«Insel der unsicheren Geborgenheit»: Wie die Schweiz fremdenfeindlich wurde

Nr. 16 –

Georg Kreis stellt in seinem neuen Buch fest, dass die Schweiz im Ersten Weltkrieg einen Teil ihrer Offenheit und Weltverbundenheit eingebüsst hat. Trotz des bunten Panoramas, das er über diese Zeit entwickelt, bleiben einige wichtige Fragen offen.

Halb Schul-, halb Schweizer Soldatenstube: Während des Ersten Weltkriegs, Ort und Datum unbekannt. Foto: Schweizerisches Bundesarchiv / Aus dem besprochenen Buch

«Donner und Doria! Krieg! Willkommen tausendmal! Los! Die Heere werden marschieren, die Schwerter werden blitzen, die Kanonen werden donnern, Sieg wird winken. Ich freue mich.» Was da ein Schweizer Leutnant und Student der Theologie Anfang August 1914 in sein Tagebuch notierte, entsprach laut dem emeritierten Basler Geschichtsprofessor Georg Kreis einer «offenbar vorherrschenden Stimmung» zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Kreis zeichnet in seinem Buch «Insel der unsicheren Geborgenheit» ein Panorama der Schweiz zwischen 1914 und 1918. Ähnlich wie in Deutschland und Frankreich viele Soldaten anfänglich begeistert in den Krieg zogen, liessen sich auch die Schweizer Armeeangehörigen bereitwillig und «in vaterländischer Hochstimmung» zur Grenzbesetzung mobilisieren. Das Land zeigte sich für kurze Zeit relativ geeint, geholfen hatte auch – welche erstaunliche Parallele zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs –, dass zum selben Zeitpunkt eine Landesausstellung (in Bern) stattfand. Selbst die armeekritische Sozialdemokratie habe sich von der kollektiven Aufbruchstimmung erfassen lassen, stellt Kreis fest. «Jetzt hilft kein weibisch Klagen, kein furchtsames Zittern», soll etwa der führende Sozialdemokrat Robert Grimm angesichts der Mobilisierung gesagt und die nicht mobilisierte Bevölkerung dazu aufgerufen haben, die Behörden zu unterstützen.

Allerdings kippte die Hochstimmung schon sehr bald. Kreis skizziert das Bild einer Schweiz, in der sich Gräben auftaten. Besonders bedrohlich entwickelte sich das Verhältnis zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz: Ein grosser Teil des Deutschschweizer Bürgertums zeigte Sympathie für das Deutsche Reich und stellte mit Ulrich Wille einen Bewunderer Preussens als General. In der französischen Schweiz dagegen hielt man zu Frankreich und misstraute dem autoritären Zürcher.

Frauendemo gegen Teuerung

Das Buch von Kreis ist auch ein Stück Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Er zeigt, weshalb die Waffen-, Chemie- und Lebensmittelindustrie «goldene Zeiten» erlebte, aber auch die Schweizerische Rückversicherungsgesellschaft zu einer «fulminanten Wachstumsperiode» ansetzte. Viele ArbeiterInnen hatten dagegen mit Nahrungsmittelmangel, Hunger und Unterernährung zu kämpfen. Eine Teuerungswelle erfasste das Land, die Reallöhne sanken um mehr als ein Viertel. Am Ende des Ersten Weltkriegs stand der Generalstreik, der blutig niedergeschlagen wurde.

Auch die zusätzlichen Belastungen für die Frauen spricht Kreis in seinem Buch an, ohne allerdings genauer zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten zu differenzieren. Viele Frauen beteiligten sich an einer Art «Selbstmobilisation» und wurden etwa in karitativen Frauenorganisationen aktiv. Einige dieser Organisationen führten jedoch auch Preiskontrollen durch und zwangen Bauern und Händler, die Preise zu senken. 1918 kam es in Zürich zu einer grossen Frauendemonstration gegen die Teuerung.

Prozess der Abschottung

Kreis stellt in seinem Buch fest, dass sich im Verlauf des Ersten Weltkriegs in der Schweiz ein fremdenfeindliches Potenzial entwickelte, mit dem das Land «fortan weiterleben musste». Ein Prozess der Abschottung wurde eingeleitet, der bis heute anhält. Im überzeugendsten Kapitel, «Humanität und Fremdenabwehr», des ansonsten oft recht spröde getexteten Buches schildert Kreis – der von 1995 bis 2011 die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus präsidierte – eindrücklich, wie sich im Verlauf des Kriegs eine «niederträchtige Fremdenfeindlichkeit» breitmachte. Sie sei ab 1917 zu einer «das allgemeine Fühlen und Denken leitenden Kraft» geworden. Diese Fremdenfeindlichkeit richtete sich laut Kreis gegen Ende des Kriegs vor allem gegen JüdInnen aus Zentral- und Osteuropa, man sah in ihnen eine gesundheitliche Bedrohung des schweizerischen «Volkskörpers»; andererseits generell gegen MigrantInnen, deren sozialistische Agitation man befürchtete.

Allerdings bleibt Kreis in seinem Buch vage bezüglich der Frage, welche Strömungen während des Ersten Weltkriegs denn nun genau das fremdenfeindliche Denken hervorbrachten und weit über den Krieg hinaus weitertransportierten. Er macht recht allgemein den Krieg an sich dafür verantwortlich. Die Rolle von General Wille etwa, der ja auch für ein Netz innerhalb der bürgerlichen Welt stand, bleibt in Kreis’ Buch unscharf gezeichnet. Die Verbindungen zwischen dem Militarismus, dem Antikommunismus und der Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz werden nicht ausgeleuchtet, die vielen personellen und organisatorischen Kontinuitäten über den Ersten Weltkrieg hinaus nicht erwähnt.

Trotz dieser Auslassungen ist «Insel der unsicheren Geborgenheit» ein lesenswertes Buch, das in verständlicher Sprache viele Facetten der Schweiz zwischen 1914 und 1918 beleuchtet und dazu anregt, sich mit den angeschnittenen Themen vertiefter zu befassen. Eine zusätzliche Ebene der Geschichtserzählung bieten die vielen zeitgenössischen Fotografien und Illustrationen.

Georg Kreis: Insel der unsicheren Geborgenheit. NZZ Verlag. Zürich 2014. 300 Seiten. 44 Franken