Leben in New York nach 9/11: Welche Jacke im Notfall?

Kompetentes Personal ist entlassen, das Café hat zu: Beobachtungen am Rande einer Katastrophe.

Dienstag, 11. September. An wen wenden wir uns in einer Krise? An das Personal der öffentlichen Dienste, sofern es das noch gibt. Ich habe gerade mit zwei Dutzend VerwalterInnen der New Yorker Wohnungsbehörde gesprochen. Männer und Frauen, die mit ihren blauen Anzügen an einer Sammelstelle auf ihren Einsatz warteten. Normalerweise erledigen diese Leute – fast ausschliesslich Schwarze und Latinos – Abwarttätigkeiten.

Heute kommen sie dem Finanzzentrum der Welt zu Hilfe. Aber wo bleiben die Müllmänner? Die Leute vom Wohnamt sind für die empfindliche Räumoperation in Downtown kaum geeignet. «Die Stadt zieht sich aus dem Müllgeschäft zurück», sagt ein Arbeiter. Das stimmt. Der Müll wird zunehmend von Privatunternehmen aufgelesen. «Die Polizei und das Krankenhauspersonal werden immer gelobt, aber wir sind da, wenn man uns braucht», sagt der Gewerkschafter Ray Garcia. Dunkelhäutig und im Drillich warten sie in der Hitze, unsere Rettungsleute, auf die wir im Notfall angewiesen sind. Sollen wir die Ausgaben für soziale Dienste weiter kürzen?

Mittwoch, 12. September. Die New Yorker haben einiges gelernt in den letzten beiden Tagen. Die Rettungsleute schreiben – das haben sie den Seattle-Protestierenden abgeschaut – ihre Namen und Telefonnummern («JOSH 201 555-3232») mit rotem Filzstift auf den Arm für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes passiert. Wir bekommen einen kleinen Geschmack von Checkpoints und bewaffneten Soldaten auf der Strasse, und manche von uns sehen, wie leer Regale sein können. In Soho suchen heute Abend wohlhabende New YorkerInnen mit der gleichen Zuversicht und Daseinsfreude nach Milch und Brot wie einst die Grossmütter in Belgrad. Einige von uns haben gelernt, was ruandische Flüchtlinge wissen – wie es sich anfühlt, wenn man seine letzte Hoffnung an ein Stück Papier knüpft: «Haben Sie diese Person gesehen?»

Freitag, 14. September. Auf die Feuerwehrleute kam es an. Zu den New Yorkern stiessen von weit her Brüder und Schwestern im Ölzeug. Brian Gorman und drei seiner Kollegen von der Feuerwehr Brampton kamen nach einer Fünfzehn-Stunden-Schicht, um während ihrer Freizeit auszuhelfen. Brampton liegt bei Toronto in Kanada, die Fahrt dauerte elf Stunden.

Auf die Freiwilligen kam es an – bis zu einem bestimmten Punkt. Aber es gibt Grenzen. Das Einsatzkommando entschied am Freitag, dass die formell ausgebildeten (und gewerkschaftlich organisierten) ArbeiterInnen an der Einsturzstelle wieder die Kontrolle übernehmen sollten.

Was man ebenfalls in einem Notfall braucht, sind Eckläden, die verkaufen, was die Menschen benötigen. Im letzten Jahrzehnt haben schwindelerregend teure Läden Soho übernommen. Das Resultat: Fast nichts von dem, was im stilvollsten Einkaufsviertel der Welt angeboten wird, kann man essen oder trinken.

Dringend braucht es: Milch und Brot und Eier und abgekochtes Wasser. Man braucht keine: Prada-Schuhe, Kate-Spade-Taschen, 3000-Dollar-Jacken und -Kleider von Yamamoto, Vivienne Westwood, Armani, Helmut Lang.

Im Finanzquartier haben bisher kleine, von Familien betriebene Delikatessenläden und Restaurants die Leute versorgt. In zunehmendem Masse dominieren jedoch die grossen Ketten, die ihren Beschäftigten minimale Löhne zahlen. In einem Notfall braucht man: Einzelhandelsgeschäfte, die offen bleiben. Unbrauchbar ist: Starbucks.

Morgan’s Market, gerade fünf Blocks vom Trade Center entfernt, hat seit Dienstag ohne Wasser und Strom geöffnet. Als die Polizei sie evakuieren wollte, erzählt Kevin Ho, einer der Manager, habe man alle, die nach Hause wollten, heimgeschickt. Er selber, sein Boss, dessen Bruder und ein Arbeiter seien da geblieben. Da sie nicht im Viertel wohnen, übernachten sie im Laden. «Feuerwehrleute und Soldaten holen sich hier zu essen und zu trinken», sagt Ho. Die Gänge sind mit Kerzen beleuchtet. Ein Block von Morgan’s Market entfernt, dort, wo früher eine griechische Familie ihr Restaurant führte, liegt die Filiale der Kaffeekette Starbucks dunkel da. Die Türen sind abgesperrt.

* Dies sind Auszüge aus der damaligen Kolumne im Internetmagazin «Working for Change».