US-Offensive im Irak: Nach Israels Regeln

Mit ihrem Vorgehen gegen SchiitInnen haben die US-Truppen überall im Land Unruhen ausgelöst. Militärisch sind diese nicht zu stoppen.

Als hätte es nicht genügt, Falludscha – die grösste sunnitische Stadt westlich von Bagdad – mit Panzern, schweren Truppenfahrzeugen und Maschinengewehren zu umzingeln, haben die US-amerikanischen Streitkräfte am Montag dieser Woche auch schiitische Viertel attackiert. Sie setzten Apache-Helikopter ein, um die Slums von Schuala anzugreifen, schickten dutzende Kampfpanzer in die Hüttensiedlungen von Sadr-Stadt (beides schiitische Quartiere in Bagdad), und erliessen einen Haftbefehl gegen den schiitischen Prediger Muktada as-Sadr, der sich genau dies von den USA erhofft haben muss.

Nachdem Feuergefechte in Sadr-Stadt rund vierzig IrakerInnen und mindestens acht US-SoldatInnen das Leben gekostet hatten, tauchten am Montag in den Strassen des Viertels Briefe auf, die angeblich von Sunniten in Falludscha geschrieben worden waren. «Wir unterstützen euch, unsere Brüder, in eurem Kampf», stand da zu lesen. Sollten sie authentisch sein, wird sich US-Prokonsul Paul Bremer ernsthaft überlegen müssen, ob sich die USA jemals aus dem Irak zurückziehen können. Als die Briten 1917 den Irak erobert hatten, brauchten sie drei Jahre, bis sie sich die Sunniten und die Schiiten zum Feind gemacht hatten. Den USA gelang dies innerhalb nur eines Jahres.

Chaos ist ein fester Bestandteil der Besatzung gewesen, seit in den allerers-ten Tagen Plünderer und Brandstifter dank der Duldung durch die US-Truppen die Geschichte und die Infrastruktur des Irak zerstörten. Nun richtet sich die Gesetzlosigkeit gegen die Besatzer, die es mit einer Bevölkerung zu tun haben, deren Sprache sie nicht sprechen, deren Religion sie nicht kennen, deren Kultur sie nicht verstehen. Bremer und sein Präsident in Washington erklären zwar immer noch, dass sie Gewalt und die Feinde der Demokratie «nicht tolerieren» werden, aber in privater Runde denken Besatzungsbeamte bereits über die Einführung des Kriegsrechts nach – sie erwarten eine noch viel gewaltsamere Erhebung. Und während Bremer und George Bush öffentlich an einer «Übergabe» der irakischen «Souveränität» am 30. Juni festhalten, planen manche Rechtsberater des von den USA eingesetzten Regierungsrats eine Verschiebung um mehrere Monate.

Viele IrakerInnen fragen sich nun, ob die USA im Irak eine Katastrophe heraufbeschwören wollen. Das ist sicherlich nicht der Fall. Aber die gewaltsamen Auseinandersetzungen Anfang dieser Woche haben der ohnehin schon langen Liste an fehlgeschlagenen Militäroperationen und politischen Provokationen ein weiteres Beispiel hinzugefügt. So wächst die Unterstützung auch für einen so wenig charmanten Prediger wie as-Sadr, den Bremer einsperren will, weil er den Mord an dem prowestlichen schiitischen Geistlichen Abdul Madschid al-Choi im April letzten Jahres geplant haben soll. Dan Senor jedoch, ein Sprecher der Besatzungsmacht, wollte keine näheren Angaben über die Beweise gegen as-Sadr machen, obwohl diese vorliegen sollen, seit ein Richter den Haftbefehl ausgestellt hat. Das war schon vor Monaten.

Die militärische Antwort der US-Truppen auf die Gräueltaten an vier US-amerikanischen Söldnern in Falludscha bestand bisher in einer Umzingelung der Stadt, an der 1200 Marines teilnehmen. Ausserdem haben die Militärs eine Blockade der nahe Falludscha verlaufenden Hauptverbindungsstrassen von Bagdad nach Amman und Damaskus angeordnet. Welche Folgen dies für den Handel zwischen dem Irak und den beiden Nachbarstaaten im Westen hat, kann man sich gut vorstellen. Inzwischen versperren Betonwände den Weg. ZivilistInnen, die sie umgehen wollen, werden von Militärpatrouillen verjagt. Die Militärs planen in Falludscha nun auch Hausdurchsuchungen im israelischen Stil, um die Männer zu finden, die die vier US-Amerikaner getötet haben.

Die Helikopterattacken auf Wohnhäuser im Viertel Schuala erinnern nicht nur in fataler Weise an einen Luftangriff auf Schuala während der US-Invasion vor einem Jahr, bei dem ZivilistInnen massakriert worden waren. Sie ähneln auch den israelischen Angriffen auf die Westbank und auf Gasa. Die IrakerInnen wissen sehr wohl, dass das US-Militär die Regierung von Ariel Scharon um die israelischen Regeln für Kampfhandlungen gebeten hat und dass diese Bitte erfüllt wurde.

Am Sonntag und Montag haben die US-Streitkräfte mindestens zwölf Soldaten verloren (viel mehr noch wurden verwundet) – aber die Zahl der irakischen Opfer liegt weitaus höher. Die Besatzungstruppen bekämpfen nach eigenen Angaben in Sadr-Stadt – in diesem früher Saddam-City genannten Armenviertel sind über sechzig Prozent der rund zwei Millionen EinwohnerInnen erwerbslos – 500 bewaffnete Anhänger von Muktada as-Sadr. Dass sie bei der Verfolgung der Heckenschützen in dem dicht bewohnten Quartier Kampfhelikopter einsetzen, hat die Frage nach den Gefechtsregeln, denen die Militärs folgen, erneut aufgeworfen.

Etwas besser erging es bisher den britischen Truppen in Basra, der zweitgrössten Stadt des Iraks. Sie konnten eine bewaffnete Auseinandersetzung mit den Milizen, die das Rathaus besetzten, vermeiden; bei einem kurzen Schusswechsel wurde niemand verletzt. Aber in Nadschaf wurden spanische Soldaten in ein Feuergefecht verwickelt. Und in Nasirija erschossen italienische Truppen am Dienstagmorgen nach zwei Tage dauernden Unruhen fünfzehn Menschen, darunter eine Frau und zwei Kinder. In jeder grösseren Stadt sehen die Besatzungskräfte einem Aufstand ins Auge, den sie bisher nicht wahrhaben wollten.

So wurde zum Beispiel in den vergangenen neun Nächten die US-Hauptbasis beim Bagdader Flughafen mit Granaten beschossen. Die Truppen liessen darüber jedoch nichts verlauten. «Die Zustände sind schlimm und werden immer schlimmer», sagte am Montag ein am Flughafen stationierter Offizier, «aber niemand spricht davon. Entweder wissen sie nichts davon, oder sie wollen nicht, dass andere es erfahren.»

Derweil versucht Muktada as-Sadr, weitere Paramilitärs und AnhängerInnen um sich zu scharen in der Hoffnung, dass sich die US-Truppen nicht den Weg zu ihm freischiessen. Möglicherweise wird er auch abtauchen – und damit einen weiteren «Feind der Demokratie» abgeben, auf den der US-Präsident im Wahlkampf einprügeln kann. Sollte er gefasst werden, sind gewaltsame Unruhen nicht auszuschliessen.

Und das alles, weil Paul Bremer vor ein paar Tagen as-Sadrs kleine Wochenzeitung «al-Hausa» verbieten liess, weil diese «zu Gewalt gegen die Koalitionstruppen» anstifte.