Walter Kern: Die Utopie hält ihn jung

Nr. 32 –

Im Zweiten Weltkrieg wurde er zum Trotzkisten – bis heute ist er der permanenten Revolution treu geblieben. Am 17. August feiert er seinen 90. Geburtstag. Die WOZ war in Affoltern am Albis bei ihm zu Besuch.

Affoltern am Albis, ein unscheinbarer Wohnblock. Im Treppenhaus prangt ein Ausstellungsplakat von Käthe Kollwitz. Hier wohnt Walter Kern mit seiner Frau Rossana in einer einfachen Wohnung. Trotz seiner neunzig Jahre wirkt Kern aussergewöhnlich vital. Eine gute Ernährung mit viel Gemüse, Müesli und wenig Fleisch ist sein Gesundheitsrezept. Dreimal am Tag gönnt er sich eine Pfeife, und das seit bald siebzig Jahren. Noch immer ist er politisch engagiert. «Schon unterschrieben?», fragt er und streckt einen Unterschriftenbogen der Abzocker-Initiative der JungsozialistInnen hin.

Wenn Walter Kern aus seinem Leben erzählt, begibt man sich auf einen Parcours durch die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sein früh verstorbener Vater war Mitglied der Kommunistischen Partei (KP), als diese in den zwanziger Jahren die Hoffnung auf eine Überwindung des Kapitalismus verkörperte. Walter Kerns Jugend in Zürich war typisch für die Generation des Antifaschismus. Er las die Abenteuerromane von B. Traven und Jack London, machte in der sozialistischen Jugendbewegung mit und zog gegen die aufkommenden Fröntler zu Feld. Zum kollegialen Austausch traf man sich im Café Boy beim Zürcher Lochergut. Politisch liess sich der junge Walter vom libertären Anarchismus eines Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921) und der damals populären Freigeldtheorie von Silvio Gesell (1862–1930) begeistern.

Lust am Widerspruch

Zum Kommunisten wurde er erst im Aktivdienst 1940, als ihn braun angehauchte Offiziere schikanierten, weil er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hielt. Erstmals las er Karl Marx’ «Kommunistisches Manifest» und sah am roten Horizont das Reich der Freiheit heraufziehen: «Es kam wie eine Offenbarung über mich.»

Kerns Mitgliedschaft in der damals verbotenen KP und in der Jugendorganisation Freie Jugend Zürich dauerte vier Jahre. 1945 wurde er wegen «Fraktionsmacherei» ausgeschlossen. Wie kam das?

Sein Schlüsselerlebnis sei ein Text des Generalsekretärs der KP der USA, Earl Browder, gewesen. Dieser redete der «nationalen Einheit» und dem Zusammengehen mit der Rechten das Wort. Das war für Kern nichts anderes als Kapitulation und Preisgabe der Revolution. Er wollte jedoch an einer revolutionären Perspektive festhalten. Josef Stalin war ihm schon länger suspekt: «Es kann doch nicht sein, dass man die Weggefährten der russischen Revolution allesamt umbringen lässt», sagte er sich nach den Schauprozessen von 1937. Einer hatte in ihm schon früh die Lust am Widerspruch geweckt: Hermann Bobst (1886–1961), Mitgründer der KPS, Gewerkschafter und Redaktor. Bobst war 1932 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden. Kern lernte ihn in Jugendjahren auf Spaziergängen an der Zürcher Langstrasse kennen. Sein Pflegevater hatte ihn gewarnt, KommunistInnen seien «Teufel in Menschengestalt». Nun hatte er einen solchen kennengelernt, und dieser entpuppte sich als freundlicher Mensch mit pädagogischem Flair. Das beeindruckte ihn stark. «Bobst war mein politischer Ziehvater», sagt Walter Kern.

«Was kümmert uns der Hut?»

In der KP war Kern beigebracht worden, dass TrotzkistInnen Verräterinnen und Konterrevolutionäre, ja AgentInnen der Nazis seien. Nun war er plötzlich selber einer, obwohl er für die Revolution und gegen den Faschismus war. Erst jetzt las er einen ersten Text von Leo Trotzki (1879–1940) zur Klassenfrage, und es dämmerte ihm, dass er diese Auffassungen schon länger teilte. Während ihn fortan linientreue Mitglieder der Partei der Arbeit (PdA) mieden wie die Pest, blieb er mit liberaler eingestellten Kommunisten wie dem Buchhändler Theo Pinkus, dem Spanienkämpfer Johnny Linggi, dem «Vorwärts»-Redaktor Harry Gmür oder dem Kunsthistoriker Konrad Farner in Kontakt.

Mit Bobst gab Kern zwischen 1946 und 1951 die «Proletarische Aktion» heraus, die später «Das Arbeiterwort» hiess und von Heinrich Buchbinder redigiert wurde. Er gehörte damit zum inneren Zirkel der kleinen trotzkistischen Bewegung der Schweiz, die unter wechselnden Parteibezeichnungen aktiv war und es bis heute ist (vgl. Text «Trotzkismus in der Schweiz» weiter unten).

Beruflich hatte Kern eine kaufmännische Lehre absolviert. Danach arbeitete er eine Zeit lang auf dem Landesring-Sekretariat mit Gottlieb Duttweiler zusammen, der ihn wegen seiner Schreibfertigkeit lobte. 1948 fand er bei der Stadt Zürich in der Büromaterialverwaltung Unterschlupf, deren SP-Vorsteher ihn trotz einer Vorstrafe wegen illegaler KP-Propaganda einstellte. Er blieb dort bis zu seiner Pensionierung. Dies, obwohl ihm beim Lohn der Stufenanstieg verweigert wurde. Ein Arbeitskollege, Mitglied der FDP, habe 1200 Franken im Monat mehr verdient als er. «Ich hätte meinen Ansichten abschwören und in eine Regierungspartei eintreten sollen, dann hätte ich gleich viel verdient. So lief das.»

Immerhin erlaubte ihm die gesicherte Existenz, sich dem Schreiben zu widmen. Als Schriftsteller ist Walter Kern wohl nur den wenigsten ein Begriff, obwohl er einst in einer Anthologie mit Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Walter Matthias Diggelmann vertreten war. 1964 publizierte er seine erste Erzählung «Der Kopf des Leslie Brown» (Clou-Verlag, Neuauflage 1994 unter dem Titel «Der Kopf» im Rauhreif-Verlag), 1975 folgte der Roman «Zwischenhalt» (Z-Verlag), und 1981 erschien «Was kümmert uns der Hut?». Darin rollt er den Prozess gegen eine Gruppe von trotzkistischen AntimilitaristInnen im Zweiten Weltkrieg auf, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. 1980 erhielt er den Arbeiterliteraturpreis der Werkstatt Arbeiterkultur.

Auch journalistisch war Kern aktiv. 1956 schlug seine grosse Stunde, als der schmutzige Krieg der französischen Kolonialmacht gegen die Befreiungsbewegung FLN in Algerien in vollem Gang war. Kern hatte auf einer Studienreise Kontakte mit Vertretern der FLN geknüpft. Er lernte einen der Anführer des Aufstands, Mohammed Boudiaf, kennen, der 1992 ermordet wurde, als er Staatspräsident werden sollte.

Max Arnold, Chef der Gewerkschaft VPOD, gab grünes Licht für die Publikation von Kerns Reportage «Soziologischer Streifzug durch Algerien» in der Verbandszeitung «Der öffentliche Dienst». Darin berichtete Kern über die «Villa Germaine», eine französische Folterzentrale in Algier. Dies trug ihm eine Hausdurchsuchung der Bundespolizei (Bupo) ein, die ihm vorwarf, als Mitglied einer Trotzkistengruppe Sprengstoffattentate auf die französische Botschaft zu planen. «Die Bupo war nichts anderes als der verlängerte Arm des französischen Geheimdienstes», sagt er.

Eine Mutprobe

Nachdem die enge Kollaboration der Schweiz mit Frankreich in der Bekämpfung des algerischen Widerstands öffentlich bekannt geworden war, schoss sich Bundesanwalt René Dubois eine Kugel in den Kopf. Walter Kern aber wurde 45 Jahre lang von der Bupo überwacht. Als 1989 die Fichenaffäre aufflog, verlangte er seine Akten. Er bekam einen dicken Dossierberg ins Haus geschickt.

Noch gut erinnert sich Kern an eine Mutprobe im Jahr 1956. Nach dem Ungarn-Aufstand entlud sich die von der NZZ geschürte antikommunistische Hysterie gegen Konrad Farner in Thalwil. Farner musste sich und seine Familie vor einem aufgehetzten Pöbel durch eine nächtliche Flucht ins Tessin retten. Ein Nachbar hatte im Garten seiner Villa eine Tafel aufgestellt: «In dieser Strasse wohnt ein Dr. Konrad Farner, der die kommunistische Tyrannei in der Schweiz errichten will. Er und wer mit ihm verkehre, sei von allen Freiheitsliebenden verachtet.» Zusammen mit einem Kollegen riss Kern die Tafel nachts herunter. «Ritsch, ratsch – und weg war der Scheisstext!»

Im selben Jahr diente Kern dem Schweizerischen Arbeiterhilfswerk als Kurier, der illegal eine 50 000-Franken-Spende nach Tunesien zugunsten einer Flüchtlingssiedlung schmuggeln sollte. Die Aktion klappte, ohne dass die Zollbehörden etwas bemerkten.

«Begegnung mit dem Teufel»

Neben der Bupo hatte Kern zeitweise auch den US-Geheimdienst am Hals, weil er in den siebziger Jahren Kontakte zur Black-Panther-Bewegung und insbesondere zu Eldridge Cleaver hatte. Dessen Gattin Cathleen besuchte Kern und seine Frau Rossana in Zürich und sollte auf Einladung der Frauen-Befreiungs-Bewegung (FBB) Vorträge halten. Cathleen wurde von CIA und FBI auf Schritt und Tritt überwacht, wie die Bupo-Dossiers später enthüllten. So gerieten auch die Kerns ins Visier der international operierenden Geheimdienste, denen die Bupo bereitwillig als Informationszulieferin diente.

Noch heute klingt in Walter Kerns Ohr die unerschütterliche Überzeugung von Hermann Bobst nach, dass man zwar für Reformen einstehen soll, die das Leben im kapitalistischen System erträglicher machen. Doch dürfe man nie das Fernziel, den Sozialismus/Kommunismus, aus den Augen verlieren. Für Kern schliessen sich Kommunismus und Herrschaft aus, und er wehrt sich vehement dagegen, dass Kommunismus mit stalinistischem Terror gleichgesetzt wird. Hat ihn diese Utopie so jung und engagiert bis ins hohe Alter gehalten? Vermutlich schon, denn für ihre Realisierung ist unerschütterliche Überzeugung und permanenter Einsatz gefragt.

Jetzt, mit neunzig Jahren, hat Walter Kern noch einen sehnlichen Wunsch: dass er einen Verleger für seine Memoiren findet. Die Autobiografie trägt den Titel «Begegnung mit dem Teufel», in Anlehnung an seine Bekanntschaft mit Bobst. Die Erinnerungen versteht er als sein «Lebenswerk». Aber sie sind mehr als das – ein politisches Zeitdokument der schweizerischen Linken, das es wert ist, kommenden Generationen erhalten zu bleiben.


Trotzkismus in der Schweiz

Nachdem sich 1920 die Arbeiterbewegung in einen reformerischen und einen revolutionären Flügel gespalten hatte, dauerte es nicht lange, bis von der Kommunistischen Partei der Schweiz ihrerseits ein an Leo Trotzki orientierter, antistalinistischer Flügel abfiel. Diese KP-Linksopposition bildete sich in den frühen dreissiger Jahren unter der Bezeichnung «Marxistische Aktion der Schweiz». Ab 1938 bemühten sich die TrotzkistInnen um die Bildung einer Vierten Internationale. Diese sollte nach einem Aufruf von Trotzki die als gescheitert eingeschätzte Dritte Internationale ersetzen. Trotzki hatte gerade ein entsprechendes Manifest verfasst, als er 1940 im Exil in Mexiko von einem Agenten Stalins ermordet wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg formierten sich die TrotzkistInnen in der Schweiz als «Proletarische Aktion der Schweiz». Ab 1953 nannten sie sich «Sozialistischer Arbeiterbund» und zählten mehrere hundert AnhängerInnen.

Eine neue Blüte erfuhr der Trotzkismus im Zuge des 68er-Aufbruchs als «Revolutionäre Marxistische Liga» (RML), ab 1980 als «Sozialistische Arbeiterpartei», die mit ihrem Organ «Bresche» Trotzkis Gedanken der permanenten Revolution wiederbelebte und gegen orthodoxe Staatsbürokratien die marxistische Losung vertrat, dass die Befreiung der ArbeiterInnen nur das Werk der ArbeiterInnen selbst sein könne.

Sie löste sich 1989 auf, doch die «Bresche» und die französische Ausgabe «La brèche» gibt es noch heute: Sie werden als Bulletin der «Antikapitalistischen Linken – für Sozialismus (ALS)» sowie vom Westschweizer «Mouvement pour le socialisme» herausgegeben (www.bresche-online.ch) und sollen ab September 2010 als Monatsblatt im Zeitungsformat erscheinen.

Die trotzkistische Bewegung lebte immer auch von einigen bekannten Köpfen: Walter Nelz/Walter Ost, Hermann Bobst und Paul Thalmann vor dem Zweiten Weltkrieg, später Heinrich Buchbinder und Fritz Belleville. Aus dem trotzkistisch inspirierten Lager der 68er gingen GewerkschafterInnen wie Vasco Pedrina, Andreas Rieger, Christine Goll oder Serge Gaillard hervor. Der linksalternative Nationalrat Jo Lang gründete 1973 in Zug eine Sektion der RML.

Grösseren Einfluss gewann der Trotzkismus in Grossbritannien und vor allem Frankreich, wo der junge Postbeamte Olivier Besancenot als Chef der «Ligue communiste» von sich reden macht. Bekannte Autoren trotzkistischer Richtung waren der englische Schriftsteller George Orwell, der belgische Ökonom Ernest Mandel oder der französische Historiker Pierre Broué.