Tagebuch-Eintrag vom Weltsozialforum in Dakar: Das Forum als Schule zum selber denken

Nr. 5 –

Beat Dietschy

Das Weltsozialforum neigt sich dem Ende zu. In thematischen Versammlungen wird heute zusammengetragen, was in den vergangenen Tagen in rund tausend Podien, Workshops und Netzwerktreffen angedacht und ausgetauscht worden ist. Nun geht es darum, Aktionspisten zu diskutieren und Zusammenarbeit zu vereinbaren.

Beispielsweise im Blick auf «Rio plus 20». Die Uno-Konferenz im Mai 2012, zwanzig Jahre nach dem Erdgipfel von 1992, muss einem neuen Entwicklungsmodell zum Durchbruch verhelfen, das den Namen «nachhaltig» tatsächlich verdient, darüber besteht ein breiter Konsens. Das Fiasko der Klimakonferenzen von Kopenhagen und Cancún darf sich nicht wiederholen, mahnt der kanadische Umweltaktivist Pat Mooney. Und der bolivianische Uno-Botschafter Pablo Solón, der in Cancún als einziger Landesvertreter dem kläglichen Verhandlungsergebnis in der Schlussabstimmung die Zustimmung verweigert hatte, doppelt nach: Die Reproduktionsfähigkeit der Ressourcen sei mit Marktmechanismen nicht zu garantieren. Er fordert eine Weiterentwicklung des Uno-Rechtssystems, in dem auch Rechte der Natur festgeschrieben werden.

Der Vorschlag für Rechte der Natur stösst auf Sympathien. Aber man hebt dabei – erstaunlicherweise – nicht ab. Diskutiert wird vor allem, wie in den vierzehn Monaten bis zur Konferenz in Rio eine breite Mobilisierung der Bevölkerung erreicht werden kann. Denn «Rio II» darf nicht scheitern oder in wortreichen Nullsummenspielen enden. Eine neue Zivilisation wird gesucht, aber nicht beschworen. Es geht vor allem darum, die Weichen richtig zu stellen. Der Austausch in der «Rio plus 20»-Versammlung ist, während ich dies hier schreibe, noch im Gange. Auch in den rund drei Dutzend andern Foren wird noch nach Konvergenzen gesucht, so etwa in den Bereichen Schuldentilgung, Freihandelsverträge, Frauen und Entwicklung, Wasser als öffentliches Gut. Es ist entsprechend unmöglich, sich bereits einen Überblick über die Resultate des Forums zu verschaffen. So frage ich in unserer Reisegruppe nach dem, was bleibt. «Dieses Forum ist genial», lobt Catherine Morand von Swissaid das riesige Angebot der Austauschmöglichkeiten. Für jede und jeden gebe es etwas zu entdecken. Walo Bauer, Stiftungsrat von Fastenopfer, ist beeindruckt von der Kunst der Improvisation, die er in Senegal und am Forum erlebt hat: «Mit zum Teil prekärsten Mitteln wird Erstaunliches erreicht». Chaos sei nicht immer negativ, pflichtet auch Anne-Catherine Menetrey von den Grünen bei: Man spreche über viele Themen und treffe auf Menschen, denen man sonst nie begegnet wäre. Rosmarie Dormann von Bethlehem Mission Immensee sind besonders die starken und selbstbewussten afrikanischen Frauen aufgefallen. Einen ähnlichen Akzent setzt Therese Steiger-Graf, ebenfalls von der Bethlehem Mission: «Das Selbstbewusstsein der Menschen hier ist bemerkenswert». Ausserdem erwarte niemand, dass ihm oder ihr geholfen werde. Die dörflichen Spargruppen entscheiden selber, wie sie ihr Geld einsetzen wollen. Das gelte selbst im Grossen, wenn es etwa um die Wahl der Staatsform oder von Handelspartnern geht. Das widerlegt das gängige Afrikabild. Isolda Agazzi von Alliance Sud betont, dass kaum einfache Parolen oder ideologische Konzepte feilgeboten würden. Das Gewicht liege bei der Suche nach Lösungen, der vertieften Analyse und neuen Handlungsansätzen. Und Thomas Gröbly von der FHS Nordwestschweiz ist von der «engagierten Gelassenheit» überrascht, die er bei vielen angetroffen hat.

Mir selber geht es genauso. Seit 2003, als ich am dritten Weltsozialforum in Porto Alegre dabei war, hat sich das Treffen weiter entwickelt. Zwar haben sich weltweit die Krisen verschärft und multipliziert: Krieg in Irak und in Afghanistan, gescheiterte Staaten, Wirtschafts- und Finanzkrise, Konsequenzen des Klimawandels, die ohne Antwort der Regierungen bleiben. Sehr konkret haben Betroffene über die Folgen berichtet: Frauen, die mit unbezahlbaren Lebensmittelpreisen konfrontiert sind; Bauern, denen ihre Überlebensgrundlage, ihr Land und der Zugang zu Wasser weggenommen wird (Land- und Wassergrabbing); MigrantInnen ohne Perspektiven; unterbezahlte Lehrerinnen und Lehrer. Aber trotz Protest und scharfer Kritik dominieren nicht die Rufe nach Instantlösungen. Mir scheint, dass die Bereitschaft sogar zugenommen hat, langfristige Auswege aus der Mehrfachkrise zu suchen. Und auch das Mass an Selbstkritik ist beachtlich: Nicht einfach die andern sind schuld, etwa die (zweifellos vorhandenen) multinationalen Konzerne, die sich landwirtschaftliche Böden sichern. Auch die einheimischen Landlords und das Versagen der Regierung werden benannt, genauso wie die eigenen Fehler. Das Forum ist noch stärker eine Plattform für Lernen durch Begegnung und Austausch geworden, quasi eine Experimentier-Werkstatt, in der Allianzen geschmiedet werden. So haben sich Gruppierungen zusammengefunden, die gegen die desaströsen Folgen von Bergbau im Kongo, in Peru und Mexiko angehen. Ihr ambitiöses Ziel: die Raubbauwirtschaft überwinden. Der Wille, eine andere, bessere Welt zu schaffen, ist ungebrochen. Und es scheint mir, dass die Einsicht, diese werde nicht aus einem grossen Wurf geboren, sondern gewinne aus den vielen Puzzleteilen des Umdenkens, Umlernens, Andersmachens langsam Gestalt, noch gewachsen ist.

Das Forum ist in diesem Sinne für mich eine Schule des Ungehorsams gegenüber jeder «pensée unique» und eine Schule der Entwöhnung, die zum Selberdenken führt. Angestossen vom «Süden», der, wie der ägyptische Ökonom und Kritiker des Neokolonialismus Samir Amin sagt, «eigenständig denkt und handelt».

Dies ist der letzte Eintrag vom Weltsozialforum 2011 in Dakar, das vom 6. bis 11.2. 2011 stattgefunden hat.