Durch den Monat mit Christine Goll (Teil 5): Was raten Sie Ihrer Partei für die Wahlen?

Nr. 26 –

Die scheidende Nationalrätin findet, dass die Sozialdemokratie 
wieder den Anschluss an die sozialen Bewegungen 
finden muss, und träumt von einer grossen Grossmütter-, 
Mütter- und Tochterbewegung.

Christine Goll: «Die ‹Suche nach der Mitte› bedeutet bloss, sich nach rechts anzubiedern. Das ist komplett falsch, so gewinnt man auch keine Wahlen.»

WOZ: Frau Goll, was bleibt Ihnen nach über zwanzig Jahren im Nationalrat in bester Erinnerung?
Christine Goll: Ich konnte an wichtigen Errungenschaften wie etwa der Mutterschaftsversicherung oder dem verbesserten Opferschutz bei sexueller Gewalt mitwirken.
Was mir aber ebenso wichtig ist, sind die Erfolge, die keine mediale Beachtung fanden. Denn als Nationalrätin habe ich auch die Möglichkeit, die Macht meiner Position zu nutzen und somit ein Stück mehr Gerechtigkeit her­auszuholen.

Das tönt sehr abstrakt, haben Sie ein Beispiel?
Ende der neunziger Jahre wandte sich eine Frau aus Rumänien an mich, die häuslicher Gewalt ausgesetzt war und sich deshalb von ­ihrem Mann scheiden liess. Zu diesem Zeitpunkt war sie jedoch noch nicht lange genug mit ihm verheiratet, sodass sie ihre Aufenthaltsbewilligung verlor. Ich hatte 1996 eine parlamentarische Initiative für ein zivilstandsunabhängiges Aufenthaltsrecht von Migrantinnen eingereicht, um genau solche Ungerechtigkeiten zu verhindern. Die Frau las in der Zeitung darüber und schrieb mir einen Brief, in dem sie ihre Geschichte schilderte. Ich legte das Dossier der damaligen Justizministerin Ruth Metzler vor, worauf die Frau das provisorische Aufenthaltsrecht bekam. Zusammen mit dem Fraueninformationszentrum FIZ besorgten wir ihr einen Anwalt – heute ist die Frau eingebürgert und, wie sie sagt, «stolze Moossee­dorferin». Natürlich hatte sie das nicht nur mir und dem FIZ zu verdanken – die Frau erkämpfte sich einen grossen Teil selber.

Was machen Sie, wenn Sie sich gerade mal nicht im Nationalrat für Ihre Ziele einsetzen?
Lohnarbeit (lacht)! Und das werde ich auch weiterhin tun. Ich möchte den Schwerpunkt künftig wieder auf die berufliche Bildungsarbeit legen, denn hier liegt ein grosses Potenzial zur gesellschaftlichen Veränderung. Ich bin aber auch offen für Neues und könnte mir vorstellen, für eine Weile im Ausland zu arbeiten, wie ich das auch schon getan habe.

Ist es Ihnen zu eng in der Schweiz?
Es gibt schon eine gewisse Enge hier, ja.

Wo oder wie spüren Sie diese?
Ich dachte es heute Morgen wieder: das Fixiertsein auf Wahlkämpfe zum Beispiel. Wir hatten Kommissionssitzung, wobei es unter anderem um eine von CVP und FDP geforderte Schuldenbremse der AHV und um die Erhöhung des Rentenalters von Frauen ging. Es war klar: Es ist Wahlkampf. Jetzt krebsen die Bürgerlichen plötzlich zurück. Denn auch sie wissen, dass das äusserst unpopuläre Forderungen sind. Das bedeutet für mich «Enge». Diese Art von Kalkül auch in der institutionellen Politik, die Visionslosigkeit, das sture Festhalten an irgendwelchen neoliberalen Ideen, die man um jeden Preis durchboxen will.

Apropos Kalkül: Was raten Sie Ihrer Partei für die Wahlen im Herbst?
Ich bin überzeugt, dass es noch nie so wichtig war, eine starke Linke zu haben, wie heute. Die Auswirkungen der Finanzkrise und die sich weiter öffnende Schere zwischen Armut und Reichtum zeigen das. Die Linke wird aber nur stärker werden, wenn sie den Bogen zu den sozialen Bewegungen wieder herstellen kann: zu den Gewerkschaften, zum Mieterinnen- und Mieterverband, zu Frauen­organisationen, zur Umweltbewegung oder zur «neuen Friedensbewegung», wie ich sie wahrnehme, die sich vor allem für Migrantinnen und Asylsuchende einsetzt. Die SP darf sich nicht damit zufriedengeben, ein Sekretariat zu haben, das den Wahlkampf managt, sondern muss auch Ressourcen zur Verfügung stellen, damit die Sektionen dezentral Aktionen machen und in den Land­gemeinden präsent sein können. Sie muss wieder gezielt Allianzen mit den sozialen Bewegungen suchen – und diese leben. Die SP sollte die soziale Frage wieder ins Zentrum ­ihrer Politik rücken. Diese «Suche nach der Mitte» bedeutet bloss, sich nach rechts anzubiedern – und das ist komplett falsch, so gewinnt man auch keine Wahlen.

Eine neue soziale Bewegung hat sich bereits angekündigt: die Grossmütterrevolu­tion. Frauen der 68er-Generation gingen Anfang Juni auf die Strasse, um das überholte gesellschaft­liche Bild der passiven oder auf das Hüten der Enkelkinder reduzierten Rentnerinnen um­zugestalten. Wofür wird Ihre Generation in zehn oder zwanzig Jahren auf die Strassen gehen?
Wohl immer noch für ähnliche Anliegen. Was ich mir wünschte, wäre jedoch eine Bewegung der generationenübergreifenden Frauensolidarität. Das ist ein Thema, das mich schon seit langem beschäftigt. Es gibt ja diese Klischees: Die Alten leben auf Kosten der Jungen, die Jungen kümmern sich nicht um ihre alternden Eltern. Das stimmt in Wirklichkeit nicht. Untersuchungen zeigen, dass viele junge Eltern nur arbeiten können, weil die Gross­eltern nach ihren Enkel schauen. Und umgekehrt kümmern sich viele Leute um ihre Eltern, wenn diese pflegebedürftig werden. Zudem baut mit der AHV eine der wichtigsten Sozialversicherungen auf dieser Solidarität auf. Also wenn Sie mich fragen, was mich in zehn, zwanzig Jahren interessieren würde, dann wäre es eine Grossmütter-, Mütter- und Tochterbewegung, die ein gemeinsames Projekt hätte.

Christine Goll (54) war von November 2003 bis Dezember 2009 Präsidentin der Gewerkschaft VPOD und ist noch bis Herbst sozialdemokratische Zürcher Nationalrätin.