Syrien und der Westen: Bröckelndes Machtgefüge

Nr. 22 –

108 Tote, darunter viele Kinder, aus nächster Nähe umgebracht oder durch Granatenbeschuss getötet: Es ist verständlich, dass die internationale Empörung über das Massaker in der syrischen Stadt Hula am vergangenen Wochenende vehement ausfiel. Westliche PolitikerInnen reagierten harsch, wie etwa der britische Aussenminister William Hague: «Wir sind angewidert von so viel Brutalität.» Ob man ihm und anderen StaatslenkerInnen das Entsetzen wirklich abnehmen kann, ist zu bezweifeln. Ähnliche Gräueltaten, etwa gegen syrische ChristInnen, fanden bisher kaum Beachtung.

Das Massaker von Hula kommt vielen gerade recht, um einmal mehr die Notwendigkeit eines Regimewechsels in Syrien zu propagieren. Die US-Aussenministerin Hillary Clinton nutzte die Gelegenheit und sagte: «Wir müssen den Druck auf das Regime von Präsident Baschar al-Assad und seinen Spiessgesellen erhöhen; deren Herrschaft durch Mord und Angst muss ein Ende finden.»

Leider ist die Sache nicht so einfach, wie Clinton es darstellt. Zweifellos ist Assad der Präsident eines repressiven Polizei- und Geheimdienststaats. Aber nach über einem Jahr Bürgerkrieg gilt, was Clintons russischer Amtskollege Sergei Lawrow auf den Punkt brachte: «Es geht nicht mehr darum, wer in Damaskus an der Macht ist, sondern nur darum, die Gewalt zu stoppen.» Nach über 10 000 Toten lässt sich tatsächlich nur mehr über Verhandlungen eine Lösung des Konflikts finden. Alles andere wird die Leiden der Bevölkerung verlängern. Ob man nun aber dem Sechs-Punkte-Friedensplan Kofi Annans oder dem jemenitischen Weg folgt, der die Übergabe der Macht in Syrien an den Vizepräsidenten vorsieht, um einen Übergang zur Demokratie einzuleiten: Das entscheidende Problem ist, dass weder die syrische Opposition noch die Mehrheit der ausländischen Staaten eine friedliche Lösung will. Das Regime in Damaskus kann sich weiterhin als Opfer einer internationalen Verschwörung fühlen.

In Syrien steht zudem viel auf dem Spiel: nicht weniger als das gesamte Machtgefüge der Region. Syrien und der Iran sind enge Verbündete. Beide unterstützen die Hisbollah im Libanon; so erhält die schiitische Organisation Waffenlieferungen etwa vom Iran über Syrien. Ohne das Assad-Regime wäre die Hisbollah isoliert und könnte ihre Politik der militärischen Abschreckung gegenüber Israel nicht weiter fortsetzen. Seit mehreren Jahren beklagen die Golfstaaten auch das iranische Streben nach Hegemonie im Nahen Osten. Sollte nun ihr Verbündeter in Damaskus wegfallen, bedeutete dies eine enorme Schwächung der islamischen Republik.

Kein Wunder also, dass iranische republikanische Garden auf der Seite Assads kämpfen, wie die halboffizielle iranische Nachrichtenagentur Isna meldete. Kein Wunder auch, dass Katar und Saudi-Arabien von der internationalen Staatengemeinschaft die Bewaffnung und finanzielle Unterstützung der syrischen Rebellen fordern. Bisher zwar ohne Erfolg. Doch in der Zwischenzeit nehmen die Golfstaaten die Sache gleich selbst in die Hand: Sie unterstützen insbesondere die syrische Muslimbruderschaft.

Auch die radikalen Salafisten sind Teil der syrischen militanten Opposition; sie sind aus dem Irak, Libyen und Algerien angereist. Und nicht nur in der Stadt Homs wurde die schwarze Flagge von al-Kaida gesichtet. Die extremistischen Islamisten sind für viele Übergriffe auf syrische ChristInnen verantwortlich. Mehrere Autobomben, bei denen allein im Mai über fünfzig Menschen starben, gehen auf ihr Konto. Sie kämpfen ihren eigenen Kampf und wollen Syrien in einen islamischen Staat auf der Basis einer rigiden Auslegung der Scharia umwandeln.

Was Syrien derzeit am dringendsten braucht, ist ein dauerhafter Waffenstillstand als Basis für Verhandlungen. Das geht nicht ohne Druck der Staatengemeinschaft. Diese setzt aber einseitig auf einen gewaltsamen Umsturz des Regimes: Die USA, Britannien und Frankreich unterstützen die Rebellen bereits in logistischer Hinsicht, wobei Frankreichs Präsident François Hollande inzwischen eine militärische Intervention in Syrien nicht mehr ausschliesst. Unter den gegenwärtigen Bedingungen erscheint das allerdings so, als wolle man die Büchse der Pandora öffnen.