Britannien: Die Erinnerung an 2003: Für einmal nicht in den Krieg

Nr. 36 –

Den Tausenden auf dem Londoner Trafalgar Square stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Sie waren am Samstag einem Aufruf der Antikriegskoalition gefolgt, die gegen die britische Beteiligung an einem drohenden Militärschlag auf Syrien protestieren wollte – und waren gekommen, obwohl ihnen das Unterhaus am Donnerstag die Arbeit abgenommen hatte. «Die Abstimmung im Parlament war ein Resultat all unserer vielen Demonstrationen gegen Krieg und für Frieden», rief der Labour-Linke Tony Benn, mit 88 Jahren noch immer Präsident der Stop The War Coalition, der Menge zu.

Zum ersten Mal seit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hatte das Parlament einem Premierminister die militärische Gefolgschaft verweigert. Bislang war das Unterhaus der Regierung stets in den Krieg gefolgt – wie im Sommer 1919, als der damalige Kriegsminister Winston Churchill einen Giftgasangriff auf die Bevölkerung des revolutionären Russland anordnete. Und auch bei den Attacken auf die Falklandinseln (1982), Afghanistan (2001), den Irak (2003) und Libyen (2011) waren sich Opposition und Regierung bisher stets einig gewesen.

Dass es diesmal anders kam, lag vor allem an David Cameron. Der Premierminister hatte weder die Stimmung in der Bevölkerung (zu zwei Dritteln gegen einen bewaffneten Einsatz) noch jene in der eigenen Partei begriffen. Zwar war ihm schon vorher mitgeteilt worden, dass nur 20 der 304 konservativen Abgeordneten vorbehaltlos eine Militäraktion gegen das syrische Regime unterstützen würden. Doch Cameron glaubte, es Tony Blair gleichtun zu können. Dieser hatte Anfang 2003 einer skeptischen Bevölkerung die Existenz von irakischen Massenvernichtungswaffen vorgelogen, die mit zwei Millionen Teilnehmenden grösste Antikriegsdemonstration in der britischen Geschichte ignoriert und anschliessend das Land in einen kriminellen und verheerenden Krieg geführt.

Auch Cameron sprach von «eindeutigen Beweisen» und von der «Alternativlosigkeit» eines Vergeltungsangriffs auf Damaskus. Doch diesmal funktionierte das nicht. Zum einen wollten ältere Abgeordnete die Schmach loswerden, dass sie Blair vor zehn Jahren auf den Leim gegangen waren. Andere – wie die konservative Hinterbänklerin Sarah Wollaston – erinnerten daran, dass der Westen bei Saddam Husseins Giftgasangriff auf KurdInnen (1985) weggeschaut hatte und die USA selber chemische Waffen im Arsenal führen. Und manche werden auch gewusst haben, wie viele Menschen weiterhin an Kriegsfolgen leiden: Allein 2012 begingen fünfzig britische Soldaten und Afghanistan- und Irakveteranen Selbstmord – mehr, als im selben Jahr in Afghanistan starben.

Und so stimmten dreissig konservative und neun liberaldemokratische Abgeordnete mit der oppositionellen Labour-Partei. Wenn sie Cameron nicht in den Arm gefallen wären, hätte US-Präsident Barack Obama wohl schon am letzten Wochenende den Angriffsbefehl gegeben. Aber ein Eingreifen nur mit Frankreich an der Seite und die begeistert applaudierenden Regierungen von Israel und der Türkei im Rücken – das war für ihn dann doch eine zu schmale Neuauflage von George Bushs «Koalition der Willigen». Also braucht er zumindest das Plazet des US-Kongresses.

Ob Cameron die Botschaft verstanden hat, wie er nach der Abstimmung sagte, wird sich bald zeigen. Entwickelt seine Regierung nun politische Vorschläge zur Beendigung des syrischen Bürgerkriegs? Drängt er die US-Regierung zu direkten Verhandlungen mit Moskau und zu Zugeständnissen an die russischen Interessen? Nur mit Russland ist eine Lösung denkbar. Und kann er Obama, der im Unterschied zu den BritInnen die Lektion nicht gelernt hat, am G20-Gipfel in St. Petersburg den Deal mit den US-Republikanern ausreden? Inzwischen scheint es möglich, dass der Kongress einer Intervention zustimmt – sofern diese auch auf den Sturz des Assad-Regimes abzielt. Sollte Cameron all das nicht einfallen und er weiter in militärischen Kategorien denken, steht nicht nur die britische Antikriegskoalition vor bewegten Zeiten.