Syrien: «Nur Verräter werden exekutiert»

Nr. 46 –

Im Kriegschaos von Aleppo nimmt die Kriminalität überhand. Die Freie Syrische Armee versucht deshalb schon jetzt, Polizei und Justiz neu aufzubauen.

Vor dem Büro reihen sich Männer und Frauen auf. Ein Junge mit einer Kalaschnikow schlängelt sich durch die Reihen. «Beschwerdestelle» steht an der Tür. Im Raum sitzt Abu Ahmed und will die «Söldner», wie er sie nennt, zur Anzeige bringen. Sie hätten ihn am Morgen, wenige Stunden zuvor, erpresst. Abu Ahmed wollte zwei Maschinen aus seiner Plastiktütenfabrik verkaufen. Als er sie abholen und dem Kunden bringen wollte, hätten bewaffnete Männer ihm gedroht: Entweder er gebe ihnen die Hälfte der Einnahmen, oder die Maschinen blieben in der Fabrik. Die bewaffneten Männer haben sich als Kämpfer der Freien Syrischen Armee ausgegeben – Trittbrettfahrer des Kriegs.

Es ist nicht die eigentliche Schlacht, die ein Land im Krieg ins Chaos zu stürzen droht. Es ist die Gewalt, die sich am Rand entwickelt; die Kriminalität, die explodiert, wenn staatliche Strukturen implodieren; wenn es plötzlich keine Polizei mehr gibt, wo man sie früher an jeder Ecke gefürchtet hat.

Ein neues Zeitalter?

In Aleppo nahmen Diebstahl, Raub und Entführungen schon zu, bevor die Aufständischen in die Stadt gezogen sind. Im Kampf um ihr eigenes Überleben konnte sich die Regierung immer weniger um die Alltagskriminalität kümmern. Nachdem die Kämpfer kamen, wurde es schlimmer, beklagen viele EinwohnerInnen. Jetzt, zwischen den Luftangriffen, versuchen die Rebellen, eine zivile Ordnung herzustellen. In einem Apartmenthaus haben Aufständische eine Polizeistation eröffnet. Sie nennen sich «revolutionäre Sicherheitskräfte».

Früher hätte man erst mit wichtigen Leuten sprechen müssen, sie von seinem Fall überzeugen und schliesslich schmieren, bevor man überhaupt Anzeige erstatten konnte, erzählt Abu Ahmed. «Wastah» nennt man dieses informelle System hier. Jetzt könne man einfach in das Büro gehen und Anzeige erstatten. «Ich fühle mich, als sei ein neue Zeitalter angebrochen», sagt Abu Ahmed.

Jetzt sitzt er in diesem provisorischen Büro und trägt seine Beschwerde vor. Mahmud Abrar, früher Assistenzchirurg, heute Rebellenpolizist, nimmt sie entgegen. Hundert Fälle bekomme er jeden Tag, sagt er, meist handle es sich um Diebstahl. «Beschwerden gegen die Freie Syrische Armee gilt mein Hauptinteresse» – und davon gebe es einige. Oft seien es einfache Kriminelle, die sich als Angehörige der Freien Armee ausgeben. Wenn man den Krieg nicht nur militärisch gewinnen wolle, sei das ein Problem. «Wir brauchen die Menschen auf unserer Seite.»

Ein Zettel und drei Sterne

Vor allem in Aleppo haben die Aufständischen ein Imageproblem. Die meisten Kämpfer kommen vom Land, sind sunnitisch, konservativ und verarmt. Aleppo, die grösste Stadt und das wirtschaftliche Zentrum Syriens, hatte zu viel zu verlieren, um von sich aus gegen Präsident Baschar al-Assad zu rebellieren. Bis Mitte dieses Jahres blieb die Stadt von grösserer Gewalt verschont, jetzt ist sie das Zentrum des Kriegs. Viele BewohnerInnen geben den Rebellen die Schuld dafür. Zudem leben hier viele ChristInnen, die sich angesichts zunehmender islamischer Tendenzen in der Oppositionspolitik vor der Zeit nach Assad fürchten.

Der Rebellenpolizist Abrar füllt einen Zettel aus und übergibt ihn Abu Ahmed, dem Fabrikbesitzer. Es ist die Autorisierung für eine Einheit der Rebellen, die Erpresser zu verfolgen. In einem Büro auf der anderen Seite des Gebäudes lässt Abu Ahmed sie vom Polizeichef Zeki Ali Lule abzeichnen, der 35 Jahre in der Armee war und es bis zum Oberst geschafft hat. Sein Schulterabzeichen – drei Sterne und die schwarz-weiss-rote Flagge der Regierung – stammt noch aus jener Zeit. Er hat die Seiten gewechselt und die Macht behalten, wie viele in den Reihen der Opposition. Erst Mitte dieses Jahres ist er desertiert. «Die Revolution kam spät nach Aleppo, aber ich habe mich lange auf diesen Tag vorbereitet», sagt Lule.

Inzwischen halten die Aufständischen fast ganz Aleppo. Nur noch in der Luft hat die Regierung die Hoheit. Täglich beschiesst sie die Stadt mit Kampfjets und Helikoptern. Aber auch diese Lufthoheit scheint zu bröckeln. Es kursieren Videos, in denen von den Aufständischen abgefeuerte Boden-Luft-Raketen zu sehen sind. Ein paar Flugzeuge wurden bereits abgeschossen. Im Kampf um Aleppo könnte das den entscheidenden Ausschlag zugunsten der Opposition geben. Ob mit ihrem Sieg in Aleppo Ruhe einkehren wird, hängt davon ab, wie sie den Übergang vom militärischen Sieg zur zivilen Sicherheit hinbekommt. Die Polizeistation ist ein erster Schritt auf diesem Weg.

«Es gibt viele bewaffnete Gruppen in der Stadt, die auf eigene Rechnung agieren», sagt Polizeichef Lule. «Das ist gefährlich, weil es das Bild der Freien Syrischen Armee verzerrt.» Lule versucht, eine Struktur in die lose organisierten Einheiten der Aufständischen zu bekommen. Jeder Checkpoint in der Stadt ist einem Kommandeur zugeordnet. Lule lässt die Verantwortlichen in Polizeiarbeit ausbilden, derzeit werden Uniformen entworfen. Gefangene, die von den Rebellen zu ihm gebracht werden, überstellt er einem Gericht.

Momentan befindet sich dieses Gericht noch ausserhalb Aleppos, in einem Dorf an der Grenze zur Türkei. Doch im Keller eines leer stehenden Neubaus in der Stadt wird ein zentrales Gericht aufgebaut. Anwälte, Richter und islamische Gelehrte sind hier zusammengekommen, um die Grundprinzipien der zukünftigen Rechtsprechung festzulegen. Jetzt, in Zeiten des Kriegs, gelte die Scharia, sagt Abu Ibrahim, einer der Richter. Sie sei einfacher anzuwenden. «Nur Verräter werden exekutiert», sagt er. Ist Assad einmal gefallen, sollen Wahlen über die Grundlagen der Rechtsprechung entscheiden.

Straftaten, Hochzeiten, Scheidungen

Die Juristen im Keller wollen ihr System auf alle Gebiete in Aleppo ausweiten, die in der Hand der Opposition sind. Es sind nicht nur Straftaten, die hier verhandelt werden sollen, auch Hochzeiten und Scheidungen sollen hier stattfinden. Das Leben geht weiter, die Bevölkerung braucht eine Autorität, an die sie sich wenden kann.

Richter Abu Ibrahim ist besorgt, dass die Freie Armee die Bevölkerung verschreckt. «Wir brauchen eine Polizei», sagt er. «Die Menschen verstehen nicht, dass sich Soldaten um ihre Sicherheit kümmern sollen.»

Bis dahin ist es ein weiter Weg. Es gibt keine Trennung zwischen Kämpfern und zivilen Sicherheitskräften. Die Polizeistation ist bisher nicht mehr als eine Vermittlungsstelle zwischen der Bevölkerung und der Freien Syrischen Armee. Selbst in Stadtteilen, die nicht mehr in der Hand der Regierung sind, haben die Rebellen keine uneingeschränkte Autorität. Kurdische Gruppierungen halten einzelne Viertel und versuchen, aus dem Kampf zwischen Opposition und Regierung Profit zu schlagen, ohne sich klar auf eine Seite zu stellen.

Ausserdem haben die Truppen der Freien Syrischen Armee nicht mehr als den Namen gemein. Es ist mehr ein Sammelbegriff für alle kämpfenden Aufständischen als die klare Bezeichnung für eine Organisation. Allein in Aleppo gibt es mindestens vier Bataillone, die zwar militärisch kooperieren, aber in zivilen Angelegenheiten keine einheitlichen Strukturen haben. Die verschiedenen Einheiten haben eigene Polizeikräfte und Gerichte, die unabhängig voneinander arbeiten. Manche legen ihre Gesetze streng nach der Scharia aus, andere geben sich säkularer.

Immerhin ist ein erster Schritt zu zivilen Strukturen getan. Die Bemühungen der oppositionellen Polizisten, Richter und Anwälte lassen die Menschen darauf hoffen, dass Aleppo nach einem Sieg der Rebellen nicht im Chaos versinken wird. Fabrikbesitzer Abu Ahmed hat schon allein die Möglichkeit, Anzeige erstatten zu können, vom neuen System überzeugt. «Die Freie Armee ist wunderbar», sagt er.

Neu organisiert

Die syrische Opposition hat sich am Sonntag in Doha darauf verständigt, eine neue Dachorganisation zu gründen, die «Syrische Nationalkoalition für Opposition und Revolutionäre Kräfte». Als Präsident wurde der gemässigt islamistische Geistliche Scheich Ahmad Moaz al-Chatib gewählt. Der bisherige Syrische Nationalrat soll in der neuen Organisation aufgehen.

Zum ersten Mal werden auch VertreterInnen der vierzehn Provinzen des Landes zur Führung gehören. Ein «revolutionärer Militärrat» soll die kämpfenden Einheiten koordinieren. Die neue Organisation will sich um internationale Anerkennung und um Waffenhilfe aus dem Ausland bemühen.