Brasilien: Genug vom Fussballfest schon vor dem Anpfiff

Nr. 16 –

Die Fussball-WM verbinden immer mehr BrasilianerInnen mit Geldverschwendung und fehlendem praktischem Nutzen. Demonstrationen während der Spiele sind schon jetzt sicher – die Frage ist nur noch, wie gross sie sein werden.

Anfang April sass er erneut da und sagte den Satz, den er in den vergangenen Monaten schon so oft hatte sagen müssen und den er mittlerweile hassen dürfte: «Nein, wir sind noch nicht fertig», gestand Jérôme Valcke, Generalsekretär des Fussballweltverbands Fifa. Sechzig Tage vor dem Anpfiff der Fussball-WM in Brasilien werde noch immer an verschiedenen Stadien gebaut, auch an der Arena Corinthians in São Paulo, in der das Eröffnungsspiel stattfinden soll. Nur wenige Tage zuvor war dort erneut ein Arbeiter ums Leben gekommen, nachdem schon im November ein Kran auf das Stadion gestürzt war und zwei Arbeiter erschlagen hatte. Nun liegt die Gesamtzahl der bei den zwölf Stadionbauten tödlich Verunglückten bei acht.

Wer Valcke kennt, weiss, dass der Franzose zunehmend sarkastisch gegenüber den WM-Organisatoren geworden ist. Zuletzt drohte er sogar damit, Spielorte zu streichen, wenn weiter so getrödelt werde. Nun aber scheint er resigniert zu haben. Selbstverständlich liess die Antwort der Gastgeber nicht lange auf sich warten. Auch sie ist längst zum Mantra geworden. Man bekomme alles rechtzeitig hin und werde «die beste WM aller Zeiten» ausrichten, liess Sportminister Aldo Rebelo wissen.

Krasser Stimmungsumschwung

Daran, dass die WM pünktlich angepfiffen wird, zweifelt niemand. In Brasilien dauert eben alles etwas länger, was vor allem mit der ausufernden Bürokratie zu tun hat – aber es klappt dann irgendwann doch, weil die BrasilianerInnen Meister der Improvisation sind. Dass es allerdings die beste Weltmeisterschaft aller Zeiten wird (und zwar nicht in sportlicher Hinsicht), glauben nicht mehr viele. Dabei ist schwer zu sagen, wann genau die Stimmung gekippt ist. Das Meinungsforschungsinstitut Datafolha hat ermittelt, dass 2008 fast 80 Prozent der BrasilianerInnen die WM positiv sahen. Heute sind nur noch 36 Prozent optimistisch. 55 Prozent glauben hingegen, dass die WM mehr Schlechtes als Gutes bringen wird. «Não vai ter Copa!» Es wird keine WM geben! Der Schlachtruf der Protestbewegung ist zum geflügelten Wort geworden. Sogar während des Strassenkarnevals in Rio wurde er angestimmt.

Hauptgrund für die schlechte Stimmung sind die gebrochenen Versprechen. Die Fussballweltmeisterschaft wurde den BrasilianerInnen mit zwei Zusagen angepriesen: Erstens würden zahlreiche Infrastrukturprojekte die Lebensqualität in den zwölf Spielorten verbessern. Zweitens werde kein Real an Steuergeldern in die von der Fifa geforderten Stadionbauten fliessen, diese würden komplett privat finanziert. Die Bilanz heute: Neun Milliarden Reais an öffentlichen Geldern – rund dreieinhalb Milliarden Franken – sind in die zwölf Stadien gesteckt worden, von denen zehn teils erheblich teurer geworden sind als geplant, weil erhebliche Beträge in private Taschen umgeleitet wurden. Die Summe der privaten Investitionen liegt dagegen bei null. Mindestens vier Stadien gelten bereits jetzt als «weisse Elefanten», also Bauten, die nach der WM keine Funktion mehr haben, aber von der Öffentlichkeit teuer unterhalten werden müssen: Sie stehen in den Städten Manaus, Natal, Cuiabá und Brasilia.

Fünf Tage Zeit, um auszuziehen

Demgegenüber wurden viele der geplanten Infrastrukturprojekte aufgegeben oder verschoben. In Brasilia strich man den Bau einer S-Bahn wegen des Verdachts auf Betrug bei der Ausschreibung; in Salvador den Buskorridor vom Flughafen in die Innenstadt; in São Paulo den Bau einer zusätzlichen U-Bahn-Linie; in Manaus ein Hochbahnprojekt. Von den 81 tatsächlich begonnenen Projekten waren drei Monate vor Anpfiff nur 15 fertiggestellt.

Der Ärger der BrasilianerInnen wird verstärkt durch die massive und autoritäre Umstrukturierung der WM-Städte. Rund 200 000 Menschen, so schätzt der Stadtforscher Carlos Vainer, wurden und werden für die WM und die zwei Jahre später stattfindenden Olympischen Spiele umgesiedelt, oft, um privaten Profitinteressen Platz zu machen. Die Umsiedlung geschieht häufig ohne Dialog, angemessene Entschädigung oder gleichwertige Wohnstätten. In der Favela do Metrô, 500 Meter vom Maracanã-Stadion entfernt, hatten die BewohnerInnen fünf Tage Zeit, um ihre Häuser zu räumen, und fanden sich nach einem Polizeieinsatz 45 Kilometer ausserhalb des Zentrums wieder.

Den BrasilianerInnen ist bei alledem klar, wer von der WM profitiert: die Fifa und ihre Sponsoren. Die Einnahmen des Weltfussballverbands aus der WM werden auf mehr als dreieinhalb Milliarden Franken geschätzt. Die Rekordsumme kassiert er steuerfrei, weil für die Dauer der WM die sogenannten Fifa-Gesetze gelten. Diese garantieren dem Verband und seinen Sponsoren neben exklusiven Verkaufszonen auch die Befreiung von jeglichen Abgaben. Diese Fremdherrschaft stösst vielen BrasilianerInnen übel auf. Sie selber zahlen absurd hohe Konsumabgaben, ohne dass der Staat entsprechende Gegenleistungen erbringen würde. Das Land belegt von dreissig Industrienationen den letzten Platz, wenn es darum geht, Steuern zur Verbesserung der Lebensqualität der Bevölkerung einzusetzen. Aércio de Oliveira, Chef von Fase, der ältesten NGO Brasiliens, nennt die WM denn auch «ein Mittel, um Steuergeld in private Hände umzuleiten und den Profit der Baukonzerne, der Immobilienwirtschaft und der Unterhaltungsbranche abzusichern».

Stigma der Eliteveranstaltung

Die schlechte Qualität der öffentlichen Schulen, der Hospitäler und des Nahverkehrs trieb letzten Juni vor allem junge BrasilianerInnen millionenfach auf die Strasse. Ihre Kaufkraft hatte über die Jahre zugenommen. Sie sahen sich zwar als KonsumentInnen wahrgenommen, nicht aber als BürgerInnen. Der Versuch der Regierungen Lula und Rousseff, Inklusion einzig über den Konsum herzustellen, stiess an seine Grenzen. In dem Mass, wie das auf Rohstoffexport basierende Wirtschaftswachstum Brasiliens abflaute, offenbarten sich die strukturellen Mängel der Aufsteigernation. Die BrasilianerInnen sahen Frauen, die in den Wartesälen der Krankenhäuser gebaren, weil sie nicht betreut wurden; sie sahen Schulen, durch deren Dächer es regnete; sie sahen Elitepolizisten, die straflos Massaker in Favelas anrichteten; sie sahen überfüllte Vorortszüge entgleisen.

In dieser Situation eine sündhaft teure WM zu finanzieren, erschien vielen als pervers – trotz der erwarteten 3,6 Millionen BesucherInnen und der 48 000 temporären Arbeitsplätze. So bekam die WM in Brasilien das Stigma einer Eliteveranstaltung. Wen man auch fragt – vom Taxifahrer in Porto Alegre über den Schriftsteller in São Paulo, den Anwalt in Rio bis hin zum Supermarktbesitzer in Manaus –, sie alle sagen: So geht das nicht! Zu teuer, zu intransparent, zu wenig praktischer Nutzen. Und sie zweifeln nicht daran, dass während der WM erneut demonstriert wird.

1,3 Millionen FreundInnen

Die grosse, nicht zu beantwortende Frage ist, ob einige Hundert oder Hunderttausende auf die Strasse gehen werden. Zwischen den vielen Protestbewegungen gibt es keine Koordination, und ihre horizontalen Strukturen erschweren den Überblick. Verschiedene Gruppen haben sich als Protagonisten hervorgetan, in Rio etwa das «WM-Volkskomitee» und in São Paulo die «Passe Livre»-Bewegung, die für den Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr kämpft. Eine Referenz ist weiterhin die Facebook-Seite von Anonymous Brasil mit 1,3 Millionen FreundInnen.

Aus Angst vor Massendemonstrationen haben PolitikerInnen und Massenmedien in den vergangenen Monaten alles darangesetzt, die Proteste zu kriminalisieren. Im brasilianischen Senat liegt unterdessen ein Antiterrorgesetz bereit, das Terrorismus schwammig als «Verbreitung von genereller Panik» definiert und fünfzehn bis dreissig Jahre Haft vorsieht. Die UnterstützerInnen des Gesetzesvorhabens, das von Präsidentin Dilma Rousseff abgelehnt wird, zählen die Fussball-WM zu den Anlässen, bei denen die Regelung angewendet werden könnte.

Häufig liest man im Vorfeld der WM, dass es ein Widerspruch sei, dass ausgerechnet die Bevölkerung des Fussballlandes schlechthin gegen die Fussball-WM sei. Vielleicht ist das ein Missverständnis. Vielleicht wollen die BrasilianerInnen einfach nicht akzeptieren, was alles im Namen des schönen Spiels angerichtet wird.

Verdiente Vergewaltigungen?

Die Berichtigung kam mit einwöchiger Verspätung. Das brasilianische Meinungsforschungsinstitut Ipea hatte eine Studie veröffentlicht, in der 65 Prozent der Befragten meinten, dass eine Frau es verdiene, vergewaltigt zu werden, wenn sie sich freizügig kleide. 65 Prozent!

Die Nachricht dominierte Brasiliens Medien. Prominente und weniger prominente Frauen liessen sich – leicht gekleidet oder nackt – mit dem Spruch fotografieren: «Ich verdiene es nicht, vergewaltigt zu werden!» Es zeige sich erneut, schrieb die Zeitschrift «Carta Capital», dass Brasilien nicht reif dafür sei, ein internationales Ereignis wie die Fussballweltmeisterschaft auszurichten. Dann meldete sich das Meinungsforschungsinstitut erneut zu Wort. Man habe einen Fehler gemacht: Es stimmten lediglich 26 Prozent der BrasilianerInnen der empörenden Aussage zu.

Nun ist man zwar erleichtert – und dennoch geschockt darüber, dass ein Viertel der Bevölkerung sexuelle Übergriffe auf Frauen rechtfertigt.