Wir wollen alles und zwar subito. Teil V: Mit Singen den Leuten einen Kick geben

Astrid Spirig. Geboren 1954 in Diepoldsau, Kanton St. Gallen. Kaufmännische Angestellte und Sängerin bei der ersten Schweizer Frauen-Punk- und New-Wave-Band Kleenex/Liliput. Arbeitet heute als Anwaltssekretärin in Zürich.

Mein Gegenstand: Von der Punkzeit bis heute hat mich der «Eremit» aus dem Tarot begleitet. Um die eigene Wahrheit zu leben, nehme ich gerne Sprünge in meinem Leben in Kauf.

Mein Vater war Maschinenschlosser, meine Mutter machte Heimarbeit. Als ich in die Schule kam, zügelten wir nach Engi, Kanton Glarus, und ein Jahr später nach Adliswil im Kanton Zürich, wo sich mein Vater zum Betriebsleiter emporarbeitete. Dort blieb ich, bis ich die Lehre fertig hatte.
Ich war ein eigenwilliges Kind. Wenn ich etwas Blaues wollte, musste es wirklich blau sein und nicht etwa hellblau. Später, in der Punkzeit, sagte ich einmal: Ich will alles. Alles musste immer völlig mit mir übereinstimmen. Als Kind träumte ich viel und begann zu schreiben. Einige meiner Texte – Gedichte gegen den Krieg – wurden in der Zeitschrift «Beobachter» abgedruckt. Ich machte mir Gedanken darüber, wie die Menschen miteinander umgehen und wie die Welt sein sollte. In der Schule war ich die Kleinste und Frechste. Wenn der Lehrer uns mit angemalten Nägeln erwischte, wurden wir nach Hause geschickt. Ich strich den kleinen Fussnagel an, um zu schauen, ob er es bemerken würde. Ich war die Rebellin in meiner Klasse.

Wie verbrachtest du die Freizeit?
Ich machte immer «Lehrerlis». Es gab immer kleine Kinder, die lesen lernen wollten. Ich war eine Leseratte. Am meisten faszinierte mich die «Rote Zora». Dieses Buch las ich sicher hundert Mal. Die Rote Zora war auch ein spezielles Kind. Ich bewunderte sie, wie sie sich gegen die Widerwärtigkeiten in ihrem Leben durchsetzte.
Mit meinem jüngeren Bruder musste ich das Zimmer teilen. Das war für mich ein Horror, weil ich allein sein wollte. Wir hatten das übliche Geknatsche zwischen Bub und Mädchen. Da warf er doch einfach seine Unterhosen auf mein Bett, und ich explodierte natürlich. Überhaupt: Er war ein Bub, der draussen im Freien spielte, und ich war ein Stubenhocker und Bücherwurm. Erst als Erwachsene fanden wir durch die Musik einen Draht zueinander.

Was gaben dir die Eltern mit auf den Weg?
Meine Mutter hatte etwas Spielerisches. Wenn der Boden geschrubbt werden musste, setzte sie mir einen Papierhut auf den Kopf und befestigte zwei Putzlappen an meine Füsse. Das waren die Schneeschuhe, und ab ging es ins Wintermärchenland. Mit solchen Spielchen brachte sie uns Kinder dazu, die unangenehmen Pflichten zu erledigen. Das war ihre Art von Kreativität, und davon habe ich viel mitbekommen. Mein Vater sprach stets von Gerechtigkeit. Alles musste immer gerecht verteilt werden. Doch politische Diskussionen gab es bei uns nicht. Auch waren meine Eltern keine Kirchgänger. Als kleines Kind suchte ich immer jemanden, der mit mir in die Kirche kam.

Was zog dich in die Kirche?
Die Atmosphäre von Reinheit und Stille. Ich ging in die katholische Kirche und wurde auch gefirmt. Mit sechzehn Jahren trat ich aus, weil ich gegen den Krieg war und die Kirche die Waffen segnete. Auch dass der Papst gegen die Pille war, trug dazu bei, dass meine positiven religiösen Gefühle in Kirchenhass umschlugen.

Was machtest du nach der Schule?
Ich entschied mich für eine kaufmännische Lehre. Danach arbeitete ich zuerst in einer Bibliothek, darauf sieben Jahre als Korrektorin beim «Tages-Anzeiger». In dieser Zeit begann ich, intensiv zu schreiben. Ich machte in der «Werkstatt schreibender Arbeiter» mit. Wir schrieben über politische und gewerkschaftliche Themen, über Drogen und die innere Rebellion gegen die Gesellschaft, über das Frausein/Mannsein und über Geschlechterbeziehungen. Es war die grosse Zeit der Simone de Beauvoir. Wir produzierten kleine Geschichtenbücher und setzten sie in Umlauf. Gleichzeitig war ich aktiv in der Frauenbefreiungsbewegung. Ich baute dort eine Selbstuntersuchungsgruppe auf. Damit Frauen zum Beispiel selbst herausfinden konnten, ob sie schwanger waren. Eines Tages hörte ich zum ersten Mal die Frauenband Kleenex, die später Liliput hiess. Am Anfang konnten die nicht mehr als drei Griffe auf der Gitarre. Dass Frauen Musik machten, beeindruckte mich so sehr, dass ich mit ein paar anderen Frauen zusammen ebenfalls eine Band gründete. Ich hatte schon immer gerne gesungen. In der Schule musste ich jeweils an den Examen vorsingen oder Gedichte vortragen.
Am nächsten Wochenende mieteten wir Instrumente, begannen unter dem Namen «Neon» zu proben und hatten schon bald unsere ersten Auftritte. Dann gab es bei Kleenex einen Wechsel. Die Sängerin ging, und ich wurde angefragt, ob ich zum Vorsingen käme. So bin ich zu ihnen gestossen. Die Band bestand aus der Künstlerin Klaudia Schifferle sowie Marlen Marder. Manchmal war auch Beat Schlatter als Schlagzeuger mit von der Partie. Um meinen Unterhalt zu verdienen, arbeitete ich bei einer Treuhandgesellschaft, die mich als Paradiesvogel «hielt» und stolz auf mich war. Den Kaffee durfte ich den Kunden allerdings nicht servieren.

Was war besonders an Kleenex/Liliput?
Die Art und Weise, wie unsere Musik entstand. Wir trafen uns im Übungskeller, und los ging es: Vier Stunden Gekreisch und überhaupt keine Musik. Alles nahmen wir auf Band auf. Dann fanden wir plötzlich, wow, dort, nach anderthalb Stunden, hatte es eine wahnsinnig gute Stelle. Wir spulten zurück, hörten uns die Stelle nochmals an und jammten an diesem Punkt weiter. Daraus entwickelte sich ein Stück, und dann schrieben wir den Text dazu. Wir waren immer auf der Suche nach neuen Klängen.

Wie wurdest du von der Band, die vor dir ja schon seit drei Jahren bestanden hatte, akzeptiert?
Die beiden Frauen waren ein festes Team, aber sie nahmen mich mit offenen Armen auf. Doch es existierte bereits ein derartiger Kult um Kleenex, dass von aussen automatisch angenommen wurde, alles käme immer von Klaudia Schifferle und Marlen Marder und dass ich noch ein bisschen dazu singen würde. Ich wurde also selten als kreativer Teil von Kleenex/Liliput wahrgenommen. Das war manchmal schwierig.

Wie entwickelte sich eure Musik weiter?
Wir gingen viel auf Tournee – nach Deutschland und Frankreich. Es war uns egal, wenn wir nicht viel verdienten, Hauptsache es machte Spass. Die Gage teilten wir mit allen, auch wenn wir zu zehnt unterwegs waren. Es ging also nicht um Musik als Beruf, sondern darum, lustvoll zu leben. Die Leute strahlten, wenn sie uns hörten. Das war für diese Zeit wichtig, auch für die achtziger Bewegung: Fun. Und etwas von diesem Fun fandest du in der Musik von Kleenex/Liliput.
Ein Stück hiess «China»; das wurde ohne Schlagzeug gespielt, dafür hämmerte Klaudia den Takt mit Schlagzeugknebeln auf ihren Basssaiten. Ich liess einen Text auf Chinesisch übersetzen und sang ihn selbst. Zwischendurch hatte es Breaks, wo es einfach still war. Das Punkpublikum sang den Refrain wunderbar in diese Pausen hinein. Diese direkte Kommunikation war schon eine Eigenart von Kleenex/Liliput.

Wie war das Klima in der Zürcher Musikszene?
Wir waren wie eine Familie, und vieles war am Blühen. Unser wichtigster Auftrittsort in Zürich war die Rote Fabrik. Da hatten wir auch unseren Übungsraum, da jammten wir mit anderen Bands wie den Yello, trafen uns mit den Bandmitgliedern von Blue China. Durch Klaudia gab es viele Berührungspunkte zur damaligen Kunst- und Filmszene. Alles ging ineinander über, und jeder half dem anderen, ohne neidisch zu sein. Auch unser Publikum war gemischt, reichte von «älteren» Leuten aus der Kunstszene hin bis zu sechzehnjährigen Punks.

Wie reagierte eure Band auf die achtziger Unruhen?
Wir sind mit der achtziger Bewegung gewachsen. Wir fanden es toll, dass es das AJZ gab, traten dort auch auf, aber es war nicht unser Zuhause. In der Roten Fabrik gefiel es uns besser. Ich ging an die Demos. Das war mir vertraut. Ich hatte schon als junges Mädchen in Zürichs erstem AJZ verkehrt, im so genannten Bunker. Das war 1970/71. Ich spürte wieder diesen uralten Groll; der Hass auf das Ganze kam wieder hoch. Nicht wegen mir, denn ich fühlte mich schon zu alt, um im AJZ zu verkehren, sondern eben wegen dieser Jungen, die wie wir in den siebziger Jahren wieder keinen Ort für ihre Kultur hatten. Ich regte mich über die Tränengaseinsätze auf, über die Art und Weise, wie alle aus der achtziger Bewegung über einen Kamm geschert wurden: «Das sind alles ‘grusigi Sieche’, die nicht arbeiten wollen, und Kriminelle, die draussen mit einer Bierflasche schlafen und nachts Passanten ausrauben.»
Für mich war die achtziger Bewegung mehr als ein Kampf um ein AJZ. Für mich war es ein Aufschrei: Jetzt zeigen wir, wie die Verhältnisse wirklich sind, und die Gesellschaft soll sich subito mit den wahren Problemen auseinander setzen, anstatt jedes Zeichen des Protests zu unterdrücken. Die Punks brachten durch ihr Outfit klar zum Ausdruck, wie sie die Gesellschaft sahen: als heuchlerisch und verlogen. Sie hatten voll meine Sympathie, auch wenn ich einen Job hatte, genügend Geld verdiente und weder Punk noch Teil der Bewegung war.

Welcher Zusammenhang bestand zwischen Protest und Musik?
Ich hatte schon 1979, als ich zu Kleenex stiess, die Konsequenzen aus meinen Erfahrungen gezogen: Ich wollte etwas bewegen. Singen war eine Möglichkeit, meinem Publikum einen Kick zu geben, Mut zu machen: Nicht aufgeben, weiter! Auch wenn alles wieder kaputtgemacht wird, weiter! Auch in unseren irren, dadaistischen Texten kam diese Haltung zum Ausdruck: «Ich habe Angst vor Geistern wie dir / Lachen, lachen über mich / Lachen, lachen über dich / in den Fängen des Luxus.» Der Inhalt unserer Musik war mir das Wichtigste, und dass es Spass machte. Es war eine Art von lustvoller Belehrung.

Bis wann gab es euch als Liliput?
Bis 1983. Dann wollte ich eine Musical-Schule in New York besuchen, weil wir in unseren Bühnenauftritten vermehrt visuelle Elemente einbauen wollten. Ich wurde schwanger und musste mich zwischen New York und dem Kind entscheiden. Die Wahl fiel auf mein Kind, obwohl ich wusste, dass ich es alleine aufziehen würde. Ich arbeitete wieder bei meiner Treuhandgesellschaft. An die Musik knüpfte ich nicht mehr an, weil ich mich voll als Mutter engagieren wollte. Später bildete ich mich zur Körpertherapeutin aus, und heute arbeite ich als Sekretärin bei einer Rechtsanwältin und habe wieder Zeit zum Schreiben gefunden.

Was hat sich in deinen Texten verändert?
In den siebziger Jahren war ich eine so genannte Betroffene, die gegen die Ungerechtigkeit anschrieb. Heute schreibe ich mehr lustbetont. Von meiner Zeit mit Kleenex/Liliput ist mir das Vertrauen geblieben, dass es immer weitergeht. Wir hatten manchmal null Stutz und ernährten uns einen Monat lang nur von Käsenudeln. Alles Geld ging in die Musik. Es war ein spielerischer Umgang mit dem Leben. Heute habe ich keine Angst vor nichts. Auch das Gefühl, dass man etwas bewirken kann, ist weiterhin da.

Was, denkst du, halten die Jungen heute von der Generation der Bewegten?
Es ist sicher schwierig für sie, zu begreifen, aus welchem Stoff unsere Träume waren. Es ging ja nicht nur um kulturelle Freiräume, sondern um unsere Sehnsucht nach einer anderen Welt. Machmal denke ich, dass unser damaliges unkonventionelles Verhalten sie heute in eine konservative Haltung drängt. Keine Generation vor uns hatte das Problem, mit ihren Müttern in derselben Disco zu tanzen. Mein sechzehnjähriger Sohn möchte vor allem seine beruflichen Chancen optimal nutzen.