Palästina: Weg von den Eliten, hin zur Bevölkerung

Nr. 9 –

Seit dem Tod von Jassir Arafat haben die PalästinenserInnen für die Wahlen, die Machtübergabe und die neue Regierung viel Lob erhalten. Der neue Präsident hat klare Vorstellungen. «Nur wenn die Araber sagen, dass sie Krieg wollen, können wir Palästinenser von Krieg reden. Denn ohne die Araber können wir nicht kämpfen», sagte er einem Korrespondenten des iranischen TV-Senders al-Alam. Als der Interviewer nachhakte und von der «Macht des Willens» sprach, schaute Mahmud Abbas, genannt Abu Masen, verärgert auf die Uhr. «Ohne Ressourcen kann auch der Wille nichts ausrichten», sagte er.

Abu Masens Entscheidung, nicht mehr mit Waffen zu kämpfen, ist nicht einfach umzusetzen. Ihm stehen nicht nur Hamas, Islamischer Dschihad und die aus der Fatah-Bewegung hinausgewachsenen Al-Aksa-Brigaden gegenüber, sondern auch der Umstand, dass wir in den letzten vier Jahrzehnten Waffen und den bewaffneten Aufstand als Teil unserer revolutionären Sozialisation glorifiziert haben. Wir hatten eine sehr gute Ausbildung in bewaffnetem Widerstand und Selbstaufopferung, aber keinerlei Schulung in der Alternative, dem passiven oder zivilen Widerstand, erhalten.

Waffen und der Begriff vom bewaffneten Kampf machen den Kern unserer patriarchalischen Gesellschaft aus, Männlichkeit und Überlegenheit wurden an der Zahl der Waffen gemessen, die man für den Kampf mobilisieren konnte. Die Selbstmordattentate sind der offenkundigste Ausdruck dieser Kultur, denn die Religion allein schafft noch keine Selbstmordattentäter. Wer dieses Phänomen beseitigen will, muss auch die Bedingungen abschaffen, die es hervorgebracht haben - und sozialen Institutionen Geltung verleihen.

Während der letzten zehn Jahre unter Arafats Herrschaft haben militante Gruppen unsere Strassen kontrolliert, jede noch so kleine bewaffnete Gruppe konnte die Tagesordnung diktieren. Arafat hatte mit Waffen und Geld viele Konkurrenten geschaffen und sie mit noch mehr Waffen und Geld manipulieren können. Alle im Sicherheitsapparat - vom jüngsten und unerfahrensten Geheimpolizisten bis zum ältesten und fettesten Mitglied der alten Garde - spielten Arafats Spiel. Es war nicht nur sein Spiel, aber er beherrschte es am besten.

Präsident Abbas hat erkannt, dass er neue Institutionen, vor allem neue Regierungsinstitutionen aufbauen muss, wenn er sein Versprechen einlösen will. Er wusste von vornherein, dass dies keine einfache Sache werden würde, da sich unter Arafat Misswirtschaft und Korruption breit gemacht hatten. Den korrupten Beamten und Regierungsmitgliedern war bewusst, dass sie von Arafat gedeckt wurden und dass sie mit seinem Tod verwundbar geworden waren. Diese Spannung zwischen Abbas’ Visionen und der Vergangenheit hat sich in den letzten Tagen beim Streit um die Regierungsbildung gezeigt. Die Leute um Premierminister Ahmed Kurei wurzeln in der alten Ära.

Aber Mahmud Abbas steht nicht allein. Sein Wunsch, das Chaos der Milizen zu beenden, die innere Sicherheit zu stärken und etwas Ordnung ins Leben der Menschen zu bringen, wird seit langem von einer Mehrheit der Bevölkerung, einer Mehrheit in Fatah und der Mehrheit der Abgeordneten geteilt. Zu Arafats Zeiten hat das nur niemand sagen können. Nicht einmal das Parlament konnte frei entscheiden und beispielsweise eine Regierung ablehnen.

Das ist nun anders geworden. «Arafat konnte uns jede Regierung aufzwingen», sagte Hassan Chresche, der Vizepräsident des Parlaments, «aber jetzt sagen wir, was wir für richtig halten.» Kurei und die mächtigen Männer der alten Garde hatten geglaubt, dass es so weitergehen würde wie früher, aber sie haben die Menschen unterschätzt. Dass sich das Parlament fähig und die jüngere Fatah-Generation willens zeigte, den alten Zirkeln ein lautes Nein entgegenzurufen und Kureis ersten Kabinettsvorschlag ablehnten, war die einzig gute politische Tat im Palästina der letzten zehn Jahre. Mit ihr beginnt ein Wandel, der nicht nur die Regierungsbehörden, sondern auch die Parteien erfassen wird. In Fatah, der grössten politischen Gruppierung, hat seit 1989 keine Wahl mehr stattgefunden.

Ich bin kein grosser Optimist.

Bei uns kann sich innerhalb einer Minute alles ändern, Stabilität hat es nie gegeben, ständig stehen zu viele Köche in der Küche herum (sodass der Brei stets anbrennt). Aber den Glauben an die Menschen habe ich dennoch nicht verloren. Menschen können Dinge ändern, wenn sie das Gefühl haben, dass es auf sie ankommt, dass sie etwas zählen. In unserem Fall bestand das Verbrechen unserer «revolutionären» Führer darin, dass sie anstelle der Bevölkerung einen kleinen Zirkel über alle Fragen entscheiden liessen.

Mahmud Abbas bringt nun wieder die Menschen ins Spiel, denn auf sie wird er sich in Zukunft stützen müssen. Die Israelis und die USA können den Präsidenten zu einem gewissen Mass erfolgreich erscheinen lassen, aber zu einem wirklichen Erfolg kann ihm nur die palästinensische Bevölkerung verhelfen.