Portugal: Mit Eiern ohne Rechnung gegen den Staat

Nr. 40 –

Die ökonomische Krise im Land macht die Menschen erfinderisch. So versuchen die Betroffenen etwa in der Region des Alentejo, verlassene Gemeinden zu revitalisieren, Ökodörfer aufzubauen und die ursprüngliche Wirtschaftsform der Subsistenz zu stärken.

Der Alentejo ist der grösste und ärmste Distrikt Portugals. Weite, fast menschenleere Ebenen prägen die Region. Viele Höfe stehen verlassen, in den Dörfern wohnen meist nur noch alte Leute. Eine davon ist Maria Isabel Santos*. Sie ist 83 Jahre alt – und kriminell. Ihre «Verbrechen» begeht sie am Backofen, und das schon seit Jahren: Sie backt Orangenkuchen und verkauft ihn in der Eckkneipe. Ohne Rechnung. Ihre 58-jährige Tochter Eusebia Lourenço* stellt Ziegenkäse in der Küche her und verkauft ihn an den Nachbarn José Manuel Pinto*. Dieser backt im alten Lehmofen auf dem Hof ein paar Brote mehr, als er und seine Frau brauchen, und verkauft sie an Bekannte, um seine Rente aufzubessern.

Auch Marta Silva*, die Wirtin der Eckkneipe, ergänzt den Einheitssalat vom Grosshändler mit schmackhaften Kräutern aus dem eigenen Garten. Und wenn man den lokalen Baumerdbeerschnaps Medronho bestellt und die steuerlich versiegelte Flasche leer ist, geht Silvas Mann in die Garage und füllt nach – vom Selbstgebrannten. Man kann es Anarchie nennen, Tradition oder Lokalkolorit, aber in Zeiten der wirtschaftlichen Krise hilft die Teilsubsistenz unter NachbarInnen schlicht beim Überleben.

Anarchie hat im Alentejo Tradition. Vor hundert Jahren stand einer schmalen Schicht von GrossgrundbesitzerInnen ein Heer von verarmten und weitgehend rechtlosen LandproletarierInnen gegenüber. Als die ersten Eisenbahnschienen verlegt wurden, um den im Alentejo hergestellten Kork zu exportieren, kamen auch anarchistische und kommunistische Ideen in die Region und fielen auf fruchtbaren Boden. Doch die frühen anarchistischen Gemeinschaften und ArbeiterInnenaufstände während der politisch instabilen Zeit der sogenannten ersten Republik (1910–1926) wurden niedergeschlagen. Erst mit der Nelkenrevolution, die 1974 nach über vierzig Jahren die Diktatur des Estado Novo beendete, meldete sich die Linke wieder zurück. Es gab eine Landreform und Verstaatlichungen, und in der Verfassung von 1976 wurde der Übergang zum Sozialismus als Staatsziel definiert.

Vergrössern oder sich klein machen

Als Portugal in den neunziger Jahren dann in Erwartung international finanzierter Megaprojekte zum Musterschüler der EU wurde, verschwanden auch im Alentejo die Errungenschaften der Revolution. Heute sind in diesem Landstrich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse prekär. Die traditionelle Landwirtschaft – Korkeichen, Schweinezucht, Oliven- und Orangenanbau – ist teilweise verschwunden. Der jahrelang in Monokulturen angebaute Weizen hat die Böden ausgelaugt. Industrie gibt es kaum. Und TouristInnen verirren sich nur selten ins Hinterland der Küste.

«Die Menschen wohnen hier weit verstreut», sagt Idálio Goncalves, Gemeindepräsident des Dörfchens Relíquias. «Wir haben nicht mehr die Mittel, um sicherzustellen, dass die alten Leute mit dem Notwendigsten versorgt sind.» Vor der Wirtschaftskrise seien die Alten von der freiwilligen Feuerwehr zum Gesundheitszentrum in die Stadt gefahren worden, wenn sie krank waren. «Aber inzwischen wurde das Geld dafür gestrichen.»

Die BewohnerInnen tun also das, was sie immer getan haben: Sie produzieren, was sie brauchen, und verkaufen den Überschuss an Freunde und Nachbarinnen. Eine Rechnung können sie dafür nicht ausstellen. Denn für eine Betriebsgenehmigung müssten sie Auflagen erfüllen und Investitionen tätigen, etwa für gekachelte Produktionsräume mit einer Reinigungsanlage oder Verpackungs- und Etikettiermaschinen.

So blieb Adérito Pereira, dem Inhaber eines einfachen Lokals, keine andere Wahl, als eine moderne Registrierkasse anzuschaffen: «Wenn der Gast es wünscht, muss ich ihm eine Rechnung ausstellen», sagt Pereira. «Wenn auf der Rechnung dann ein Omelett steht, möchte das Finanzamt die Rechnung für die Eier sehen. Wenn ich die Eier von unseren Hühnern verwende, kann ich die aber nicht vorweisen und mache mich so strafbar.»

Anders als etwa Frankreich hat der portugiesische Staat den KleinunternehmerInnen keine Sonderbedingungen eingeräumt. Während in Frankreich auf BäuerInnenmärkten weiterhin alle Produkte zugelassen sind, während Wurst und Käse immer noch offen geschnitten und aufbewahrt und Produkte direkt ab Hof verkauft werden dürfen, ist dies in Portugal heute verboten. Entsprechend stecken die KleinunternehmerInnen mit ihren Kneipen, Küchen, Läden und Backstuben in der Klemme. Entweder sie vergrössern ihre Betriebe, damit sich die Investitionen lohnen. Oder sie versuchen, nicht aufzufallen.

Bislang gelang das in den Weiten des Alentejo ganz gut. Doch nun geht die Regierung gezielt gegen die kleinen SteuersünderInnen vor. So legten die Behörden etliche lokale Märkte still, in denen die Landbevölkerung ihre Produkte anbot. Das Finanzamt stellte tausend neue InspektorInnen ein, und schnell meldeten diese erste Erfolge: Im kleinen Dorf Amoreiras hoben sie etwa eine «Bande» von HolzkohlebrennerInnen aus. Das Durchschnittsalter der TäterInnen ist siebzig Jahre. Der bescheidene Erlös hatte es ihnen erlaubt, ab und zu einen Bica, einen Espresso, zu sich zu nehmen.

Für den pensionierten Geschichtsprofessor Antonio Quaresma aus Milfontes ist klar, wer von dieser Entwicklung profitiert: «Wenn regionale Produkte verschwinden und durch Supermarktwaren ersetzt werden, gewinnt weder die Bevölkerung noch der Staat, sondern nur die Grossunternehmen», sagt Quaresma. Und diese würden sich ausbreiten. «Seit einigen Jahren pachten in der Region zunehmend internationale Agrarunternehmen ungenutzte Grundstücke.»

Dann ziehen die Firmen weiter

Tatsächlich erstrecken sich entlang der Küste des Alentejo immer mehr Gewächshauskulturen. Die Region bietet mit ihrem milden Klima und der guten Bewässerungslage durch Staudämme ideale Bedingungen für die industrielle Produktion von Erdbeeren und Gemüse. Weiter im Inland bauen italienische und spanische Firmen grossflächig Oliven an, und neben grossen Maisfeldern findet man Plakate des Schweizer Agrarkonzerns Syngenta.

Das bleibt nicht ohne Folgen. Laut Antonio Quaresma «sind die Böden schon nach wenigen Jahren chemisch stark belastet und ausgelaugt». Sobald nichts mehr herauszuholen sei, würden die Unternehmen weiterziehen. «Portugal bleiben nur die Schäden.» Quaresma hat deshalb kein Verständnis für das Vorgehen der Behörden: «Was derzeit kriminalisiert wird, ist eine ursprünglich global verbreitete und krisensichere Wirtschaftsweise: die regionale, dörfliche Subsistenz, bei der sich eine Bevölkerung selbst organisiert und sich mit dem versorgt, was in der Region wächst.»

Aus dem Markt wird eine Ausstellung

Dagegen regt sich Widerstand. Zunehmend kommt es zu Kooperationen zwischen den Protestierenden aus den Städten, die sich gegen die staatlichen Kürzungen wehren, den alten Dorfgemeinschaften sowie der internationalen Alternativbewegung (vgl. «‹Wir müssen Alternativen aufbauen›» im Anschluss an diesen Text). Joao Labrincha, Initiator der Lissaboner Protestbewegung «12. März», zitiert gern ein altes Sprichwort: «Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.» Nicht die KleinproduzentInnen, sondern die Behörden seien im Unrecht. «Moralisch ist es unhaltbar, den alten Menschen auf den Dörfern ihre Lebensgrundlagen zu entziehen», sagt Labrincha. «Darüber hinaus ist es auch dumm, denn so zerstört man einen seltenen Schatz: Dorfgemeinschaften mit ausreichender sozialer Kohäsion, die tauschen und sich gegenseitig helfen.»

Noch gibt es den sozialen Zusammenhalt: So haben sich bereits über fünfzig DorfbürgermeisterInnen und Gemeinden hinter ihre KleinproduzentInnen gestellt und die geschlossenen BäuerInnenmärkte neu eröffnet. Wenn die Behörden dann hartnäckig bleiben, nennen die BürgermeisterInnen die Märkte kurzerhand um: in «Mostra», in eine Ausstellung lokaler Waren. Wenn dort dann jemand unbedingt etwas verschenken will oder jemand tatsächlich Geld in die Spendendose steckt, nun, wer wollte das verhindern?

* Namen geändert.

Neue Allianzen in Portugal : «Wir müssen Alternativen aufbauen»

Die Auflagen des sogenannten Europäischen Schutzschirms, die in Portugal seit zwei Jahren umgesetzt werden, treffen besonders die sozial Schwachen. Doch es gibt Widerstand. So demonstrierten Anfang März in den Städten rund eine Million Menschen – ein Zehntel der Bevölkerung – unter dem Motto: «Que se lixe a Troika» (Auf den Müll mit der Troika). Es entstand ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Studierenden, Sozialistinnen und Kommunisten. Verschiedene Militäreinheiten gaben bekannt, dass sie nicht gegen die Bevölkerung vorgehen würden. Und erstmals seit Jahrzehnten hörte man bei Demonstrationen wieder die «Grândola, Villa Morena»: Zehntausende sangen das Kampflied, das vor fast vierzig Jahren zur Hymne der Nelkenrevolution geworden war. Wo immer die MinisterInnen der konservativen Regierung derzeit öffentlich auftreten, übertönt das Lied lautstark deren Reden.

Bis zu den Sommerferien im Juli streikte jede Woche eine andere Berufsgruppe gegen Privatisierungen und die rigide Kürzungspolitik: Gesundheitspersonal, LehrerInnen, Beschäftigte des öffentlichen Verkehrs. Dabei zeigen viele Fantasie beim zivilen Ungehorsam. Als etwa das Parlament über die Vorschrift diskutierte, dass KundInnen aktiv eine Rechnung verlangen müssen, gaben Zehntausende in Restaurants statt der eigenen Steuernummer die von Premierminister Pedro Coelho an. Die Vorschrift war schnell vom Tisch.

Unter dem Druck der ökonomischen Krise entstehen auch neue Allianzen. So hatte die Initiative «12. März» vor zwei Jahren in Lissabon Hunderttausende junger Menschen mobilisiert. Sie bezeichneten sich als «geração à rasca», als Generation am Abgrund. Heute sagt ihr Initiator Joao Labrincha: «Protest allein genügt nicht, wir müssen Alternativen aufbauen.» Zu diesem Zweck gründeten Labrincha und seine MitstreiterInnen die Academia Cidada, die BürgerInnenakademie. Durch sie sollen Dörfer revitalisiert und das Wissen, wie man Land wieder fruchtbar macht, weitergegeben werden. Ziel ist der Aufbau von autarken Regionen, denn viele junge Arbeitslose oder Familien verlassen inzwischen die Städte und ziehen aufs Land, weil sie sich das urbane Leben nicht mehr leisten können.

Dazu vermittelt die Academia Cidada Erfahrungen aus weltweit agierenden Netzen, die traditionelles und innovatives Wissen zusammenführen. So arbeitet sie zusammen mit der internationalen Transition-Town-Bewegung, dem Globalen Ökodorf-Netzwerk oder dem lokalen Friedensforschungszentrum Tamera, das in der Nähe der Kleinstadt Odemira im Alentejo Grundlagen für eine Energie- und Nahrungsmittelautonomie entwickelt. So hat Tamera grosse Rückhalteseen geschaffen, um der Sommertrockenheit entgegenwirken zu können. Als Folge gedeihen hier nun ganzjährig auf Uferterrassen Obst und Gemüse.