Libanon: Erinnerungen an den eigenen Bürgerkrieg

Nr. 11 –

Bereits eine Viertelmillion SyrerInnen sind in den Libanon geflüchtet. Dort verschärft die Flüchtlingskrise die politischen und religiösen Spannungen.

Die engen Strassen um Cezar Bescharas Lebensmittelladen gehören zu den ruhigsten in Beirut. In seinem Viertel stehen französische Kolonialbauten, alte Bäume, und draussen spielen Männer Backgammon. «Es ist wie in einem Dorf hier», sagt Cezar und berührt das kleine Silberkreuz, das an seiner Halskette hängt.

«Die Familien leben alle schon seit mindestens drei Generationen hier», sagt Beschara. Die meisten Menschen, die in Cezars Geschäft einkaufen, kennt er persönlich; er tauscht sich mit ihnen über Neuigkeiten und das Wetter aus. Nur die Syrer, die 200 Meter weiter in einem dreistöckigen Haus leben, würdigt er keines Blickes. Einige Dutzend syrische Arbeitsmigranten wohnen dort seit mehreren Jahren. Sie arbeiten auf Baustellen, in Werkstätten und im Strassenbau. Schätzungsweise eine halbe Million SyrerInnen leben dauerhaft im Libanon. Das Geld, das sie verdienen, schicken sie nach Syrien oder sparen es, um später in ihrer Heimat ein Haus zu kaufen oder ein Geschäft zu gründen.

Weil seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien täglich bis zu 3000 Flüchtlinge in den Libanon kommen, sind sie vielerorts nicht mehr willkommen. «Die machen nur Probleme», sagt Cezar. «Die belästigen unsere Frauen und klauen in meinem Laden.» Solche Sprüche sind überall in der Nachbarschaft zu hören. Kürzlich mischte sich die libanesische Armee in den Konflikt ein: In einer Nachtoperation stiegen Soldaten in das Haus der Flüchtlinge ein. Mit Besenstielen und Gürteln verprügelten sie die Menschen; während mehrerer Stunden mussten sie auf dem Flachdach knien und wurden geschlagen. NachbarInnen schauten von ihren Häusern aus zu. Jugendliche versammelten sich vor dem Flüchtlingshaus und rissen Witze. Cezar Beschara meint: «Das geschieht denen recht. Endlich unternimmt einmal jemand etwas.»

Hasstiraden gegen SyrerInnen

Mehr als 250 000 meist sunnitische Flüchtlinge aus Syrien leben mittlerweile im Libanon. Schon jetzt verschärfen der Krieg in Syrien und die Flüchtlingskrise die politischen Spannungen. Die Flüchtlingswelle droht das fragile konfessionelle Gleichgewicht des kleinen Landes zu zerstören. Das Parlament zerfällt in zwei Gruppen (vgl. «Zwei Blöcke» im Anschluss an diesen Text): einerseits das vorwiegend schiitische Regierungsbündnis 8. März, das den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad unterstützt. Assad ist Alawit – Teil des Schiitentums – und damit enger Verbündeter der schiitischen Hisbollah, der grössten Partei innerhalb des Bündnisses 8. März. Andererseits die von SunnitInnen dominierte Oppositionsgruppe 14. März; sie sympathisiert mit den syrischen Aufständischen. Die ChristInnen des Landes verteilen sich auf die beiden Lager. Offiziell hatten sich alle Parteien auf eine Politik der Abschottung geeinigt, um ein Übergreifen des syrischen Bürgerkriegs auf den Libanon zu verhindern. Doch keine der beiden Seiten verheimlicht die Unterstützung ihrer Verbündeten. Bewaffnete Gruppen aus beiden Lagern bekämpfen sich regelmässig im nordlibanesischen Tripoli und zunehmend auch in Syrien.

Einige Regierungsmitglieder machen öffentlich Stimmung gegen die Flüchtlinge. «Die syrischen Flüchtlinge verdrängen die Libanesen und nehmen ihnen Arbeitsplätze weg», sagte Energieminister Dschibran Bassil kürzlich an einer Pressekonferenz und forderte die Schliessung der Grenze zwischen den beiden Ländern. «Du hast in deinem Haus ein freies Bett, in dem schon zwei Leute schlafen. Drei weitere schlafen auf dem Boden, vier auf dem Dach und fünf im Garten. Und was dann? Es ist kein Platz mehr im Haus», sagte er. Die Opposition wirft ihm Rassismus vor. Bassil aber nennt das Realismus und findet mit seinen Tiraden Gehör.

Schon einmal, in den siebziger Jahren, strömten Zehntausende Flüchtlinge ins Land: PalästinenserInnen, die zuerst aus Israel und dann aus Jordanien vertrieben wurden. Viele LibanesInnen geben ihnen bis heute die Schuld für den langen Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 und die anschliessende Besatzung des Libanons durch die syrische Armee. Während Jahren wurden LibanesInnen von syrischen Soldaten an Checkpoints erniedrigt, von der Geheimpolizei gejagt und gefoltert. DissidentInnen wurden umgebracht. Tausende werden noch heute vermisst. Die Einschusslöcher am Haus neben Cezars Laden erinnern an die Jahre der Gewalt, die eine tiefe Spaltung zwischen ChristInnen, SunnitInnen und SchiitInnen hinterlassen haben.

In der Stadt Baalbek im Inneren des Landes blicken die Führer der Schiitenpartei Hisbollah von Bannern an Laternenpfählen auf die Menschen der Stadt hinab; alle paar Meter wehen gelbe Fahnen der Partei. In den vergangenen Monaten gab es in der Umgebung immer häufiger Begräbnisse von Hisbollah-Kämpfern, die in Syrien getötet wurden. Täglich kommen Flüchtlingsfamilien aus dem vorwiegend sunnitischen Norden Syriens an. Alte, tiefe Feindschaften kommen hier wieder zum Vorschein; Fragen nach politischer Einstellung und Religion prägen die Menschen.

«Unser Haus wurde vollständig zerstört», sagt Abdah*, die vor zwei Wochen mit ihrem Mann und vier Kindern aus der nordsyrischen Millionenstadt Aleppo nach Baalbek gekommen ist. «Wir haben so lange wie möglich ausgeharrt, aber die Kämpfe nahmen kein Ende.» Jetzt sitzt Abdah mit ihrem Jüngsten auf dem Arm in einem Registrierungszentrum des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen. Eine Weile lang waren sie bei Verwandten untergekommen, doch die Wohnung war zu klein. «Die Kinder stritten die ganze Zeit. Wir konnten das unseren Gastgebern nicht mehr zumuten», sagt die Frau. Geduldig wartet Abdah mit Dutzenden anderen auf weissen Plastikstühlen in der Halle. Erst nach der Registrierung erhalten die Flüchtlinge eine monatliche Zuwendung von dreissig US-Dollar. Abdahs Ehemann war in Syrien Elektriker. Jetzt nimmt er als Tagelöhner jeden Job an, den er kriegen kann. «Es ist schwierig für ihn», sagt Abdah, und Tränen schiessen in ihre Augen. «Die Leute fragen ihn nach seiner Herkunft und seiner politischen Einstellung. Wenn es den Arbeitgebern nicht passt, dann wollen sie ihn nicht, und wir haben kein Geld.»

Aufwind für die Radikalen

Trotz der Tatsache, dass der Libanon mit seinen gerade mal 4,5 Millionen EinwohnerInnen mehr Flüchtlinge aufnimmt als Nachbarländer wie Jordanien und die Türkei, verhindert die Regierung die Errichtung von Flüchtlingslagern. Erfahrungen wie mit den PalästinenserInnen, deren Flüchtlingslager mittlerweile kleine Städte geworden sind, sollen sich nicht wiederholen. Deswegen leben viele Flüchtlinge, die sich die Mieten nicht leisten können, in leer stehenden Schulen, in Rohbauten und auf Parkplätzen.

Weiter im Süden des Libanon ist die Situation noch angespannter. Das Gebiet ist überwiegend schiitisch, und die Hisbollah betrachtet es als ihr Hoheitsgebiet. Ayman Alghazal ist Leiter der Stadtverwaltung von Tyr; jeden Tag kommen Flüchtlinge in sein kleines Büro, um sich registrieren zu lassen. Immer wieder hört er die gleichen Geschichten über Kämpfe, Tod und Vertreibung. «Wenn die Familien in Tyr eintreffen, schlafen sie oftmals zuerst auf der Strasse», sagt Alghazal, der die Flüchtlingshilfe koordiniert. «Mittlerweile kommen hier täglich Familien aus Damaskus an», sagt er und blickt zu den Ordnern mit den Registrierungsblättern, die sich auf seinem Schreibtisch stapeln. Bisher blieben die Flüchtlinge in den Grenzgebieten oder in den vorwiegend sunnitischen Gegenden im Norden. Doch die Kapazitäten dort sind ausgeschöpft, deshalb weichen sie jetzt in den Süden aus.

Mittlerweile hat der syrische Krieg auch die Hauptstadt erreicht. Damaskus liegt weniger als fünfzig Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt. Im Stadtzentrum harren immer noch mehrere Millionen Menschen aus. Wenn sie zur Flucht gezwungen werden, könnte die Situation im Libanon eskalieren. Schätzungen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Flüchtlinge bis Mai verdoppeln wird.

In den vergangenen Monaten schlugen im Libanon die Spannungen zwischen Unterstützerinnen und Gegnern des syrischen Aufstands in Gewalt um. Der syrische Konflikt hat den radikalen Salafismusprediger Ahmed al-Assir berühmt gemacht. In aggressiven Reden kritisiert er die Unterstützung der Hisbollah für Baschar al-Assad. Im vergangenen November entfernte er in einer medienwirksamen Aktion mehrere Plakate der Schiitenpartei von einer Strasse in seiner Heimatstadt Saida. Bei anschliessenden Schusswechseln zwischen Assir-Anhängern und Hisbollah-Mitgliedern gab es vier Tote.

Das trifft auch die Wirtschaft im Libanon. «Früher kamen viele Touristen nach Tyr, vor allem aus dem Mittelmeerraum», sagt Stadtverwalter Ayman Alghazal. Wie Erinnerungsstücke hängen grossformatige Fotos der weissen Strände und antiken Ruinen Tyrs an den grauen Wänden seines Büros. Der Tourismus macht ein Fünftel des libanesischen Bruttoinlandsprodukts aus. Doch mit dem Krieg im Nachbarland geriet die Branche in Not – nur ein Teil des Verlusts wird durch Hotelbuchungen von SyrerInnen aufgefangen. Darüber hinaus klagen die Menschen in Tyr, dass die Neuankömmlinge, die für Niedriglöhne arbeiten, um ihre Arbeitsstellen konkurrieren würden; andere berichten von zunehmender Kriminalität. Auf vielen Strassenkreuzungen in Tyr stehen bettelnde Frauen und Kinder. «Es gibt immer mehr Beschwerden von den Leuten», sagt Alghazal. «Dennoch machen wir hier keinen Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten beziehungsweise Unterstützern und Gegnern der Revolution.»

Keine Hilfe für SunnitInnen

Im Hoheitsgebiet der Hisbollah hingegen – im benachbarten Nabatieh – werden Flüchtlinge auch von offiziellen Stellen diskriminiert. Laut Schätzungen leben 9000 Flüchtlinge in der Stadt. Bei ihrer Ankunft müssen sie sich bei der Hisbollah registrieren. «Sie werden gefragt, ob sie Sunnis oder Alawis sind», sagt eine lokale Flüchtlingshelferin, deren Name aus Sicherheitsgründen ungenannt bleiben muss. «Die Alawis werden willkommen geheissen, während die Sunniten keine Hilfe bekommen.» Es gibt Berichte über Gewalt gegenüber Flüchtlingen. Verschiedene Gruppen in der Stadt sehen die SunnitInnen als VertreterInnen der Freien Syrischen Armee (FSA) und greifen sie an. «Eine Frau, die ihren Bruder verloren hatte, konnte ihre Trauer nicht zeigen», sagt eine Journalistin aus dem Ort. «Ihr Bruder kämpfte für die FSA. Hätte sie ihre Gefühle gezeigt, hätte sie mit Verfolgung rechnen müssen.»

In Beirut wächst das Lager von PolitikerInnen, die die Grenze schliessen wollen, um die syrischen Flüchtlinge auszusperren. Alle Beteiligten wissen aber, dass dies nicht möglich ist. Zu unübersichtlich sind die Berge und Täler in der Grenzregion zwischen den beiden Ländern. Doch es geht nicht nur um die Flüchtlingsfrage: Die Forderungen sind Teil eines politischen Lagerkampfs. Ein Lagerkampf, der zunehmend den Linien des libanesischen Bürgerkriegs folgt.

* Name aus Sicherheitsgründen nicht vollständig.

Zwei Blöcke

Der politische Libanon zerfällt in zwei Blöcke namens «8. März» und «14. März». Nach der Ermordung des libanesischen Premierministers Rafik Hariri im Februar 2005 kam es in Beirut zu grossen Demonstrationen. Die DemonstrantInnen vom 14. März beschuldigten die Besatzungsmacht Syrien, hinter dem Attentat zu stehen, und forderten den Abzug.
Die UnterstützerInnen Syriens trafen sich eine knappe Woche zuvor am 8. März. Der Block 14. März setzte sich durch; die syrische Armee zog ab. Das Verhältnis zum grossen Nachbarn prägt allerdings weiterhin die libanesische Politik.