Bildung 2.0 : Ein Nischenfach bricht alle Rekorde

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«Einführung in Künstliche Intelligenz»: WOZ-Autorin Judith Reker war eine von 160 000 TeilnehmerInnen am grössten Unikurs aller Zeiten – und hat diesen als eine von 20 500 auch beendet.

Eigentlich schade, dachten sich zwei Professoren: schade, dass unsere Univeranstaltung nur von zweihundert StudentInnen besucht wird. Bieten wir den Kurs doch weltweit an – im Internet.

«Dann haben wir ihn einfach angekündigt», erinnert sich Sebastian Thrun, der auch in einem Experimentallabor von Google arbeitet, in dem unter anderem an selbst fahrenden Autos gebastelt wird. Zusammen mit dem 55-jährigen US-Amerikaner Peter Norvig, dem Forschungsdirektor von Google, bietet der 44-jährige Deutsche an der Stanford-Universität in den USA den Kurs «Einführung in Künstliche Intelligenz» an: «Wir haben einfach eine E-Mail losgeschickt und schnell eine Website zusammengebaut, wo man bei Interesse seine E-Mail-Adresse hinterlassen konnte.» – Dem Aufruf folgten 160 000 Leute aus aller Welt. Damit machten Thrun und Norvig den zehnwöchigen Kurs zum wohl grössten Unikurs aller Zeiten.

Künstliche Intelligenz (KI) ist eine relativ junge Disziplin. Der Begriff wurde erst Mitte der fünfziger Jahre geprägt, und ihr noch immer futuristisch-avantgardistisch anmutender Charakter führt dazu, dass viele WissenschaftlerInnen aus anderen Disziplinen KI als den Bereich nennen, auf dem sie gern arbeiten würden. «Ein Student der Physik hat mit gutem Grund das Gefühl, dass sich Galileo, Newton, Einstein und Co. die besten Ideen schon geschnappt haben», schreibt Norvig in seinem Standardwerk zum Thema Künstliche Intelligenz. «Dagegen ist KI noch weit offen.»

Das Fach spielt mittlerweile in einigen der weltweit erfolgreichsten Unternehmen eine Hauptrolle. Google-Suche, Street View, Spamfilter, maschinelles Übersetzen – all das basiert auf KI-Methoden. Auch in der Medizin und im Finanzsektor wird zunehmend KI eingesetzt.

Für ihren Onlinekurs setzten Thrun und Norvig lediglich Grundkenntnisse in Wahrscheinlichkeitsrechnung und linearer Algebra voraus. Unter den TeilnehmerInnen waren 11- und 81-Jährige, Schulabbrecher und Doktorinnen, viele mit Breitband-Internetzugang, manche, etwa im ländlichen Indien, mit einer vergleichsweise extrem langsamen Leitung.

Manch einer wollte sich auch mit den StudentInnen messen, die für 50 000 Dollar im Jahr in Stanford studieren dürfen und exakt denselben Kurs absolvierten. Als Hauptmotivation jedoch gaben die meisten Befragten Interesse am Fach und am Lernen an. Damit reiht sich der Kurs in eine Entwicklung ein, die das Ideal vom lebenslangen Lernen, von Bildung für alle mit den Mitteln des digitalen Zeitalters verfolgt. Die VerfechterInnen dieser Entwicklung sagen, nur so könne höchste Qualität der Lehre für alle erreicht werden.

Open Education

Die Entwicklung begann vor zehn Jahren, als die US-amerikanische Eliteuni Massachusetts Institute of Technology (MIT) fast alle Vorlesungen ins Netz stellte. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff Open Education Resources (OER), der für freie Bildungsmaterialien steht, indem diese umsonst zugänglich sind, ihre Weiterverbreitung erlaubt und im extremen Fall sogar der Quellcode der Software zugänglich ist, sodass Inhalte nach Bedarf verändert werden können. Sal Khan etwa, der Gründer der Khan Academy, hat in seinen zehnminütigen Videos bereits Millionen Menschen Mathenachhilfe gegeben. Die bislang vielleicht konsequenteste Umsetzung ist P2PU (Peer-to-Peer University), in der jeder Inhalte anbieten und mitmachen darf. Khan Academy wie auch P2PU arbeiten «not for profit». Während Khan gerade einen Millionenzuschuss von Microsoft-Gründer Bill Gates und Google erhielt, wird P2PU von der Mozilla- und der Shuttleworth-Stiftung finanziert.

Der KI-Kurs aber ging noch weiter: Zum einen war er interaktiv – mittels eigens entwickelter Technologie konnten TeilnehmerInnen Aufgaben und Prüfungen schreiben. In Videosprechstunden beantworteten die Professoren zudem Fragen, die die Teilnehmenden untereinander gewählt hatten. Alle, die bis zur letzten Prüfung durchgehalten hatten, erhielten eine Bescheinigung.

«Wenn sich künftig jemand mit einem KI-Zertifikat bewirbt, ist es wahrscheinlich von mir», sagt Thrun. Mittlerweile kann er sich auch eine Klasse mit 300 000 StudentInnen vorstellen. Davor steht allerdings die Analyse des Pionierkurses – bis zum Schluss haben «nur» 20 500 TeilnehmerInnen durchgehalten.

Die Stanford-Leitung war von der Idee zunächst weniger begeistert. Gegenüber der «New York Times» sagte Stanfords Präsident John Hennessy: «Man muss über die Nachhaltigkeit dieser Dinge nachdenken. Am Ende muss, wer die Inhalte bereitstellt, eben auch bezahlt werden.»

Auf den Onlinezertifikaten steht nun ausdrücklich, dass sie von Stanford nicht anerkannt werden. Allerdings haben viele Unis die Kursteilnahme formell akzeptiert, etwa die deutsche Uni Freiburg. Dort organisierte der KI-Forscher Wolfram Burgard Prüfungstage und war beeindruckt, welche Flugstrecken manch Prüfling auf sich nahm.

Eine Überraschung war das hohe Niveau der TeilnehmerInnen. Im Onlinekurs erzielten im Verhältnis doppelt so viele StudentInnen wie in Stanford die Bestleistung. Kurz vor Ende des Kurses erhielten tausend der Besten eine E-Mail von Thrun: «Wie Sie wissen, haben Peter und ich enge Beziehungen zu wichtigen Unternehmen in der Bay Area, etwa Google. Diese Firmen sind immer auf der Suche nach Talenten. Wir sehen diesen Kurs nicht nur als Weg, Bildung umsonst anzubieten, sondern auch als einen Weg, wie einige unserer begabtesten Studenten bessere Jobs finden können.»

Es scheint, als hätte sich die Bildungslandschaft um ein weiteres Stück bewegt: Die globale Schar der Lernenden wird zum weltweiten Aktionsfeld für Personalsuchende. Bereits rief in einem Internetforum ein Personalchef die TeilnehmerInnen auf: «Wenn du gut abgeschnitten hast im KI-Kurs, mindestens einen Bachelor in Informatik und eine Arbeitserlaubnis für die USA hast – und nicht zu Google gehst –, dann schick mir deinen Lebenslauf.»

Und in der Schweiz?

In der Schweiz hat Open Education Resources bislang einen schweren Stand. Zwar gebe es viele Interessierte, sagt OER-Expertin Ricarda Reimers, «doch in grösseren Organisationen und Bildungseinrichtungen spiegeln sich die Aktivitäten noch nicht». Reimers leitet die Fachstelle Digitales Lehren und Lernen an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Die wesentliche Schweizer Initiative im Bereich OER ist Switch Collection, eine Art Depot, in dem alle Hochschulen ihre Lerninhalte ablegen können, um sie frei zugänglich zu machen. Seit zwei Jahren finden sich dort vor allem Vorlesungsaufzeichnungen einiger Hochschulen.

«Auf nationaler Ebene gibt es im Moment noch keine Initiative zu OER», sagt auch Rolf Brugger, der für Switch arbeitet, eine Stiftung der Schweizer Hochschulen, die Switch Collection umgesetzt hat. Und das, obwohl die Art, wie Bildungsinhalte an Schweizer Hochschulen entwickelt werden, relativ ineffizient sei. Für Hochschulen werde es deshalb immer reizvoller, «OER im immer kompetitiver werdenden Bildungsmarkt als Marketinginstrument zu nutzen».