Mariela Castro: Kuba hat keine Zauberformel

Nr. 36 –

Immer wieder wird sie zu Menschenrechten, Meinungsfreiheit und Wirtschaftsreformen in Kuba befragt. Doch eigentlich möchte die Tochter des Präsidenten vor allem über ihre Arbeit für die Gleichstellung der Frauen sprechen.


Für ein Interview unter vier Augen ist Mariela Castro Espín wohl zu gefragt. Beim Gesprächstermin in der kubanischen Botschaft in Bern setzen sich neben dem Botschafter auch ein Vertreter der Vereinigung Schweiz-Cuba und eine zweite Journalistin dazu. Dennoch ist das Umfeld gemütlich, der Ton ungezwungen. Mariela Castro, Tochter des kubanischen Präsidenten Raúl Castro und von Vilma Espín, der 2007 verstorbenen Präsidentin des Kubanischen Frauenverbandes (FMC), ist den Umgang mit Medien sichtlich gewohnt.

Die 48-jährige Pädagogin leitet das Nationale Zentrum für Sexualerziehung (Cenesex) in Havanna, das führend bei der Aufklärungsarbeit für sexuelle Rechte, Empfängnisverhütung und Aids-Bekämpfung ist. Seit Jahren setzt sich Castro für die Gleichstellung der Frauen, Homosexuellen, Lesben und Transsexuellen ein. Auf Einladung der Organisationen Aiuto Medico per Centro America (Amca) und Medi Cuba-Suisse, die in Kuba Gesundheitsprojekte unterstützen, reiste sie Ende August in die Schweiz und war Gast bei mehreren Veranstaltungen zum Thema Gleichberechtigung.

Dass sie durch ihre Zugehörigkeit zur Castro-Familie über ihre Arbeit hinaus stets auch als öffentliche Person betrachtet wird, die über die politische und wirtschaftliche Lage im Land Auskunft geben soll, scheint sie als unvermeidlich hinzunehmen. «Ich bin keine Führungsperson der Partei», sagt Castro, «aber ich versuche, Fragen so aufrichtig zu beantworten, wie ich kann.» Ihre Antworten seien allerdings oft nicht das, was JournalistInnen hören wollten. Dennoch würden ihr die Medien seit Jahren immer wieder dieselben Fragen stellen. Auch deshalb mag Castro die politische Rhetorik trotz ihrer Zurückhaltung mühelos beherrschen – und immer wieder geschickt mit ihrer Arbeit in Verbindung bringen.

Echte Lohngleichheit

Der wichtigste und schwerste Teil ihrer Arbeit bestehe darin, bei den KubanerInnen ein neues Bewusstsein zu schaffen, sagt Castro. «Der Kampf für die Gleichstellung der Frau ist immer auch ein Kampf gegen das Erbe einer patriarchalischen Gesellschaft und eines sozioökonomischen Systems, das auf Ausbeutung basiert – so wie es in Kuba vor der Revolution der Fall war.»

Gerade auf Gesetzesebene hätten sie in diesem Bereich viel erreicht, sagt Castro stolz. «In Kuba ist die Gleichstellung der Frau real.»

So seien Frauen vollständig integriert im Bildungswesen, in der Gesellschaft präsent und Teil der politischen Machtstruktur. Das zeige sich besonders beim Frauenanteil im Parlament: Während der Durchschnitt weltweit bei etwa 17 Prozent liegt, stellen Kubanerinnen über 42 Prozent der Parlamentsmitglieder. Doch einer der wichtigsten Punkte für Mariela Castro: Seit den sechziger Jahren gilt in Kuba Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen. «Das gibt es weder in Europa noch in den USA», sagt Castro – ein Vergleich, denn sie auch bei anderen Themen immer wieder zieht.

Es sei der permanenten Arbeit des Frauenverbands zu verdanken, dass in den siebziger Jahren das Thema Gleichstellung auf die politische Agenda gerückt sei, sagt Castro. Mit zunehmender Partizipation hätten die Frauen bessere Rechte bei der Gesundheitsversorgung, der Familienplanung und der Selbstbestimmung über den eigenen Körper gefordert. «Es zeigte sich, dass es innerhalb der revolutionären auch eine Sexualerziehung brauchte», sagt Castro. Mitte der siebziger Jahre integrierte die Kommunistische Partei deshalb die Sexualerziehung in die Sozialpolitik des Landes.

Als Folge sei heute in Kuba der Machismo nicht mehr so stark wie noch in den sechziger Jahren. Auch habe sich die Art der Gewalt gegen Frauen verändert. Seien Männer früher physisch gewalttätig gewesen, so handle es sich heute mehr um verbale und emotionale Gewalt. «Doch die Frauen sind sehr solidarisch untereinander», sagt Castro. «Sie haben ein starkes Gefühl für ihre Würde entwickelt und fordern ihre Rechte ein.» Dennoch brauche es weiter Aufklärungsarbeit. Vorurteile verschwänden nicht einfach durch eine Informationskampagne.

Tiefgreifende Veränderungen

Widersprüche bestehen jedoch auch in anderen Bereichen. So konstatierte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) im Februar 2010 auch in ihrem neusten Bericht zur Menschenrechtslage in Kuba, dass die Rechte auf freie Meinungsäusserung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie Bewegungsfreiheit massiv verletzt werden. Laut AI-Bericht sind politisch Andersdenkende, unabhängige JournalistInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen häufig Repressionen ausgesetzt.

Angesprochen auf Kubas Menschenrechtsbilanz, sieht Mariela Castro jedoch keinen direkten Handlungsbedarf. Sie wechselt die Ebene und meint, dass Kuba bei der Erfüllung der sozialen Grundrechte der Menschen – besonders beim Recht auf Bildung und Gesundheitsversorgung – weiter sei als manche europäische Länder. In Kuba sei das Recht auf eine gute, umfassende Gesundheitsversorgung vollumfänglich umgesetzt – und auch während der langen Wirtschaftskrise in den neunziger Jahren aufrechterhalten worden.

Ihre Überzeugung, dass Kubas politisches System versucht, jede Form der sozialen Diskriminierung aufzuheben, ist unerschütterlich. «Das sozialistische Projekt hat nicht die Ausbeutung des Menschen zum Ziel», sagt Castro. «Und genauso wenig will es eine Bevorteilung gewisser Bevölkerungsgruppen – wie es in kapitalistischen Systemen der Fall ist.» Dennoch sei das «kubanische Projekt keine Zauberformel». Es gebe zwar Bezugspunkte und verschiedene soziale Modelle, aber jedes Land habe andere Voraussetzungen und mache eine eigene Entwicklung durch.

Eine der Voraussetzungen für den Sozialismus ist für Mariela Castro deshalb eine tiefgreifende Veränderung von kulturellen Werten und des Bewusstseins der Menschen. «Das ist kein Prozess, der linear verläuft.» So sei es durchaus möglich, dass man wie in Kuba ein ökonomisches System habe, das auf Kooperation basiere, aber das Bewusstsein der Menschen noch immer von den Erinnerungen und Erfahrungen früherer Generationen geprägt sei – die vom Kolonialismus und vom Kapitalismus beeinflusst gewesen seien. Für einen Wertewandel reichten deshalb Gesetze alleine nicht aus, sagt Castro. Dafür brauche es auch permanente Bildung und Kulturförderung – was wiederum zu Konflikten führen könne, denn: «Natürlich gibt es viele verschiedene Vorstellungen darüber, wie so eine Veränderung umgesetzt werden soll.»

Mehr Kontrolle nötig

Die Frage, weshalb denn den KubanerInnen der Zugang zum Internet und zu internationalen Medien erschwert oder gar verweigert wird, beantwortet Castro nur zum Teil. Schuld daran seien die USA, die aufgrund des von ihnen 1962 verfügten Wirtschafts- und Finanzembargos gegen Kuba der Insel den Zugang zu Glasfaserkabeln verweigerten. «Die bestehenden Internetverbindungen laufen alle via Satellit und sind deshalb limitiert oder für viele Menschen einfach zu teuer», sagt Castro. Allerdings gebe es ein Abkommen mit Venezuela für das Verlegen eines eigenen Kabels. «Ich hoffe, dass es dann freien Internetzugang für alle gibt.»

Doch nicht nur der fehlende Zugang zum Internet ist einer der häufigsten Kritikpunkte, wenn es um die Lage in Kuba geht. So übt der Staat einerseits eine sehr starke Kontrolle über die Wirtschaft aus und lässt neben der offiziellen Währung auch den US-Dollar als Zahlungsmittel zu. Ein blühender Schwarzmarkt ist die Folge. Viele KubanerInnen können sich deshalb mit ihrem Lohn die meisten Alltagsprodukte nicht leisten, die zwar auf dem Markt, aber oft nur für US-Dollar erhältlich sind. Zwar hatte Staatschef Raúl Castro Ende Juni angekündigt, dass mehr KubanerInnen künftig selbstständig tätig sein dürfen und kleine Geschäfte eröffnen können. Doch umfassende Wirtschaftsreformen schliesst er weiter aus.

Mehr Partizipation

Mariela Castro unterstützt den vorsichtigen Kurs ihres Vaters. «Aber es braucht meiner Meinung nach nicht weniger, sondern eher mehr Kontrolle», sagt sie in Bezug auf das Problem des Schwarzmarkts. Seit Jahrzehnten würden beispielsweise Staatsangestellte vom Staat stehlen und das Material weiterverkaufen. Mit mehr Kontrolle könnte das verhindert werden. Dasselbe gelte für viele Institutionen, in denen es an Reglementen fehle und so Einzelne ihre eigenen Regeln aufstellen könnten – was dann zu einem administrativen Chaos und oft absurden Kontrollmechanismen führe.

Doch auch hier relativiert Castro: «Es ist Ausdruck des revolutionären Prozesses, dass die Leute absurde Regeln nicht einfach hinnehmen, sondern dagegen protestieren.» In Kuba sei derzeit ein Veränderungsprozess im Gange, beteuert sie abschliessend, bei dem die Bevölkerung vermehrt miteinbezogen werde. So versuche die Regierung durch Befragungen in den Quartieren und Gemeinden herauszufinden, wie sie ihre Strategien ändern könne und was die Bedürfnisse der Bevölkerung seien. «Die Strukturen für eine stärkere Partizipation der Bevölkerung sind vorhanden», sagt Castro. Die Leute könnten ihre Ideen und Wünsche durchaus einbringen. «Das Problem bei der Umsetzung sind nur die materiellen Ressourcen. Die fehlen in Kuba einfach oft.»