Kost und Logis: Himbeersauermilch

Nr. 9 –

Lebensmitteln nachtrauern

Er hiess Hans und war Bauer. Mit seiner Frau und vier blonden Kindern lebte er in einer Ecke des Thurgaus, die noch nicht von Schweineställen und Obstplantagen verunstaltet war. Dort gab es noch Riegelhäuser, Hochstammbäume, einen alten Weiher. Die Familie bauerte anders als die anderen: nach anthroposophischen Grundsätzen. Das fiel auf. «Da isch kein Puur, da isch en Sauhund», pflegte sein alter Berufskollege vom Nachbarhügel zu sagen.

Was ihn genau störte, weiss ich nicht: Bauer und Bäuerin arbeiteten mindestens so hart wie die anderen in der Umgebung. Sie pflegten ihre Tiere gut und erzogen ihre Kinder streng. Vielleicht lag es nur daran, dass der Bauer halblange Haare hatte. Oder dass er schon Hecken pflanzte, als der Staat sie noch nicht förderte, sondern ausreissen liess.

Oder dass er seine Milch selbst verarbeitete? Auch das war damals noch fast revolutionär. Hans – oder war es seine Frau? – machte Sauermilch. Die beste der Welt. Ich weiss nicht, ob der Himbeersaft, mit dem sie gesüsst war, auch vom Hof kam. Aber egal. Ich kaufte die Sauermilchgläser in rauen Mengen. Nur waren sie leider nicht ganz dicht, weil die Familie keine professionelle Verpackungsanlage hatte. Jedes Mal, wenn ich vergass, sie aufrecht zu transportieren, gab es eine Sauerei im Rucksack.

Irgendwann wollte Hans nicht mehr Bauer sein. Heute würde man wohl sagen, er hatte ein Burn-out. Er verliess die Familie, sie verliess den Hof. Wenigstens die Hecken blieben stehen – der Staat zahlt ja jetzt –, aber natürlich gibt es keine Sauermilch mehr. Ich weiss auch zwanzig Jahre später noch genau, wie sie schmeckte, süss und säuerlich zugleich, grossartig gegen den Durst, wenn es heiss war. Niemand wird sie je wieder genau so herstellen.

Die Sauermilch fiel mir kürzlich ein, als ich im Claro-Laden stand und meine Lieblingsschokolade kaufen wollte. Mascao, angeblich die erste Fairtrade-Schokolade der Welt. Und zwar die beste Sorte, die mit der Cappuccinofüllung. Aber auf dem Ladentisch standen Kostproben von Mascao-Schokoladen mit neuer Verpackung. Auf mein Protestmail schreibt Claro, kaum jemand habe meine Cappuccinoschoggi gekauft, man habe die Mindestproduktionsmenge nicht mehr erreicht. Ich solle doch die neue Kaffeeschoggi versuchen.

Aber die hat keine Füllung mehr, also wird es nie mehr das Gleiche sein. Der Geschmack wird nur noch in meiner Erinnerung existieren, wie der der Sauermilch. Ich werde sie vermissen wie Menschen aus Ostdeutschland ihre DDR-Produkte. Aber die haben mehr Glück als ich: Nudeln, Getränke, Konserven und vieles mehr werden inzwischen wieder nach Originalrezepten hergestellt. Das kann ich von meiner Sauermilch und der besten, aber unpopulären Schoggi nicht erwarten.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin.