Falludscha: Tödliche Waffenruhe

Nach 600 Toten und 1200 Verletzten verkündeten die USA am Samstag einen Waffenstillstand. Am Sonntag erlebten internationale BeobachterInnen, was das heisst.

Falludscha, eine flache, vorwiegend sunnitische Stadt mit rund 300 000 EinwohnerInnen, ist zum Sarajewo des Irakkriegs geworden. Ich war am Samstag und Sonntag dort, als angeblich ein Waffenstillstand gelten sollte. Doch anstatt Ruhe fand ich eine belagerte Stadt vor, in der US-Scharfschützen lauerten und die unter Beschuss von US-Artillerie war.

In einem Bus fuhren wir – ein paar Journalisten und internationale HelferInnen – von Bagdad los. Der Bus sollte eine Ladung von Hilfsgütern nach Falludscha bringen. Bei seiner Rückkehr, so hofften wir, könnte er ein paar Verwundete aus der Stadt herausbringen. Ausserhalb von Bagdad war die Autobahn verlassen. Wir fuhren an einem brennenden US-Panzer vorbei, der offenbar eben erst von den Aufständischen angegriffen worden war. Der ganze dreissig Kilometer lange Weg nach Falludscha war gesäumt mit ausgebrannten Tank- und Lastwagen und Militärfahrzeugen. Am ersten US-Checkpoint sagten die Soldaten, sie stünden seit dreissig Stunden durchgehend dort, sie sahen erschöpft und verängstigt aus. Je mehr wir uns der Stadt näherten, umso zahlreicher wurden die Checkpoints der Mudschaheddin. Angesichts der medizinischen Hilfsgüter, die wir nach Falludscha bringen wollten, liessen sie uns durch.

Bei der Einfahrt in die Stadt sahen wir von weitem die riesige Rauchwolke einer US-Bombe aufsteigen und realisierten zu unserem Schrecken, dass es in Falludscha keinen Waffenstillstand gab. Die Stadt war praktisch leer bis auf die Mudschaheddin, die an jeder zweiten Strassenecke standen. Ihre Gesichter waren mit der traditionellen Kaffjeh verhüllt, viele mit Kalaschnikows, einige mit Granatwerfern – wir sahen hunderte von irakischen Aufständischen.

Die US-Marines kontrollieren den nordöstlichen Flügel von Falludscha, der grösste Teil der Stadt ist jedoch von den Mudschaheddin besetzt, sowohl lokale sunnitische Kämpfer wie auch schiitische Milizen von Muktada as-Sadrs Mahdi-Brigaden, die aus dem Süden gekommen waren. Sie teilen die Kontrolle des aufständischen Gebiets und der Ausfallstrassen unter sich auf. Zwischen ihren Stadtteilen und dem US-kontrollierten Zipfel gibt es ein Niemandsland.

Wir fuhren zur kleinen Klinik – eigentlich eine umfunktionierte Arztpraxis –, wo wir das mitgebrachte medizinische Material abgaben. Seit die US-Amerikaner ein Spital der Stadt bombardiert hatten und seit sie gezielt auf Leute schossen, die in einer andern Klinik ein- und ausgingen, gibt es nur zwei kleine Kliniken für ganz Falludscha – diese hier, eine andere wurde in einer Autowerkstatt eingerichtet.

Während ich in der Klinik war, wurde eine Reihe von verwundeten Frauen und Kindern eingeliefert. Oft wurden sie von Privatwagen hergebracht und von klagenden Familienangehörigen begleitet. Eine Frau und ein Kleinkind hatten Durchschüsse am Hals. Die Frau atmete mit gurgelnden Geräuschen, als die Ärzte sich verzweifelt bemühten, ihr zu helfen. Ihr Kind, mit glasigem Blick ins Leere starrend, erbrach sich ununterbrochen, während die Ärzte versuchten, sein Leben zu retten. Nach einer halben Stunde sah es so aus, als ob weder das Kind noch die Frau überleben würden. Die verzweifelte Arbeit in der Klinik, wo wichtiges Material fehlte und oft auch der Strom ausfiel, dauerte bis in die Nacht an. Von draussen hörten wir Explosionen von Granaten und sporadisches Schiessen. Während meines ganzen Aufenthalts hörte ich das Brummen von Aufklärungsdrohnen über der Stadt.

Drei meiner internationalen Reisekollegen wollten mit der einzigen in diesem Stadtteil noch funktionierenden Ambulanz weitere Verwundete holen. Andere Fahrzeuge waren von den US-Marines zerstört worden, und auch dieses hatte drei Einschüsse auf der Fahrerseite der Windschutzscheibe – der Fahrer wurde von einem US-Scharfschützen am Kopf gestreift. Das Klinikpersonal hoffte, mit Ausländern im Wagen würden die US-Soldaten die Bergung weiterer Opfer erlauben. Tatsächlich konnte die Ambulanz mehrere Fahrten im Niemandsland unternehmen. Die Internationalen sprachen dabei mit den auf den Dächern postierten Scharfschützen. Als sie jedoch eine schwangere Frau abholen wollten, wurden sie beschossen und mussten unverrichteter Dinge und mit platten Reifen zurückkehren. Bei Einbruch der Dunkelheit meldete der Lautsprecher der nahen Moschee, die Mudschaheddin hätten einen US-Konvoi zerstört. Freudenschüsse und -geschrei füllten die Strassen. Sie verstummten, als der Lautsprecher zum Gebet rief.

Ein Junge von etwa elf Jahren, den Kopf verhüllt und eine Kalaschnikow mit sich schleppend, patrouillierte in der Umgebung der Klinik. Er schien sehr selbstsicher und begierig, kämpfen zu können. Ich frage mich, wie sich ein US-Soldat fühlt, wenn er einen Elfjährigen zum Feind hat?

Als wir durch die Nacht und die leeren Strassen zu jenem Haus gingen, in dem wir schlafen sollten, überflog ein Flugzeug die Stadt und warf Fackeln ab – wir suchten Deckung, weil wir fürchteten, dass Splitterbomben folgen könnten. Die beiden letzten Verwundeten, die in die Klinik eingeliefert wurden, waren fürchterlich verbrannt und ihre Körper zerfetzt – von Splitterbomben, meinten die Pfleger.

Am Morgen schienen die Mudschaheddin extrem nervös, erwarteten jederzeit die Invasion und nahmen Kampfstellung ein. Eine Kollegin hatte eine Ambulanz beim Abholen von zwei Leichen begleitet und erzählte, ein US-Marinesoldat habe ihr dringend empfohlen, Falludscha zu verlassen, weil demnächst Luftunterstützung komme, um die Stadt zu «räumen».

Wir beluden unseren Bus mit einigen Verwundeten und fuhren los. Alle schienen überzeugt, ein weiterer US-Angriff stehe kurz bevor. Kampfflugzeuge kreisten über der Stadt, Bomben fielen nicht weit entfernt vom Spital, die sporadischen Schusswechsel gingen weiter. Wir fuhren vorbei an zahlreichen Mudschaheddin an ihren Checkpoints. In der Kolonne von Privatfahrzeugen mit fliehenden Familien kamen wir nur langsam voran.

Zurück in Bagdad wagen wir kaum, auf die Strasse zu gehen. Internationale nichtstaatliche Organisationen ziehen ab. Alle wissen, dass die Feuerpause eine Lüge war. Wenn dies ein Waffenstillstand war – wie sieht dann der Krieg aus?