Verschwörung oder Abgang?

Ohne die Armee wäre der Machtwechsel in Serbien nicht so glimpflich über die Bühne gegangen: Warum hat sie nicht eingegriffen?

Ende September, vier Tage nach dem grossen Wahlbetrug: Die Spannung in Belgrad steigt. «Es sind wenige Tage, die über unsere Zukunft entscheiden», sagt Vesna Pesic von der Bürgerallianz. Eine Woche später brennt das Parlament, weitere 24 Stunden später tritt Slobodan Milosevic zurück. Doch die hiesige Revolution hat verschiedene Geschwindigkeiten. Nach dem schnellen Wechsel im Staatspräsidium dauert es neun lange Tage, bis Anfang dieser Woche eine Übergangsregierung gebildet wird. Die Armeespitze hingegen bleibt unverändert – eine schwierige und gefährliche Nachzüglerin auf dem Weg in die Demokratie.
Die Armee war in den vergangenen Jahren ein gefügiges Instrument des Regimes von Slobodan Milosevic. Häufige personelle und organisatorische Veränderungen im Generalstab und in den Geheimdiensten zeugten von der engen Kontrolle durch das Regime, aber auch von dessen permanentem Misstrauen. Die Armeespitze liess sich willig in die jüngste Kampagne gegen die Opposition einspannen. Generalstabschef Nebojsa Pavkovic persönlich erklärte an einer Wahlveranstaltung im montenegrinischen Berane, die Wahl für oder gegen Milosevic sei die Wahl für oder gegen die Unabhängigkeit des Landes.
Nach den Wahlen vom 24. September, als noch alles in der Schwebe war, wählte Milosevic nicht zufällig die Drohkulisse einer Offiziersbrevetierung, um zu verkünden, er denke nicht an Rücktritt. «Wir haben keine direkten Kontakte zur Armeespitze», sagte damals ein Sprecher der Opposition, «aber wir senden Signale.» Über das Echo schwieg er sich aus. Heute scheint klar: Es gab keines. Und so blieb bis zuletzt die bange Frage: Greift die Armee ein? Sie tat es nicht und vermied damit ein Blutbad mit unabsehbaren Konsequenzen. Die wahren Gründe für das Abseitsstehen der Armee werden wohl noch länger im Dunkeln bleiben. Die britische BBC und andere Medien stellen seit längerem Spekulationen über eine putschähnliche Verschwörung an. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Armeespitze den Kampf gegen das eigene Volk mangels Erfolgsaussichten nicht aufnehmen wollte und das sinkende Schiff rechtzeitig verliess. «Die Armee war und ist gespalten», sagt Exoberst Milorad Timotic vom Zentrum für zivil-militärische Beziehungen. Dass 80 Prozent der Soldaten und Offiziere für Kostunica gestimmt haben sollen, wie die Opposition verkündete, hält er für stark übertrieben. «Die Spaltung geht bis hinauf zur Generalsstufe. Viele Offiziere haben genug von den miserablen Lebensbedingungen und sind frustriert von den militärischen Niederlagen der vergangenen Jahre.» Weder Timotic noch Oberst P. vom militärischen Geheimdienst zweifeln daran, dass die Spezialtruppen der Militärpolizei, der Fallschirmjäger oder die dem Regime ergebenen Gardetruppen einen Schiessbefehl befolgt hätten. Damit aber hätte die Armeespitze den Einsatz anderer Truppen auf Seiten der Opposition riskiert.
In Belgrad kursiert das Gerücht, der Sturm des Parlaments sei von «dissidenten», als Zivilisten getarnten Fallschirmjägern der 63. Brigade ausgelöst worden. Oberst P. dementiert das kategorisch, ebenso die Meldung von BBC, Generalstabschef Pavkovic habe Milosevic unter Waffendrohung zur Anerkennung von Kostunicas Wahlsieg gezwungen. «Ich weiss, dass das nicht stimmt», sagt der sonst eher schweigsame Offizier. Budimir Babovic, dem ehemaligen Interpolchef Jugoslawiens, ist dagegen aufgefallen, dass das Polizeidispositiv am Revolutionstag falsch ausgelegt war. «Falsch, wenn man den Sturm des Parlaments hätte verhindern wollen. Aber auch die Polizei ist demoralisiert und wollte es nicht zum Letzten kommen lassen.»
Die öffentlichen Stellungnahmen von Generalstabschef Pavkovic zeigen, dass die Armee derzeit bemüht ist, sich als politisch neutralen, staatserhaltenden Faktor zu präsentieren. «Die Kampfkraft der Armee wird durch den politischen Wechsel in der Mehrparteiendemokratie nicht beeinträchtigt», sagt der gleiche Mann, der noch vor wenigen Wochen die Unabhängigkeit des Landes bedroht sah. «Die Einheit der Armee blieb gewährleistet, als die Situation in einigen Städten zu eskalieren drohte. Niemand in der Armee ist gegen personelle Wechsel, solange sie rechtmässig erfolgen», versichert Pavkovic. Vielleicht kann Pavkovic den Wahrheitsgehalt seiner letzten Aussage bald persönlich unter Beweis stellen, denn aus den Reihen der Opposition wurde die Forderung nach seinem Rücktritt laut. Auch Oberst Timotic kann sich eine demokratische Armee mit Pavkovic an der Spitze nicht vorstellen. Er warnt aber vor «Schnellschüssen» in der jetzigen labilen Situation. Obwohl er als ehemaliger Kommandant der 3. Armee für Kosovo zuständig war, wurde Pavkovic vom Haager Tribunal nicht angeklagt. «Er hat also noch etwas zu verlieren. Das können wir ausnutzen.»
Der jugoslawischen Armee steht in den kommenden Jahren ein ähnlich schwieriger Transformationsprozess bevor wie der gesamten Gesellschaft. Die übergrossen Bestände der Streitkräfte müssen reduziert, reformiert und der demokratischen Kontrolle unterstellt werden. Und es wird eine öffentliche Diskussion über die Rolle der Armee in den vergangenen zehn Jahren geben müssen, die dem Land von keinem internationalen Tribunal abgenommen werden kann.