El Salvador: Die Natur ist nicht böse

Nr. 34 –

Kaum ein Dorf auf der Welt ist den Fährnissen der Natur so ausgeliefert wie San Pedro Masahuat in El Salvador: Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüche, Hurrikane, Überschwemmungen – alles hat es hier schon gegeben. Mit dem Klimawandel wird es noch schlimmer.


Wenn es regnet in San Pedro Masahuat, einem kleinen Ort in der Provinz La Paz im Süden El Salvadors, dann richtig: Es fühlt sich fast so an, als stehe man unter einem Wasserfall. Fünf Minuten lang ist das angenehm nach einem tropischen schwül-heissen Tag. Danach wird es gefährlich, und Ovidio Rivera wird nervös. Er stellt das knackende Funkgerät vor sich auf den Tisch und starrt hinein, als wäre es ein kleiner Fernsehapparat.

Rivera wohnt im Ortsteil Tierras de Israel, ganz nahe bei der Mündung des Río Jiboa in den Pazifischen Ozean. Weiter oben im Tal gehen Männer im strömenden Regen hinaus an den Fluss, zu den Messpegeln am Rand seines Betts. In der Trockenzeit, wenn der Jiboa zu einem Rinnsal verkümmert, stehen sie fast hundert Meter vom Flusslauf entfernt und einige Meter über dem Wasserspiegel: einfache Säulen aus Stahlbeton, gut zwei Meter hoch. Das untere Drittel ist grün angestrichen, danach kommt ein Drittel Gelb, und oben sind sie rot.

«Gerade noch im grünen Bereich», tönt es knackend aus Riveras Funkgerät. Und schon zehn Minuten später: «Gelb und steigend.» Rivera geht hinüber zur Hütte des lokalen Notstandskomitees. Das auf Stelzen gezimmerte Gebäude ist Einsatzzentrale und Notaufnahmelager in einem. «Wenn es oben am Ilopango-See eine Stunde lang schüttet, saufen wir hier unten ab», sagt er. «Da braucht bei uns kein Tropfen Regen zu fallen.» In diesem Fall hat er fast zwei Stunden Vorwarnzeit. Der Ilopango-See liegt siebzig Kilometer flussaufwärts. Wenn es aber oben schüttet und unten in San Pedro Masahuat auch, dann schmilzt die Vorwarnzeit auf weniger als eine Stunde zusammen, und Rivera greift sofort zum Mikrofon.

Keiner mehr ertrunken

«Achtung! Achtung!», krächzt es dann aus den Lautsprechern, die auf hohen Eisengerüsten in jedem grösseren Weiler der weit verstreuten Gemeinde stehen. «Der Jiboa nähert sich der Alarmstufe Rot! In zehn Minuten leiten wir die Evakuierung ein!» Zwei Flüsse fliessen im Gemeindegebiet von San Pedro Masahuat in den Jiboa. Wenn alle drei Flüsse Hochwasser führen, kann es schnell sehr kritisch werden. In den Streusiedlungen draussen, wo keine Lautsprecher installiert sind, gehen Leute von Hütte zu Hütte und klopfen an die Türen. Wer sich in Sicherheit bringt, soll nichts mitnehmen ausser einer Decke. «Es ist wie beim Glücksspiel», sagt Rivera. «Kommt das Wasser, oder kommt es nicht? Und wie viel Wasser wird kommen? Wenn man zu oft warnt, gehen die Leute nicht mehr aus dem Haus, obwohl es dringend notwendig wäre.»

In den vergangenen Jahren wurden die tiefer gelegenen Ortsteile von San Pedro Masahuat mindestens einmal pro Jahr überflutet. Jedes Mal blieben ein paar wenige in ihren Hütten, weil sie fürchteten, diese würden während ihrer Abwesenheit geplündert. Das ist schon öfter vorgekommen. Jedes Mal stieg Rivera nachts in den Fluss und holte die Zurückgebliebenen von Dächern und Bäumen. Der Mann ist gross und stark und wirkt mit seinem schwarzen Schnauzer und dem Dreitagebart fast ein bisschen gefährlich. Früher, im salvadorianischen Bürgerkrieg von 1980 bis 1991, war er bei der Guerilla. So einen kann nichts mehr schrecken, denkt man sich. Aber nachts in einen tosenden Fluss zu steigen, sagt er, «das ist unheimlich». Der sonst so friedliche Jiboa sei dann so laut, dass man sich selbst schreiend kaum verständigen könne. «Ein rollendes dunkles Geräusch, da friert es dich.» Aber immerhin: Seit dem Wirbelsturm Stan von 2005 ist in San Pedro Masahuat kein Mensch mehr ertrunken. «Das ist für mich ein Erfolg», sagt Rivera.

Das entwaldete Land

Überschwemmungen, meist im Zusammenhang mit oft tagelangen Sturzregen, begleitet von karibischen Hurrikanen, sind nur eine der Unbilden der Natur, die San Pedro Masahuat zu gewärtigen hat. Im Süden vor der pazifischen Küste stossen die Karibische und die Cocosplatte aufeinander. Wenn sie aneinander reiben, kommt es zu schweren Erdbeben, bisweilen auch zu einem Tsunami. Und im Norden der Gemeinde steht der Chinchontepeque, ein aktiver Vulkan.

Als ob das nicht schon genug wäre, hat der Mensch das Gefahrenpotenzial noch erhöht. Ausser Haiti ist kein Land in der westlichen Hemisphäre stärker entwaldet als El Salvador. Kaum zwei Prozent des ursprünglichen Baumbestands sind übrig geblieben, der Rest ist Monokulturen zum Opfer gefallen: zunächst Indigo, dann Kaffee und schliesslich auch noch Baumwolle und Zuckerrohr. Auch für den Städtebau wurde heftig abgeholzt. El Salvador ist mit 270 EinwohnerInnen pro Quadratkilometer überbevölkert, und wegen der häufigen Erdbeben wird meist nur ein- und seltener zweigeschossig gebaut. Das frisst Boden.

Nackter oder monokulturell bebauter Boden nimmt viel weniger Wasser auf als natürlicher Wald. Die Fluten schwemmen die Krume weg. «Guck dir doch unsere Flüsse an», sagt Angel Ibarra, Vorsitzender der Umweltorganisation Unes. «Die sind braun wie Schokolade. Das ist alles beste, fruchtbare Erde.» In manchen Gegenden sei in den vergangenen vierzig Jahren eine Humusschicht von über einem Meter verloren gegangen. Die Ernten gehen zurück. Und mit den zu erwartenden Folgen des Klimawandels werde alles noch schlimmer.

Es ist schon heute schlimm genug. Nach einer Studie des Uno-Büros zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Ocha) ist El Salvador weltweit das Land mit dem höchsten Anteil an Risikozonen: 88,7 Prozent der Gesamtfläche sind als solche eingestuft. Dort leben 95,4 Prozent der Bevölkerung und erwirtschaften 96,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In den vergangenen hundert Jahren erlebte das Land, das etwa halb so gross ist wie die Schweiz, zwölf schwere Erdbeben, zwei Tsunamis, acht Vulkanausbrüche und unzählige Überschwemmungen nach tropischen Wirbelstürmen. Die bekanntesten waren die Hurrikane Mitch im Jahr 1998 und Stan im Jahr 2005, beide hatten Hunderte von Toten zur Folge.

Drei dieser Katastrophen sind auf einem Wandgemälde an der Mauer eines Kiosks in einem kleinen Park in Las Isletas zu bestaunen. Der ebenfalls zu San Pedro Masahuat gehörende Weiler liegt gerade einmal dreizehn Meter über dem Meeresspiegel. Das erste Bild zeigt die Folgen eines Hurrikans von 1934 (damals hatten die Wirbelstürme noch keine Namen). Das ganze Tal war überflutet. Nur einzelne Dächer ragten noch wie Inselchen aus dem Wasser – Las Isletas bekam der Ort seinen heutigen Namen. 1975 – dargestellt auf dem zweiten Bild – wurde das Dorf von den Fluten des Hurrikans Fifi noch einmal fast vollständig weggespült. Das dritte Bild schliesslich zeigt das verheerende Erdbeben von 2001: Am 13. Januar krachten vor der Küste die Karibische und die Cocosplatte zusammen. In San Pedro Masahuat stürzten über 3000 Häuser ein. Diese drei Bilder zeigen nur einen kleinen Ausschnitt aus all den Katastrophen.

Trotzdem wohnen dort noch immer Menschen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten kamen sogar noch mehr. «Wo sollen wir sonst hingehen?», fragt Ovidio Rivera, der selbst vor siebzehn Jahren nach San Pedro Masahuat gekommen ist. Zusammen mit anderen ehemaligen Guerilleros und Vertriebenen aus der Zeit des Bürgerkriegs hat er damals das Stück Land besetzt, das heute Tierras de Israel heisst. Der Name zeigt, wie hoffnungsfroh damals die BesetzerInnen waren: ihr gelobtes Land. Die Grossgrundbesitzer, die vor dem Krieg hier Baumwoll- und Zuckerrohrplantagen betrieben hatten, waren wegen der vielen Guerillaoperationen längst in die Hauptstadt oder gar ins Ausland verschwunden. Baumwolle war ohnehin nicht mehr rentabel, seit die Länder der ehemaligen Sowjetunion den Weltmarkt mit billigerer Ware überschwemmten.

Folge des Klimawandels

«Wir haben unser Land besetzt», erzählt Rivera. «Andere haben es gekauft, weil es hier billig ist, und wieder andere bekamen es nach dem Krieg von der Regierung.» Und natürlich sei es auch bequem, so nahe am Fluss zu wohnen. «Wir dachten, wir hätten dann nie Probleme mit Wasser.» Dass das Problem nicht Mangel, sondern Überfluss ist, das hatte damals niemand im Blick.

Sicher, es hatte schon früher Überschwemmungen gegeben. Aber Tote gab es so gut wie nie. «Als das hier noch alles Grossgrundbesitzern gehörte, standen die Unterkünfte der Landarbeiter weit ab vom Fluss», erinnert sich Santos Rodas, der Katastrophenschutzbeauftragte im Rathaus von San Pedro Masahuat. Durch die Pflanzungen verliefen Kanäle, die den Fluss bei hohem Wasserstand entlasteten. «Während des Krieges ist das alles zugewachsen und verloren gegangen.»

Zunächst hat das niemanden gestört. Aber die Fluten wurden häufiger und heftiger. In den vergangenen Jahren standen die flussnahen Weiler von San Pedro Masahuat durchschnittlich einmal im Jahr unter Wasser. «Über das Jahr verteilt, regnet es weniger», sagt Umweltschützer Ibarra. «Aber die Niederschläge sind viel stärker.» Für ihn ist das eine sichtbare Folge des Klimawandels.

Und es wird noch schlimmer kommen. Eine Studie von Cepal – der Uno-Wirtschaftskommission für Lateinamerika – geht davon aus, dass die zentralamerikanischen Länder stärker vom Klimawandel betroffen sein werden als die meisten anderen Weltgegenden. Im besten Fall werde die Durchschnittstemperatur bis zur nächsten Jahrhundertwende um 1,8 Grad steigen, im schlechtesten um 6,5 Grad. Die Niederschläge werden nach dieser Prognose um fünf bis dreissig Prozent abnehmen. Ähnlich düster sieht es bei der Produktion von Grundnahrungsmitteln aus.

Am härtesten wird es El Salvador treffen. Die Nachbarländer sind lange nicht so dicht bevölkert und haben zum Teil noch grosse Regenwälder, die für Ausgleich sorgen. Alle haben ein riesiges Überangebot an Wasser. Nur in El Salvador wird es jetzt schon knapp, trotz der Überschwemmungen in San Pedro Masahuat. Denn das wenige Wasser, das es gibt, ist meist vergiftet. Neunzig Prozent des Oberflächenwassers kommt für die Trinkwasseraufbereitung nicht infrage. Den Río Acelhuate, der die Hauptstadt San Salvador im Süden durchfliesst, riecht man, lange bevor man ihn sieht. Oft schäumt er wie ein Waschzuber und schillert in den verschiedensten Farben. Fische gibt es darin nicht mehr.

Umweltminister Herman Rosa Chávez hat sein Büro keine hundert Meter Luftlinie vom Acelhuate entfernt, oben im vierten Geschoss eines schlichten Betonklotzes. Das fünfte Geschoss wurde nach dem Erdbeben von 2001 abgetragen – aus Sicherheitsgründen. Für die fünfjährige Amtszeit der ersten linken Regierung des Landes hat er sich ein bescheidenes Ziel gesteckt: «Der Acelhuate soll am Ende nicht giftiger sein als am Anfang.»

Rosa Chávez ist klein und hager und wirkt trotz seines freundlichen Tons immer ein bisschen mürrisch – kein Mann für grosse Reden in der Öffentlichkeit. Nie hat man ihn irgendwo ein Bäumchen pflanzen sehen, und «es wird auch niemals solche Fotos von mir geben», sagt er. «Ich hasse symbolische Politik. Ich will keine grünen Inseln in einem Meer aus Gift. Sie interessieren mich nicht. Mich interessiert das Meer.» Er wird es in seiner Amtszeit nicht entgiften können. Das sei «nach Jahrzehnten der Verantwortungslosigkeit» gar nicht möglich. Man könne die Verwahrlosung der Natur nur abbremsen, im besten Fall aufhalten. Aber sie rückgängig zu machen, «das ist ein Prozess, der Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird».

Umweltschutz kostet Geld

Das Land habe zwar ein ganz passables Umweltgesetz, aber das sei in der Vergangenheit immer «mit dem Scheckbuch umgangen» worden. Im Klartext heisst das: Korruption. Rosa Chávez weiss von keinem einzigen Umweltsünder, der in Haft sitzen würde. Aber immerhin: Es gibt erste Verfahren. Der prominenteste Fall ist der Rechtsstreit um eine Batteriefabrik, zu deren Mitbesitzern ein ehemaliger Wirtschaftsminister gehörte. Die Fabrik hatte die ganze Gegend mit Blei vergiftet. Vor allem Kinder haben unverträglich hohe Bleiwerte im Blut und bleiben in ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung zurück. Die Fabrik ist inzwischen geschlossen, die Verantwortlichen haben sich ins Ausland abgesetzt. Eine Sanierung des Bodens, hat Rosa Chávez ausrechnen lassen, würde drei Milliarden US-Dollar kosten – fast so viel wie der Jahresetat der salvadorianischen Regierung.

Vor seiner Zeit als Minister hat Rosa Chávez als Angestellter eines Umweltverbandes selbst die Politik der Regierung kritisiert. Nach zwei Jahren im Amt backt er lieber kleine Brötchen. Er behauptet zwar, die Umweltpolitik stehe im Zentrum der gesamten Regierungsarbeit. Sein bislang konkretester Vorschlag aber ist, die grossen Schulferien von der Trockenzeit in die Hurrikansaison zu verlegen. Dann nämlich könnten die Schulen bei Überflutungen als Notunterkünfte genutzt werden. Man brauche sie nur mit Kochstellen und Waschsälen ausstatten – das schaffe man noch mit eigenen Mitteln. Für weitergehende Schutz- und Anpassungsmassnahmen brauche man Hilfe von aussen.

Dabei wäre durchaus mehr möglich, auch ohne internationale Geldgeber und auf rein administrativem Weg. Zum Beispiel mit einem Raumordnungsplan, der festlegt, wo gebaut werden darf und welche Flächen für die Landwirtschaft, für Naturreserven und für natürliche Überflutungsbecken vorgesehen sind. 50 Entwürfe für so einen Plan wurden bereits im Parlament eingebracht. 50 wurden von der Baulobby wieder zu Fall gebracht. Ein 51. ist derzeit nicht in Sicht. Denn Präsident Mauricio Funes versucht seit seinem Amtsantritt, die Unternehmerschaft davon zu überzeugen, dass der Regierungswechsel von extrem rechts zu Mitte-links so schlimm für sie nicht werden wird, und geht jedem Konflikt mit der Industrie aus dem Weg.

Effektive Eigeninitiative

In San Pedro Masahuat warten die Menschen schon lange nicht mehr auf Hilfe aus der Hauptstadt. 2003, als zum ersten Mal ein Bürgermeister der zur Partei gewandelten ehemaligen Guerilla der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Marti (FMLN) gewählt wurde, schuf er im Rathaus die Stelle eines Katastrophenschutzbeauftragten. «Wir haben zunächst nur improvisiert», erzählt Santos Rodas, der dieses Amt heute innehat. «Wir wollten einfach keine Toten mehr bei Erdbeben und Überschwemmungen, und wir wollten den Überlebenden schnell helfen können.» In jedem Weiler wurde ein kleines Komitee gegründet, man arbeitete Evakuierungspläne aus, verhandelte mit Kirchen und Schulen, um ihre Räumlichkeiten im Notfall als Unterkunft verwenden zu können. Dann kam der erste Test.

Im Oktober 2005 raste der Hurrikan Stan über den Süden Mexikos sowie über Guatemala und El Salvador hinweg. Nicht der Sturm selbst, sondern die vom Regen ausgelösten Erdrutsche und Überschwemmungen töteten weit über 700 Menschen. Auch San Pedro Masahuat stand wieder einmal unter Wasser, ein Mensch starb. «Da merkten wir, was uns alles noch fehlt», sagt Rodas im Rückblick. «Als wir unsere Opfer mit Lebensmitteln versorgen wollten, mussten wir betteln gehen.» Niemand wollte etwas geben. Die Regierung nicht und auch nicht die internationalen Hilfswerke.

Heute gibt es ein offizielles Notstandskomitee, mit gewählten Sprechern in jedem Weiler und regelmässigen Katstrophenschutzübungen. Es gibt einen Raumordnungsplan für die Gemeinde, in dem die Hochrisikozonen rot eingezeichnet sind. Dort darf nicht mehr gebaut werden. Neue Bauprojekte werden nur noch genehmigt, wenn ihnen ein Risikogutachten beigefügt ist. Es gibt das Frühwarnsystem mit Messpegeln im ganzen Tal, mit Beobachtern, die mit Funkgeräten ausgestattet sind, und Lautsprechermasten zur Warnung in jedem Weiler der Gemeinde. Zehn Kilometer Damm wurden in Eigenarbeit gebaut sowie unzählige Stützmauern aus Altreifen, die nicht nur bei starkem Regen Erdrutsche verhindern. Auch bei Erdbeben sind nackte Hänge gefährlich: Die meisten Toten beim Beben von 2001 wurden nicht von einstürzenden Häusern erschlagen, sondern unter abrutschenden Erdmassen begraben. Allein in Santa Tecla, einem Vorort der Hauptstadt San Salvador, erstickten über 400 Menschen unter einem riesigen Hangrutsch. Der Berg, der da in die Tiefe stürzte, war vorher für ein neues Wohngebiet entwaldet worden.

Mit der Natur leben lernen

Die Vorbereitung auf die nächste Katastrophe hat in San Pedro Masahuat nicht viel gekostet. «Aber alleine», sagt Rodas, «hätten wir das nicht geschafft.» Vor allem Beratung hätten sie gebraucht – und natürlich die Funkgeräte und die Lautsprechermasten. Ein Hilfswerk hat sogar zwei Modellhäuschen auf Stelzen gebaut, um zu zeigen, wie man eine Überschwemmung trockenen Fusses zu Hause überstehen kann. An der regenreichen karibischen Küste auf der anderen Seite der zentralamerikanischen Landbrücke ist diese Bauweise gang und gäbe. In El Salvador war sie bislang unbekannt.

Das Wichtigste aber, sagt Rodas, war gar nicht materiell: «Wir haben gelernt, dass die Natur nicht böse ist, sondern dass wir verletzbar sind, weil wir mit ihr nicht umgehen können.» Klar, gegen die mit dem Klimawandel immer furchtbareren Sturzregen kann man in San Pedro Masahuat nichts unternehmen. Aber man kann versuchen, sich anzupassen statt aufzugeben.

Viele Kleinbauern im Jiboa-Tal hatten den traditionellen Maisanbau eingestellt. «Warum sollten wir uns abrackern, wenn nach der nächsten Überschwemmung die ganze Ernte weg war?», fragt Ovidio Rivera. «Und wenn sich die Fluten in einem Jahr in Grenzen hielten, kam mitten in der Regenzeit eine zehntägige Trockenperiode, und alles war verdorrt.» Eine verlorene Ernte bedeutet Schulden.

Der Saatgutmarkt Zentralamerikas wird vom ehemaligen salvadorianischen Präsidenten Alfredo Cristiani fast monopolartig beherrscht – mit Hybridsamen der multinationalen Konzerne, die selbst kein Saatgut reproduzieren. Kleinbauern müssen die Samen Jahr für Jahr zusammen mit den nötigen Düngern und Pestiziden kaufen. In der Regel nehmen sie dafür Kredite auf. Geht die Ernte verloren, können sie diese nicht bedienen.

«Wir dachten zunächst daran, zu Beginn der Trockenzeit auszusäen und nicht in der Regenzeit, wie wir es gewohnt waren», sagt Rivera. «Aber dann hätten wir unsere Felder bewässern müssen, und das kann sich hier niemand leisten.» So begannen sie, Gemüsegärten anzulegen. Sie lernten, eigenen Biodünger zu produzieren. Und sie stellten fest, dass sich mit Tomaten und Rettichen mehr Geld verdienen lässt als mit Mais.

Aber Mais ist nun einmal das Grundnahrungsmittel Zentralamerikas. Also suchten die Bauern anderes Saatgut. Ein Hilfswerk vermittelte Kontakte nach Guatemala. Im Norden des Nachbarlandes gibt es eine fast ausschliesslich von Maya bewohnte Gegend, in der über dreissig alte Sorten den Druck der internationalen Saatgutkonzerne überlebt haben; nicht nur die bekannten mit den weissen oder gelben Kolben, sondern auch solche mit blauen und schwarzen Körnern und sogar bunt gescheckte.

Inzwischen fanden in Guatemala und El Salvador vier kleine Messen statt, bei denen die Bauern ihr Saatgut tauschten. In San Pedro Masahuat wurde mit alten Sorten experimentiert. Die haben nicht nur den Vorteil, dass sie sich reproduzieren. Die meisten sind auch viel resistenter gegen Überschwemmungen und Dürren. Wenn dann noch die Wucht der Fluten mit Barrieren aus Bambus abgebremst wird, gibt es wenigstens immer etwas zu essen.

Keine weiteren Opfer

Den zweiten Test hat San Pedro Masahuat überstanden. Anfang November 2009, als sich der Hurrikan Ida über El Salvador ausregnete und in wenigen Stunden mehr Wasser vom Himmel fiel als in einer ganzen Woche während des Hurrikans Mitch, stand das untere Jiboa-Tal wieder einmal tief unter Wasser. Aber in San Pedro Masahuat ist kein Mensch ertrunken, niemand fiel einem Erdrutsch zum Opfer. Tote gab es nur in den weniger vorbereiteten Nachbargemeinden.

Trotzdem musste Ovidio Rivera wieder hinein in den grollenden Fluss. «Es gibt da ein altes Paar», erzählt er fast belustigt. «Die sind beide schon über achtzig Jahre alt und wohnen direkt unten am Wasser.» Nie wollten sie ihre Hütte verlassen, wenn evakuiert wird. Immer sagten sie, es werde schon nicht so schlimm kommen. «Ich weiss nicht, wie oft ich die Alte schon vom Dach geholt oder von einem Baum gepflückt habe.» Er habe ihr schon gedroht, das nächste Mal werde er nicht mehr kommen. «Aber ich will nicht, dass sie ertrinken. Sie sollen irgendwann ganz friedlich eines natürlichen Todes sterben. Vielleicht kaufe ich ihnen ein Boot.»

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