Tagebuch aus Tunis: Und die TunesierInnen gehen hin

Andrea Tognina

Zwei Jahren nach der Revolution mag bei vielen Tunesierinnen und Tunesiern eine gewisse Ernüchterung eingekehrt sein. Sie haben mehr Freiheit als unter dem Regime Ben Alis, ihre Freiheit ist aber auch neuen Bedrohungen ausgesetzt. Wirtschaftlich geht es ihnen schlechter als früher. Ihr Bedürfnis, sich auszudrücken, ist aber nach wie vor sehr ausgeprägt: Die Gelegenheit des Weltsozialforums hat sich die tunesische Zivilgesellschaft jedenfalls nicht entgehen lassen.

Nach einer Podiumsdiskussion von Alliance Sud über das Investitionsschutzabkommen zwischen Tunesien und der Schweiz ergreift ein Mann aus dem Publikum das Wort. Er heisst Ismail, ist vielleicht sechzig Jahre alt, trägt die «chéchia», die traditionelle tunesische Mütze. Ismail ist Kleinunternehmer und besitzt in Ellouza bei Sfax ein Hotel und einen Campingplatz. Für die Investition hat er sich verschuldet, beim Staat Hilfe gesucht und keine Antwort bekommen. Er ist verzweifelt. Vielleicht hat er gehört, dass am Weltsozialforum die grossen Probleme der Welt diskutiert werden und gedacht, dass er hier vielleicht auch eine Antwort auf seine eigenen Probleme finden kann. Jedenfalls hat er ein paar Prospekte mitgenommen, in denen die «alternative, soziale, solidale» Einstellung seines Hotels gepriesen wird – der Mann versteht etwas von Werbung!

Tatsächlich verspricht ihm einer der Workshop-Referenten Hilfe, ein Vertreter von Utica, der tunesischen Economiesuisse. Er ist beileibe kein waschechter Altermondialiste. Aber er war sich nicht zu schade, am Alliance-Sud-Workshop teilzunehmen, hat eifrig mitdiskutiert und schien sich durchaus wohl zu fühlen.

Ähnliche Szenen spielten sich am Weltsozialforum in Tunis oft ab. Man wollte die lokale Zivilgesellschaft einbeziehen und sie ist massiv gekommen, in all ihrer Vielfältigkeit und mit all ihren Widersprüchen. Einige Islamisten waren da, Feinde und Freunde des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad ebenfalls. Die tunesischen Taggers waren da und VertreterInnen der Ennahda, der islamischen Regierungspartei, auch. Die offizielle Politik war ebenfalls da, wenn auch wohl eher aus aussenpolitischen Marketinggründen.

Irgendwie ist das schon beeindruckend. Das Weltsozialforum wird, mit all seinen Unzulänglichkeiten, ernst genommen. Es ist, in diesem spezifischen tunesischen Kontext, unausweichlich geworden, incontournable.