Antisemitisches Polen?: «Bist du ... Du weisst schon»

Nr. 27 –

Zehn Jahre lang hat er die jüdische Geschichte Polens aufgearbeitet. Nun konfrontiert der Aktionskünstler Rafal Betlejewski seine Landsleute mit dem Resultat.


Die meisten Graffiti in Warschau sind von der eher grobschlächtigen Sorte. «Legia» steht da geschrieben oder «Polonia» – die Namen der beiden Erstliga-Fussballklubs der Stadt. Nicht selten werden die Schriftzüge von den gegnerischen Fans an gemalte Galgen gehängt, durchgestrichen oder mit Beleidigungen ergänzt. Und manchmal hängt neben den Bilderscharmützeln der Fussballklubs auch ein gekritzelter Davidstern am Galgen.

WOZ: Ist Polen antisemitisch?

Rafal Betlejewski: Sie meinen, ob ich eine antisemitische Atmosphäre in Polen spüre? Nein. Juden waren hier nie ein Thema. Sie müssen das so verstehen: Als wir einmal eine Klassenfahrt nach Auschwitz unternahmen, wurde uns gesagt, hier seien eineinhalb Millionen Polen gestorben. Niemand hat Juden erwähnt.

Rafal Betlejewski ist ein schlaksiger Werbefachmann aus Sopot, einem Ostseebadeort in der Nähe von Danzig. Nach dem Gymnasium wanderte er in die USA aus, lebte dort in einer Hippiekommune, zog weiter nach England, dann zurück nach Polen, begann ein Psychologiestudium und eines an der Technischen Universität, war DJ und arbeitete für eine Werbeagentur. Heute ist er 41 Jahre alt und Geschäftsführer einer kleinen Warschauer Werbeagentur, deren wichtigste Kunden ein Wodkahersteller und ein Zigarettenkonzern sind.

Bekannt ist er aber vor allem als Aktionskünstler. Und noch bekannter dürfte er am 10. Juli werden. Dann wird er in Zawada, einem Dorf südwestlich von Warschau, eine Scheune abbrennen. Mit der Aktion unter dem Titel «Burning Barn» wird Betlejewski dem 69. Jahrestag eines Massenmordes gedenken, dessen geschichtliche Aufbereitung den Polen noch heute Mühe bereitet. Es geschah am 10. Juli 1941: Die Bewohner der Kleinstadt Jedwabne trieben ihre jüdischen Nachbarn auf dem Marktplatz zusammen, verfrachteten sie in eine Scheune ausserhalb der Ortschaft und verbrannten sie bei lebendigem Leib. Die grausame Tat soll ohne Zutun der deutschen Besatzer geschehen sein. So beschrieb es der US-Historiker Jan Tomasz Gross in seinem Buch «Nachbarn», das 2001 erschien. Jedwabne – zu Deutsch «seidig» – steht seitdem stellvertretend für die dunklen Kapitel eines Landes, das sich über die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg daran gewöhnt hatte, eine Opferrolle einzunehmen.

WOZ: Was hat das Buch «Nachbarn» bei Ihnen ausgelöst?

Betlejewski: Es wurde mir klar, dass ich das beste Beispiel eines polnischen Ignoranten bin. Ich wusste nichts darüber. Ich hatte keine Ahnung, dass hier überhaupt Juden lebten. Ich wusste nichts über ihre Traditionen, ihre Sprache. Sie waren komplett aus meiner Erinnerung gestrichen.

Für Betlejewski war das Erscheinen von «Nachbarn» der Beginn eines Prozesses. Heute, so sagt er, stehe er an dessen Ende. Während der letzten zehn Jahre las er sich in die jüdische Geschichte Polens ein, knüpfte Kontakte und suchte auch die heutigen BewohnerInnen von Jedwabne auf. Er freundete sich mit einer ortsansässigen Familie an. «Ja, dort waren Juden», folgerte er aus dieser Begegnung. «Und jetzt fehlen sie.»

Am 27. Januar 2010 – am internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – trug er das Resultat seines Lernprozesses an die Öffentlichkeit. Das Projekt heisst «Ich vermisse dich, Jude». Diesen Satz schreibt der Künstler nun auf die Wände polnischer Städte – in derselben krakeligen Schrift, in der auch die Fussballhooligans ihre Graffitigefechte austragen.

WOZ: Wie können Sie jemanden vermissen, den Sie nie kannten?

Betlejewski: Das Vermissen, die Sehnsucht – das ist es, was wir in Polen erleben. Weil es keine Juden mehr gibt. Man findet ihre Spuren höchstens noch in der Literatur. Calel Perechodnik schrieb sein Buch «Bin ich ein Mörder?» 1943, als er sich in Warschau vor den Deutschen versteckte. Er starb ein Jahr später, sein Manuskript lag beinahe sechzig Jahre lang irgendwo in einem Schrank. 2001 wurde es erstmals publiziert. Es ist ein Meisterwerk polnischer Literatur. Als ich es las, blieb mir der Atem weg.

Ein Nachruf auf Calel Perechodnik, verfasst von Betlejewski, ist einer der ersten Einträge auf der Website zum Projekt «Ich vermisse dich, Jude». Der Werbefachmann schaltete die Website zeitgleich mit dem Malen der ersten Graffiti auf. Bis heute sind über 200 Erinnerungsstücke eingegangen. Von PolInnen, die ihre jüdischen NachbarInnen vermissen, ihre jüdischen Pausenplatzgspänli, ihre jüdischen Kinderfrauen, Autorinnen und Komponisten. Und Betlejewski besucht die Leute, denen die Entbehrungen eine Last geworden sind – mit einen Stuhl im Gepäck, den er an den Orten der Erinnerung aufstellt und um den er Menschen positioniert. Wöchentlich gehen neue Fotos mit leeren Stühlen auf seiner Website ein.

WOZ: Sie haben mit der Aktion einen wunden Punkt getroffen. Haben Sie negative Reaktionen erhalten?

Betlejewski: Als ich einen leeren Stuhl auf dem Areal der Uni Warschau aufstellen wollte, um an die Vertreibung polnischer Intellektueller im März 1968 zu erinnern, bat mich die Uni, den Namen der Aktion zu ändern – zu: «Wir vermissen euch». Wenn ich auf eine Wand schreibe, dass ich die Juden vermisse, wird das Wort «Jude» durchgestrichen. «Ich vermisse dich» steht da.

Wie erklären Sie sich das?

Sprechen Sie mit meiner Kuratorin. Sie ist polnisch-jüdisch. Sie kann Ihnen sagen, welche Probleme die Leute damit haben, sie darauf anzusprechen. «Bist du ... Du weisst schon ...?» Jemanden zu fragen, ob er Jude ist, kommt der Frage gleich, ob er krank ist. Wir haben Angst, das Wort «Jude» auszusprechen. Die Einzigen, die es in ihren Wortschatz aufgenommen haben, sind die Rassisten und Antisemitinnen. Ich versuche, das Wort zurückzuerobern.

Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Polen reicht mehr als tausend Jahre zurück. Während Jahrhunderten war das Land Heimat der grössten jüdischen Gemeinschaft der Welt. Vor dem Zweiten Weltkrieg bestand diese Gemeinschaft aus dreieinhalb Millionen Menschen. Drei Millionen Juden und Jüdinnen wurden im Holocaust ermordet. Viele Überlebende wanderten nach 1945 aus – in die USA oder nach Israel. 1968, als die kommunistische Partei Polens eine antisemitische Hetzkampagne lancierte, verliessen noch einmal rund 30000 Juden und Jüdinnen das Land. Heute leben noch etwa 10000 in Polen.

WOZ: Herr Betlejewski, fühlen Sie sich schuldig?

Betlejewski: Wir sind nicht schuld am Tod und an der Vertreibung der Juden. Ich nicht, Sie auch nicht. Wir haben nicht vom Krieg profitiert. Ich wurde 1969 geboren, ein Jahr nach der antijüdischen Bewegung in Polen. Ich glaube nicht, dass ich schuld bin und dass die Schuld unserer Väter unsere Schuld ist – solange wir sie nicht leugnen.

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