stören. Im Gegenteil. Er höre ihnen gerne zu und könne von ihnen auch manches lernen. Und am Schluss, beteuert Daul, entscheide er, wie er es für richtig halte.

Und die Kommission? Haben die Konzerne dank der Expertengruppen darin nicht viel zu sagen? «Ach», Daul verzieht das Gesicht. So würden Leute denken, die in ihrem Leben nur Politik gemacht hätten. Er hingegen habe hier früher selbst lobbyiert – wenn auch nicht für einen Konzern: Als Bauer habe er die Interessen der Landwirtschaft vertreten. Ich solle doch mal nach China, Indien oder Brasilien blicken, bringt Daul plötzlich einen anderen Blickwinkel in die Diskussion: «Diese Länder sind wirtschaftlich am Explodieren!» Da könne man doch nicht ... Daul stockt und schaut mich fragend an.

Besteht der Zweck der EU für Daul also darin, den aufstrebenden Wirtschaftsmächten die Stirn bieten zu können? «Ganz genau!» Und die EU sei ökonomisch auch stark, sagt Daul. «Das Europäische Projekt ist vor allem ein gemeinsamer Markt mit 500 Millionen Konsumenten – das ist alles andere als vernachlässigbar!» Europa müsse deshalb noch stärker und geeinter werden. «Ein kleines Frankreich oder Deutschland kann da alleine nichts ausrichten.»

Plötzlich klingelt Dauls Mobiltelefon. «Einen Augenblick.» Daul erzählt seinem Gesprächspartner von einem Geschäftsfrühstück, das er kürzlich mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hatte, bespricht ein paar bevorstehende Parlamentsabstimmungen und kehrt dann mit dem Telefon am Ohr an den Tisch zurück: «Ja, Martin ... wir verstehen uns ... ja, bin völlig einverstanden ...gut, auf Wiedersehen Martin.»

Martin Schulze sei das gewesen, sagt Daul, der Präsident der EU-Fraktion der Sozialdemokraten. Das sei doch gut, dass ein Schweizer Journalist mal sehe, wie prima sich die beiden grossen Fraktionen verstünden. In den wichtigen Dossiers sei man sich fast immer einig. Und mit zusammen 451 der 736 Sitze verfüge man über eine komfortable Mehrheit.

«Ausser in der Sozialpolitik», fügt Daul an – da müsse seine Partei hin und wieder mit den kleineren Fraktionen der Rechten zusammenspannen. Denn die Sozialdemokraten würden ein sozialeres Europa fordern. Doch die Steuer- wie auch die Sozialpolitik, bemerkt Daul, sei ja nach wie vor fast ausschliesslich in den Händen der Mitgliedsstaaten – da habe die EU ohnehin kaum etwas zu melden.

So sei das in Brüssel halt, versucht mich Daul aufzuklären, der klassische Links-rechts-Konflikt werde hier oft von einem anderen Dissens überlagert: Jenem zwischen Kommission und Parlament einerseits, die sich für eine starke, geeinte und solidarische Union einsetzten, und den Mitgliedsstaaten andererseits, die oft auf der Bremse stünden, wenn es um ihre Interessen gehe.

«Und ja», fügt Daul an, «gerade in diesen Zeiten tragen wir mit den Regierungen der Mitgliedsstaaten einen harten Kampf aus.» Auch die Regierungen der Bürgerlichen, die seine Partei auf EU-Ebene vertrete – jene Deutschlands, Frankreichs, – hätten sich lange schwer getan, den tief verschuldeten Staaten wie Irland, Spanien oder Portugal unter die Arme zu greifen. Obwohl das den Euro noch zusätzlich gefährdete.

Doch Krisen, zitiert Daul ein Bonmot, das man in Brüssel derzeit an jeder Ecke hört, hätten die EU jedes Mal noch stärker zusammengeschweisst.

Daul will also die Nationalstaatsgrenzen überwinden, um aus der EU eine Supermacht zu machen. Und wo sollen die neu en Grenzen liegen? Die Türkei, antwortet Daul, könne nicht zur EU gehören, das habe er schon immer gesagt. Das Land werde die europäischen Regeln niemals einhalten können – da sei er sich ganz sicher. Was es aber brauche, sei eine starke Kooperation – denn Ankara sei ein sicherheitspolitisch und wirtschaftlich wichtiger Partner.

Und die Schweiz? «Hören Sie», sagt Daul mit einem müden Lächeln. «Die Schweiz ist hier in Brüssel schlicht kein Thema.» – «Gar keins?» – «Gar keins.» Natürlich gebe es hier und dort Diskussionen über Steuerflucht oder die tiefen Unternehmenssteuern für Holdings – doch diese Probleme, sagt Daul, werde die EU auch ohne Schweizer Beitritt lösen.

Das andere Europa

Unterwegs im gegenüberliegenden Seitenflügel, in dem die linken Abgeordneten zu Hause sind.

Nach einem kurzen Besuch bei einem italienischen Sozialdemokraten, der von der guten Zusammenarbeit mit Joseph Daul erzählt, lande ich im Büro von Rui Tavares, einem kleinen Mann mit kurz gestutztem Bart und runder Brille. Tavares hält einen der 35 Sitze der Linksfraktion (GUE/NGL), nach den SozialdemokratInnen und den Grünen die dritte linke Partei im EU-Parlament.

«Pro-Europäer? Ja ich bin überzeugter Pro-Europäer.» Wenn die Europäer im Machtkampf zwischen China und den USA etwas ausrichten wollten, sagt Tavares, dann müssten sie das gemeinsam tun. Gerade sein eigenes Land habe alleine keine Chance mitzuhalten, meint der 37-jährige Portugiese. Zudem gebe es heute viele Probleme, die die Europäer nur gemeinsam lösen könnten. Und, fügt Tavares an, ihm gehe es noch um etwas anderes: darum, den Nationalstaat und den Nationalismus zu überwinden. Die Idee des Föderalismus im Sinne einer Überwindung der nationalstaatlichen Grenzen sei schon immer eine linke Idee gewesen.

Die nationalen Egoismen überwinden, nur um einen neuen Superstaat zu schaffen, wie das der Konservative Daul will? Kein Widerspruch? «Es stimmt schon: In Europa schlummern noch viele nostalgische Gefühle», sagt Tavares nach einer kurzen Pause, «vor allem in den ehemaligen Imperialstaaten.» Viele Politiker hofften, den alten Ruhm ihrer Nation auf die EU übertragen zu können; solche gebe es selbst in seiner Fraktion, etwa unter den Franzosen, die die EU vor allem als Bastion gegen die USA verstünden.

Am Abend zuvor hatte mir ein österreichischer FPÖ-Parlamentarier bei einem Bier erklärt, er habe 1994 für den EU-Beitritt gestimmt, um über die EU den Anschluss an Deutschland zu erreichen – und der islamischen Welt die Stirn zu bieten.

Doch das, sagt Tavares, sei nicht sein Projekt: Er kämpfe für ein Europa, das eine humane und verantwortliche Aussenpolitik verfolge, die auch die Interessen Lateinamerikas, Asiens oder Afrikas respektiere. Der einstige EU-Abgeordnete Altiero Spinelli habe einst gesagt, obwohl Italiener, werde er den Interessen Europas stets den Vorrang geben – er, sagt Tavares, werde sich zwischen den Interessen Europas und jenen der Welt stets für die Welt entscheiden.

Zudem könne er sich auch vorstellen, die heutige EU-Grenze zu überwinden: «Sobald die Türkei die Menschenrechte und die übrigen EU-Auflagen einhält, soll sie beitreten.» Vielleicht werde einst auch Russland zur EU gehören – und ja, irgendwann könnte die EU eine Art Weltregierung werden, sagt Tavares, und zitiert den Philosophen Immanuel Kant, der die Idee 1795 in seinem Entwurf «Zum ewigen Frieden» skizziert hatte.

Das ist seine Vision. Doch ist die heutige EU nicht vielmehr eine geschlossene Wirtschaftsmacht, die im globalen Wettkampf ihre Interessen zu verteidigen sucht? «Das stimmt», sagt Tavares. Doch daran sei nicht zuletzt auch die Linke schuld. Während jene, die dem sogenannten dritten Weg anhängen, die Ideen der Bürgerlichen übernähmen, vergeudeten die anderen – darunter viele seiner Fraktion – ihre Energie damit, alles zu bekämpfen, was von der EU komme. Sie würden sich etwa gegen eine europäische Aussenpolitik stemmen – doch die existiere längst. «Statt zu boykottieren, sollten wir sagen: ‹ihr wollt eine gemeinsame Aussenpolitik? Dann machen wir das. Aber anders als die USA›».

Die Linken müssten endlich mitreden. Und dazu, sagt der Portugiese mit einem Lächeln, dazu brauche es auch jene der Schweiz.

Doch zuallererst, sagt Tavares, gelte es, sich für die Mitsprache selbst einzusetzen. Denn da liege die eigentlich grosse Frage, vor der Europa heute stehe: Wer soll die EU regieren? Heute sei das eine von Wirtschaftskonzernen dominierte Bürokratie. Und diese EU, sagt Tavares, wolle auch er nicht. Der EU fehle heute die Legitimität, um im Namen ihrer 500 Millionen Bürger handeln.

Er, sagt Tavares, fordere eine demokratische EU. Mit einem starken Parlament, das die politischen Interessen der Bürger vertrete. Ein Parlament, das das Recht habe, Gesetze in die Wege zu leiten und auch die Kommission zu wählen – wenn man das nicht sogar den Bürgern der EU selbst überlassen wolle.

Natürlich könnten auch in diesem Europa Politiker ans Ruder kommen, die nur die Interessen der Wirtschaft im Auge hätten. Doch immerhin wären sie dazu legitimiert.

«Heute stehen wir mitten in einem reissenden Fluss», sagt Tavares. Man habe die eigenen Demokratien zuhause ein Stück weit verlassen, sei aber noch nicht in der europäischen Demokratie angekommen. Jetzt gebe es zwei Alternativen: Entweder man kämpfe sich bis ans andere Ufer, wie er das fordere – oder man krebse zurück, wie es etliche seiner Fraktionskollegen wollten.

«Doch mittendrin stehen bleiben», sagt Tavares, «das geht nicht.» Eine föderale EU ohne Demokratie werde Europa in denAbgrund reissen.



Die wichtigsten Institutionen der EU

Europäischer Rat: Der Europäische Rat tritt zweimal jährlich zusammen, um die grundsätzliche Ausrichtung der EU-Politik festzulegen. Der Europäische Rat setzt sich aus den EU-Staats- und Regierungschefs zusammen, dazu kommen der Präsident (aktuell: Herman Van Rompuy) sowie der Kommissionspräsident.

EU-Kommission: Sie vertritt die Exekutive der EU und hat das alleinige Recht, Gesetze zu initiieren. Die Kommission besteht aus 27 Mitgliedern (einem pro EU-Mitgliedsland) inklusive einem Kommissionspräsidenten (aktuell: José Manuel Barroso). Die KommissarInnen werden von den EU-Mitgliedern ernannt und vom Parlament bestätigt.

Rat (Ministerrat): Der Rat stellt eine Art zweite Parlamentskammer statt, die bei der Verabschiedung der Gesetze die Interessen der Mitgliedsstaaten vertritt. Der Ministerrat besteht jedoch nicht aus gewählten SenatorInnen, sondern aus den – je nach Geschäft sich abwechselnden – MinisterInnen der EU-Mitgliedsländer.

Parlament: Das EU-Parlament verabschiedet zusammen mit dem Ministerrat die Gesetze und vertritt dabei die Interessen der EU-BürgerInnen. Das Parlament ist allerdings weit weniger mächtig als der Ministerrat. In gewissen Verfahren kann es den Gesetzen lediglich zustimmen (oder sie ablehnen), in anderen wird es nur konsultiert, und in gewissen Fällen entscheidet der Ministerrat gar allein. Das Parlament setzt sich aus 736 von den EU-BürgerInnen gewählten VertreterInnen zusammen.

Demokratie in der EU : «Aus Sicht der Bürger ist das zu wenig»

Ab 2012 werden EU-BürgerInnen die Möglichkeit haben, der Kommission Gesetzesvorschläge zu unterbreiten. Eine der treibenden Kräfte hinter der Europäischen Bürgerinitiative war der grüne Abgeordnete Gerald Häfner.

WOZ: Herr Häfner, wie demokratisch ist die EU?

Gerald Häfner: Verglichen mit anderen internationalen Organisationen ist die EU mit Abstand das demokratischste Gebilde. Doch aus der Sicht der Bürger sieht es anders aus: Für sie ist die EU weit weg, sie haben nicht das Erlebnis, Entscheide beeinflussen zu können.

Wer hat in der EU das Sagen?

Die europäischen Verträge gestehen den Mitgliedsstaaten und der Kommission ein sehr grosses Mass an Macht zu, dem Parlament ein eingeschränktes und den Bürgern unmittelbar gar keines.

Doch seit dem Lissabon-Vertrag kann das Parlament in den meisten Fällen die Gesetze gemeinsam mit dem Ministerrat verabschieden.

Das Gewicht des Parlaments ist gewachsen. Doch es ist eine Frage des Massstabs: Das Parlament kann keine Gesetze initiieren, und ihm fehlt auch das Letztentscheidungsrecht darüber.

Dieses hat der Ministerrat. Doch kann man den nicht als zweite Parlamentskammer betrachten, vergleichbar mit dem Schweizer Ständerat?

Im Kern ist der Ministerrat eine Exekutive: In ihm sitzen die Minister der Mitgliedsstaaten. Es müssten Senatoren gewählt werden, die unmittelbar dem Volk gegenüber verantwortlich sind, und deren Entschiede nachvollziehbar sind.

Sind sie das nicht?

Der Rat ist eine Blackbox, eine dunkle Kiste. Wir wissen in der Regel nicht, wer einen bestimmten Entscheid herbeigeführt hat. Viele der Entscheide werden nicht von Ministern sondern von Beamten getroffen. Zudem haben die Minister im Rat einen Doppelhut auf: Einerseits sind sie Regierungsvertreter, andererseits europäische Mitgesetzgeber. Darum spielen sie sich gerne auch selbst die Bälle zu.

Wie meinen Sie das?

Manches Gesetz, von dem die Regierungen wissen, dass es auf nationaler Ebene auf zu viel Protest stossen würde, bringen sie ein halbes Jahr später in der EU ein. Denn auf EU-Ebene können die Bürger deutlich weniger gegen Gesetze tun, und deren Verabschiedung geht häufig am Bewusstsein weiter Bevölkerungskreise vorbei.

Wird damit nicht auch die Demokratie der Mitgliedsstaaten selbst unterhöhlt?

Ja, es führt tatsächlich zu einem erheblichen Abbau der Demokratie.

Ab 2012 kann der Kommission Gesetzesvorschläge unterbreiten, wer für sein Anliegen eine Million Unterschriften sammelt. Was erhoffen Sie sich davon?

Im Vergleich zur Schweizer direkten Demokratie ist die Europäische Bürgerinitiative ein laues Lüftchen. Die Bürger werden nur Anregungen machen können – keine Entscheide erzwingen und schon gar keine fällen. Dennoch ist die Bürgerinitiative ein enormer Schritt: Sie könnte europaweite Debatten auslösen und helfen, eine europaweite Zivilgesellschaft zu schaffen.

Bürgerinitiativen bergen auch die Gefahr, dass Populisten sie missbrauchen.

Das ist die Gefahr jeder Demokratie. Anders als in der Schweiz wird sich die Bürgerbeteiligung aber in gewissen Grenzen bewegen müssen: die der der Grund- und Menschenrechte.

Die Kommission wird die Begehren prüfen?

Ja, wobei gegen den Entscheid der Rechtsweg offen stehen muss. Am Ende müsste der Europäische Gerichtshof entscheiden.

Fürchten Sie sich mehr vor den europäischen Eliten und Institutionen als vor den Bürgern der EU?

Ja, definitiv. Es gibt in Brüssel eine Tendenz hin zum Totalitarismus der Institutionen: Das Totalitäre besteht darin, dass der Zugang zur Macht extrem ungleich verteilt ist, dass sich etwa ökonomische Eliten Entscheidungen kaufen. Hier in Brüssel rund um die EU-Institutionen hat sich ein Geflecht von Lobbyorganisationen gebildet.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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