Zeitgenössische Musik: Nur zuweilen eine Wut, die aufbegehrt

Nr. 14 –

Die Kompositionen von Hans Ulrich Lehmann suchen nach einem möglichst feinen Klang. Das Ensemble ö! spielt in Zürich Werke des vor einem Jahr verstorbenen Komponisten.

Das Ensemble ö! spielt Musik von Hans Ulrich Lehmann. Foto: Ingo Höhn

Alles Grelle und Laute war ihm ein Graus, so erzählten seine Freunde. Ins Konzert ging der Komponist Hans Ulrich Lehmann deshalb in den letzten Jahren eher selten – und wenn, dann hielt er sich bei Forte-Stellen manchmal die Ohren zu.

Dementsprechend suchten seine Kompositionen ebenfalls die Extreme auf: Es handle sich, so schrieb er einmal, vorwiegend um verhaltene, stille und leise Musik, die zum genauen Zuhören zwinge, zum Hinhören auf Details. In einigen Stücken verlangte er von seinen InterpretInnen sogar, dass sie die Töne – tastend, streichend, anblasend – zunächst lange «ausprobieren», bevor wirklich etwas ertönt. Das war die Musik von Hans Ulrich Lehmann, der am 26. Januar 2013 in Zürich gestorben ist, extrem fein gesponnen, etwas vom Feinsten, was hierzulande je komponiert wurde.

«Innere Glut»

1937 in Biel geboren, studierte Lehmann zunächst Cello – und bald Komposition, vor allem Anfang der sechziger Jahre in den Basler Meisterklassen von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen. Dieser Unterricht prägte ihn: Im Allgemeinen das genaue Hinhören und kritische Mitdenken; im Besonderen aber serielle Musik, Aleatorik, Klangerweiterung bis hin zum Geräusch, grafische Partituren – all das, was damals neu und avantgardistisch war, lernte er kennen. Es fand einigen Niederschlag in seinen frühen Kompositionen. Es war eine wichtige Periode, und doch bezeichnete Lehmann manches davon später beiläufig-ironisch als «Scharlatanerie». Bald nämlich schon entwickelte er ein Misstrauen gegen allzu einfache Methoden und Systeme, gegen das, was man so macht. Er suchte seinen Weg jenseits des als zu glatt empfundenen Musikbetriebs, den Weg hinein ins Innere des Klangs.

Das Streichsextett «… zu streichen» von 1974 etwa beginnt mit einem tiefen geräuschhaften, extrem langsam und vor allem fast ohne Druck zu spielenden leisen Ton des zweiten Cellos. Es setzt schon unauffällig ein, während die Leute klatschen oder die anderen Instrumente gestimmt werden. Nach einer halben Minute erst treten in diesem ersten, fast regungslosen Ton kleine Unregelmässigkeiten, Unebenheiten auf. Geräusche entstehen. Das erste Cello gesellt sich hinzu. Zuckungen treten auf, Quetschgeräusche, manchmal instabil, manchmal auch etwas härter, fast harsch. Allmählich folgen die anderen Instrumente des Sextetts. Schleppend fast entwickelt sich die Musik – da streicht der erste Cellist einen Kartonstreifen an, den er zuvor zwischen die Saiten geklemmt hatte, zieht ihn langsam hervor und schliesslich weg. All das ergibt ungeahnte Klang- und Geräuschfarben. Ein Reichtum entfaltet sich an einem Ort, an dem man vor allem Undifferenziertes erwartet hatte.

Solche Klangrecherche war keine Marotte und keine blosse Tüftelei, sondern der Versuch von feinstem Ausdruck, von Nuance, von Farbmischung. Aus der geringsten Bewegung am Instrument noch konnte Lehmann Klang hervorzaubern. Seine besten Kompositionen laden auf wunderbare, sinnliche Weise zum genauen Hinhören ein, Stücke wie die «Kammermusik II» für Orchester oder der Vokalzyklus «Lege mich wie ein Siegel auf das Herz» (zu den Chagall-Fenstern im Zürcher Fraumünster), beide um 1980 entstanden.

Es ist eine Musik, die sich ohne jede Betulichkeit am Rande der Stille bewegt. Hoch emotional: «Innere Glut», wie der Basler Komponistenkollege Rudolf Kelterborn einmal gesagt hat. So verhalten diese Musik ist, so unerwartet heftig kann sie ganz selten nur ausbrechen. Eine Wut ist dann zu spüren, die aufbegehrt.

Das Lehmann-Gedenkkonzert im Kunsthaus Zürich umfasst drei kammermusikalische Werke von 1964, 1972 und 1998 und zeigt damit verschiedene Stufen in Lehmanns musikalischer Entwicklung. Ausserdem erklingen ein Stück seines Lehrers Pierre Boulez sowie zwei seines Schülers Martin Wehrli, der im Juni 2013 ebenfalls verstorben ist. Lehmann, 1976 bis 1998 Direktor des Konservatoriums und der Musikhochschule Zürich, war nämlich für zahllose junge Komponistinnen und Musikwissenschaftler auch ein hervorragender Lehrer.

Frisches Ensemble

Zu erleben ist in diesem Konzert das noch junge Ensemble ö! aus Chur. Was nur bedeutet dieses ö!? Ein Journalist meinte einmal, wenn man E und U zusammenfüge und es französisch ausspreche, ergebe das ein Ö. Ist das der Grund? Weit gefehlt. Mit dem Umlaut prostet man sich im Bündlerland zu. Das Ensemble ö!, 2001 vom Geiger und Komponisten David Sontòn Caflisch gegründet, bringt tatsächlich eine frische Farbe ins Musikleben nicht nur des Heimatkantons. Es widmet sich speziell der Kammermusik seit 1900, dies vor allem in seiner Churer Konzertreihe, es überschreitet aber auch Grenzen hin zu anderen Disziplinen wie Literatur, Bildhauerei, Architektur oder Mathematik.

Dafür sucht sich das Ensemble bestimmte Bauwerke Graubündens aus. So spielte man in den archäologischen Grabungsstätten von Chur, in Segantinis Atelier in Maloja oder in der Chesa Planta Samedan. Mit diesen aussergewöhnlichen Konzepten hat man zu Hause schon ein bemerkenswertes Stammpublikum gewonnen.

Das Ensemble ö! ist mit dem Programm 
«Hans Ulrich Lehmann – Zum Gedenken» 
am Samstag, 5. April 2014, um 19.30 Uhr im Vortragssaal des Kunsthauses in Zürich zu hören. 
www.stadt-zuerich.ch/musikpodium