Wer sitzt in wessen Boot?

Wie kurz der Traum doch war. Nicht einmal einen Tag, nachdem Bill Clinton den «Sieg für eine sichere Welt» verkündete und die Nato sich rühmte, Russland und China «ins Boot zurückgeholt» zu haben, ist der Konflikt zwischen der Nato und Russland offen zutage getreten: Rund 200 Militärs marschierten als unangemeldetes und der Nato nicht unterstelltes Vorauskontingent im Kosovo ein, wo sie seitdem anstelle britischer Truppen den Flughafen von Pristina besetzen.
Unberechenbarkeit der russischen Politik? Aggression? Provokation? Nichts dergleichen: Es war ein Warnschuss, vielleicht auch eine Notbremse, gezogen von Präsident Boris Jelzin, der sich über seinen Coup köstlich amüsierte. Und überrascht kann eigentlich nur sein, wer den Krieg um den Kosovo für ein lokales Unternehmen der Nato zur Befriedung des Balkans hielt und wer das Gerede vom Boot, in das Russland und China zurückgeholt worden seien, ernst genommen hat. Denn Russland, das darf nicht vergessen werden, ist mehr als Europa, und hat auch weiter gehende Interessen – das zeigen das strategische «Bündnis für eine multipolare Welt» mit China und die jetzt (auch unter dem Eindruck des jugoslawischen Krieges) erneuerten Abkommen mit Japan, mit Indien, mit dem Iran.
Das Nato-Bild vom Boot hat ohnehin Schlagseite. Mit dem Boot kann ja schlecht die Nato gemeint sein (ihr gehören weder Russland noch China an), und auch die Uno passt kaum in die Metapher, denn aus diesem «Boot» ist ja die Nato mit ihrer Selbstmandatierung ausgestiegen, während sich die Sicherheitsratsmitglieder Russland und China weiter brüskieren lassen mussten. Bonn liess die ersten russischen Vermittlungsversuche des damaligen Regierungschefs Jewgeni Primakow abprallen; dafür musste man sich in Moskau die Reden der US-Aussenministerin Madeleine Albright anhören, die auf dem Nato-Jubiläumsgipfel eine schnellere Einbindung der baltischen Staaten sowie die Bildung eines Nato-Verbandes in den GUS-Ländern forderte. Ausserdem verwandelte die Nato die Staaten Osteuropas in Stützpunkte für den Luftkrieg.
Parallel dazu war Russland aufgrund seiner schweren Verschuldung zu grossen Zugeständnissen an die Nato genötigt, die praktisch auf eine Legitimierung des Angriffs hinausliefen – zumindest wurde dies im Lande teilweise so verstanden. Die innenpolitische Empörung über Russlands Erniedrigung schlug Jelzin hart entgegen. So kam eine Uno-Resolution zustande, die den Grundkonflikt nur verschob, indem sie die Friedenstruppe, einschliesslich russischer Kontingente, unter die Schirmherrschaft der Uno stellte, im Kleingedruckten jedoch die Nato zum Kern dieser Truppen machte, ohne zu klären, wie die russischen Verbände in die Kommandostruktur eingebunden werden sollten. Russland, das war schnell klar, sollte beiseite geschoben werden. Diesem Spiel hat der russische Coup erst einmal ein Ende gesetzt.
Jelzin hat mit der kleinen Geste mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Er hat die aufkommende nationalistische Kritik in Russland beruhigt, er hat Russlands Gesicht gegenüber Serbien gewahrt und mit der Präsenz russischer Truppen im Kosovo eine wichtige Position für die zukünftige Ausei-nandersetzung zwischen den Grossmächten besetzt: Stabilität wird künftig nicht ohne Russland und seine strategischen Partner ausserhalb des Nato-Lagers zu haben sein.